Samstag, Oktober 5

Netanyahu beharrt darauf, dass Israel sich niemals vom Philadelphi-Korridor zurückziehen werde. Die Forderung nach einer permanenten Militärpräsenz an der Grenze zu Ägypten steht aber einer Einigung mit der Hamas im Weg. Warum ist das Gebiet so wichtig?

Mit grimmiger Miene trat Benjamin Netanyahu am Montagabend in Jerusalem vor die Presse. Zwei Tage nachdem die israelische Armee sechs von der Hamas ermordete Geiseln aus Gaza geborgen hatte, wandte sich Israels Ministerpräsident erstmals an die Öffentlichkeit. Er hatte vor allem eine Botschaft: Israelische Soldaten werden am sogenannten Philadelphi-Korridor im Süden des Gazastreifens stationiert bleiben – auch wenn es ein Geiselabkommen mit der Hamas geben sollte.

Neben Philadelphi beharrt Netanyahu auch auf einer permanenten Militärpräsenz im sogenannten Netzarim-Korridor in der Mitte des Küstenstreifens. Beide Forderungen sind ein rotes Tuch für die Hamas. Die Islamisten aus Gaza haben mehrmals gesagt, dass sie einer Waffenruhe nur im Falle eines vollständigen israelischen Abzugs zustimmen. Nach monatelangen Verhandlungen ist klar: Diese kleinen Landstriche entscheiden über den Frieden in Gaza.

Was ist der Philadelphi-Korridor?

Philadelphi ist der israelische Name für den Streifen entlang der Grenze zwischen Gaza und Ägypten im Süden des Küstengebiets. In dem rund 14 Kilometer langen Korridor liegt auch der Grenzübergang Rafah. Seit Israels Rafah-Offensive im Mai kontrolliert die israelische Armee den Übergang sowie den gesamten Korridor. Laut Verteidigungsminister Yoav Gallant hat Israel seitdem über 150 Tunnel unter der Grenze entdeckt – einige gross genug, um ein Auto darin zu fahren.

Israelische Sicherheitsexperten sind sich über die strategische Bedeutung der Südgrenze einig. «Die Tunnel im Philadelphi-Korridor geben der Hamas weiterhin Sauerstoff – egal, ob dadurch Waffen oder zivile Güter geschmuggelt werden», sagt Eitan Shamir, der Leiter des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien. Die Hamas besteuere die zivilen Lieferungen und erhalte somit finanzielle Unterstützung.

Als sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen zurückzog und die jüdischen Siedlungen dort zerstörte, unterzeichnete es mit Ägypten eine Vereinbarung, nach welcher Kairo den Schmuggel unterbinden und 750 Polizisten an der Grenze stationiert lassen sollte. Nachdem die Hamas im Jahr 2007 die Macht in Gaza übernommen hatte, wuchs das Tunnelnetzwerk an der Grenze massiv an. Ägypten hat zwar nach eigenen Angaben über die Jahre Tausende von Tunneln zerstört, aber den unterirdischen Schmuggel nie ganz unter Kontrolle bekommen.

Was ist der Netzarim-Korridor?

Der Netzarim-Korridor verläuft entlang einer Strasse, die in der Mitte des Gazastreifens von Ost nach West führt. Er befindet sich südlich der Stadt Gaza, ist 7 Kilometer lang und teilt den Gazastreifen in zwei Teile. Israel hat entlang der Strasse Militärposten aufgebaut und kontrolliert damit die Bewegung der Einwohner des Gazastreifens. Die meisten dürfen die Strasse nicht betreten und nicht überqueren.

Israels Armee will die Strasse weiterhin kontrollieren, um zu verhindern, dass Hamas-Mitglieder vom Süden in den Norden des Gazastreifens zurückkehren. Doch viele Palästinenser befürchten, dass der Netzarim-Korridor ein erster Schritt zur Besetzung Gazas ist. Der Name trägt nicht dazu bei, die Sorgen zu zerstreuen: Netzarim war der Name einer israelischen Siedlung, die sich bis 2005 an dem Ort befand.

«Es ist einfach zu verstehen, warum Israel aus einer reinen Sicherheitsperspektive die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor beibehalten will», sagt Nimrod Goren, der Leiter der israelischen Denkfabrik Mitvim. «Bei Netzarim ist der Sicherheitsaspekt weniger offensichtlich, es sei denn, das israelische Ziel besteht darin, den Gazastreifen langfristig zu besetzen und in zwei Teile zu zerschneiden.»

Weshalb verhindern die Korridore einen Waffenstillstand?

Seit dem Angriff auf Rafah betont Netanyahu, Israel müsse die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor behalten. Am Montag bekräftigte er, dass Israel sich nicht einmal für 42 Tage von der Grenze zu Ägypten zurückziehen werde. So lange soll die erste Phase eines möglichen Waffenstillstands dauern. Wenige Tage zuvor hatte das israelische Sicherheitskabinett beschlossen, auch im Fall einer Übereinkunft mit der Hamas eine Militärpräsenz in dem Landstrich zwischen Gaza und Ägypten aufrechtzuerhalten.

Die Hamas fordert dagegen einen kompletten israelischen Abzug aus dem Gazastreifen – sonst gebe es kein Geiselabkommen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die palästinensischen Islamisten kompromissbereit zeigen. Zumal die Organisation seit der Tötung ihres Politbürochefs Ismail Haniya von Yahya Sinwar geführt wird, dem für das Massaker des 7. Oktober Hauptverantwortlichen. Und nicht nur die Hamas, auch Ägypten – einer der Vermittler in den Verhandlungen – hat Israel mehrmals dazu aufgefordert, seine Truppen von der ägyptischen Grenze abzuziehen.

«Ägypten möchte auf keinen Fall als ein Akteur gesehen werden, der eine langfristige israelische Präsenz im Gazastreifen ermöglicht», sagt der israelische Experte Goren. Ausserdem pocht Kairo auf den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag von 1979 sowie das sogenannte Philadelphi-Abkommen von 2005.

Beide Verträge halten fest, dass Israel keine militärische Präsenz an dieser Grenze aufrechterhält. Was den Philadelphi-Korridor anbelangt, ist Ägypten also bei weitem nicht nur ein Vermittler, sondern ein eigenständiger Akteur mit starken Interessen. Auch das macht die Verhandlungen so zäh und komplex.

In Israel wird gemutmasst, dass Netanyahu die Bedingungen aufgestellt habe, um eine Einigung zu erschweren. Denn sollte ein Geiselabkommen vereinbart werden, ist seine rechts-religiöse Regierungskoalition in Gefahr. Eitan Shamir gesteht zwar zu, dass dies eine Möglichkeit ist. «Doch wenn man sich den Philadelphi-Korridor allein aus einer kalten Sicherheitsperspektive ansieht, hat Netanyahu ein starkes Argument», sagt der Militärexperte. «Das kann man nicht einfach wegwischen.»

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