Freitag, Oktober 18

Bundesrat Albert Rösti will sich bei der Bereitstellung der Stromreserve von Brüssel nicht dreinreden lassen. Das Stromabkommen mit der EU hält aber noch andere Hürden bereit.

Seit Februar 2023 verfügt die Schweiz über eine Art Lebensversicherung beim Strom. Droht eine Mangellage, kann sie die Turbinen von drei Notkraftwerken in Gang setzen, die mit Öl und Gas zusätzlichen Strom produzieren. Der Bund lässt sich die Vorsorge für den Krisenfall einiges kosten: Allein die Bereitstellung des Kraftwerks in Birr schlägt mit fast einer halben Milliarde Franken zu Buche.

Und das, obwohl die Anlage bisher noch gar nie Strom produzieren musste. Doch weil die Gefahr eines Stromengpasses auch in den nächsten Jahren virulent bleibt, hält der Bundesrat an der Notreserve fest. Bereits 2026 sollen neue Gaskraftwerke ans Netz gehen, welche die bestehenden Anlagen ersetzen. Kostenpunkt: bis zu eine Milliarde Franken.

Mit den Verhandlungen mit der EU über ein Stromabkommen gelangen die im letzten Winter aus dem Boden gestampften Reservekraftwerke jetzt aber plötzlich auf den Prüfstand. Der Grund: Die Kraftwerke, für welche die Betreiber auch Geld erhalten, wenn sie nicht laufen, könnten gegen das Beihilferecht der EU verstossen. Brüssel will damit verhindern, dass der Markt verzerrt wird, indem Strom von den staatlich finanzierten Notkraftwerken auf den Markt gelangt.

Stromreserve als rote Linie

Redet die EU der Schweiz bei der Bereitstellung der Stromreserve drein, überschreitet sie gemäss Bundesrat Albert Rösti eine rote Linie: «Es kann nicht angehen, dass wir Reservekraftwerke bauen, die dann im Notfall nicht betrieben werden können», erklärte er am Montag gegenüber der NZZ. Von seinen Leuten im Bundesamt für Energie (BfE) erwarte er in diesem Punkt eine «harte Haltung» in den Verhandlungen. Unumstritten für die EU ist laut Rösti dagegen die Wasserkraftreserve, welche die Stromfirmen jeweils im Winter für Notlagen zurückbehalten müssen.

Beim Bundesamt für Energie selbst zeigt man sich optimistisch, in der Frage über die Reservekraftwerke eine Einigung zu erzielen. «Da diese Kraftwerke nicht laufend Strom produzieren und dieser nicht am Markt abgesetzt wird, gehen wir davon aus, dass sie EU-konform sind», sagt der Botschafter Guillaume Cassaigneau, Leiter Internationales beim BfE. Er weist darauf hin, dass auch diverse EU-Länder während der Energiekrise im vergangenen Jahr Reservekraftwerke bereitgestellt hätten, ohne dass Brüssel deswegen eingeschritten sei. «Wir gehen deshalb nicht davon aus, dass die Stromreserve zum Stolperstein in den Verhandlungen wird.»

In den Gesprächen mit den EU-Unterhändlern wird es jedoch auch um die Dimension der Reservekapazitäten gehen. Ziel der EU ist es, dass die Infrastruktur innerhalb des Binnenmarktes so ausgestaltet ist, dass die Elektrifizierung und Dekarbonisierung zu möglichst geringen Kosten erfolgt. Überdimensionierte Reservekraftwerke laufen diesem Ziel aus Sicht der der EU zuwider. Es ist allerdings alles eine Frage der Perspektive: Wird die Schweiz isoliert betrachtet, sind die Gaskraftwerke nötig, um in Notlagen Versorgungssicherheit herzustellen. In einem europäischen Kontext jedoch könnten sie obsolet sein, da bei Engpässen grenzüberschreitend Reservekapazitäten aktiviert werden können.

Ob es die Reservekraftwerke überhaupt noch braucht, wenn die Schweiz über ein Stromabkommen verfügt, wird auch von der Strombranche infrage gestellt. So fordern sowohl die nationale Netzgesellschaft Swissgrid als auch der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE), dass der Bund überprüfe, ob die bundesrätliche Stromreserve dann noch zweckmässig sei. Schliesslich könne die Beschaffung zukünftig grenzüberschreitend und technologieoffen erfolgen.

«Die Stromreserve hat uns in der Energiekrise im vergangenen Jahr eine Milliarde Franken gekostet», sagt der VSE-Direktor Michael Frank. «Es muss deshalb unser Ziel sein, von den Reservekraftwerken wegzukommen und mehr Stromunabhängigkeit zu erlangen.» Gelingen könne dies allerdings nur, wenn der inländische Ausbau der erneuerbaren Energien, namentlich der Wasserkraft, endlich umgesetzt werde.

Gemäss einer Studie der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom) braucht die Schweiz zur Absicherung Gaskraftwerke vor allem für den Fall, dass die EU ihre Drohung wahr macht und ab 2026 der Schweiz 70 Prozent der grenzüberschreitenden Netzkapazitäten kappt. Kommt es so weit, könnte dies bei einer Verkettung verschiedener Ereignisse – etwa einem Ausfall der Kernreaktoren in Beznau im späten Winter – zu einer Mangellage führen. Schliesst die Schweiz ein Abkommen mit der EU ab, ist sie Teil des EU-Marktes – und wird damit auch in die Zuteilung der grenzüberschreitenden Netzkapazitäten einbezogen. Damit jedoch stellt sich die Frage, ob der Bau von Gaskraftwerken dann noch nötig ist.

Bergkantone fürchten um Gewässerhoheit

Die Reservekraftwerke sind in den Verhandlungen mit der EU nur ein Streitpunkt unter vielen. So sorgen sich etwa die Bergkantone, dass die EU in die Gewässerhoheit eingreifen könnte – und die Nutzung des Wassers im Strombereich betroffen wäre. Das Schweizer Recht gestattet die Konzessionsvergabe zur Stromproduktion explizit ohne Ausschreibung. Das EU-Recht jedoch sieht ab einem gewissen Schwellenwert eine Ausschreibepflicht vor. Vertreter von Bergkantonen fordern denn auch ultimativ, dass in diesem Bereich das Schweizer Recht zur Anwendung komme. Der Bundesrat hat diese Maxime in das Verhandlungsmandat aufgenommen. Im Bundeshaus weiss man: Bleibt die EU hart, werden die Bergkantone gegen das Abkommen Sturm laufen.

Für Kopfzerbrechen sorgen in der Strombranche zudem die strengen Entflechtungsvorgaben der EU. In der Schweiz sind die Energieversorger bereits heute verpflichtet, für den Netzbetrieb Buchhaltung und IT separat zu führen. Die EU-Bestimmungen gehen jedoch deutlich weiter und fordern, dass bei Unternehmen mit über 100 000 Kunden der Netzbetrieb auch rechtlich von den übrigen Tätigkeitsbereichen abgesondert wird. Davon betroffen wären in der Schweiz vierzehn Unternehmen, darunter auch das EWZ, das in die Zürcher Stadtverwaltung integriert ist. Diese Versorger müssten – sofern dies nicht schon der Fall ist – in eine externe Gesellschaft ausgegliedert werden, was mit einem beträchtlichen administrativen Aufwand verbunden wäre.

Zweifellos die grösste Hürde auf dem Weg zu einem Abkommen ist die vollständige Öffnung des Strommarktes. Die EU schreibt vor, dass jeder Stromverbraucher die Wahlfreiheit haben soll, ob er in der Grundversorgung bleibt oder Strom im freien Markt einkauft. Doch wie grosszügig das Wahlrecht ausgestaltet sein soll, ist umstritten. Können die Kunden jeden Monat ihren Anbieter wechseln, gefährdet dies die Planungssicherheit der einzelnen Versorger. Ebenfalls offen ist, wie stark die Preise reguliert werden sollen. Gemäss EU-Recht ist ein Schutz vor hohen Marktpreisen in der Grundversorgung nur teilweise möglich.

Es ist dies einer der Gründe, weshalb die Gewerkschaften die Liberalisierung des Strommarkts kategorisch ablehnen. Skeptiker finden sich jedoch auch unter den Energieversorgern, vor allem in der Westschweiz, und bis weit ins bürgerliche Lager hinein. Die grösste Herausforderung bei der Umsetzung der Marktöffnung dürfte deshalb nicht sein, die Schweizer Regelung in Einklang mit jener der EU zu bringen, sondern sie so auszugestalten, dass sie politisch mehrheitsfähig ist. Gelingt Letzteres nicht, ist das Abkommen ohnehin zum Scheitern verurteilt.

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