Sonntag, Oktober 6

Mit seiner Online-Zeitung «Médiapart» gehört Edwy Plenel zu den umstrittensten Stimmen Frankreichs. Begegnung mit einem Missionar, der keine kritischen Fragen duldet.

Die Nazis, Adolf Hitler, das Vichy-Frankreich der 1940er Jahre – Edwy Plenel beschwört gerne die Vergangenheit. Besonders jetzt, da das rechtsnationale Rassemblement national von Marine Le Pen in Frankreich nach der Macht strebt. Eine «unvorstellbare Katastrophe» drohe da, schreibt er. Frankreichs Eliten verhielten sich wie in den 1930er Jahren, als sie Hitler der Volksfront aus Sozialisten und Kommunisten vorgezogen hätten.

Auch die «Verfolgung» von propalästinensischen Demonstranten erinnert ihn an finstere Zeiten, an die einstige «Hexenjagd» des amerikanischen Senators Joseph McCarthy gegen Kommunisten. Auf den zum Teil offenen Judenhass und den Islamismus in der propalästinensischen Bewegung Frankreichs geht er nicht ein. Stattdessen spricht er von «Diabolisierung», von Vorwürfen und Vorwänden, die dazu dienten, die Proteste zum Schweigen zu bringen.

«Blind für die Monster der Gegenwart»

Edwy Plenel gehört zu den bekanntesten und schillerndsten Journalisten Frankreichs, er wird geliebt, bewundert und gehasst. Mit seinem Schnurrbart und seinem schelmischen Grinsen erinnert er an den Chansonnier Georges Brassens. Oder, wie das linke Satiremagazin «Charlie Hebdo» einmal spottete, an Josef Stalin.

Einst Starreporter und Chefredaktor von «Le Monde», hat Plenel mit Gesinnungsgenossen ab 2008 eine neue Online-Zeitung aufgebaut, «Médiapart». Sie zählt 220 000 Abonnenten, ist werbefrei, selbsttragend und mittlerweile die Nummer drei auf dem französischen Markt – hinter «Le Monde» und «Figaro». Seine Anteile an «Médiapart» hat Plenel für 2,9 Millionen Euro verkauft, im März ist er aus der Geschäftsleitung zurückgetreten. Aber als Autor bleibt er Spiritus Rector der Online-Zeitung.

Für seine Anhänger ist Plenel ein Feind der Mächtigen, ein Kämpfer gegen Diskriminierung und Faschismus, der in Artikeln und zahlreichen Büchern zur Wachsamkeit aufruft. Seine Kritiker sehen ihn als Inbegriff des verblendeten Linken, der die geistige Komplizenschaft zwischen progressiven Sozialisten und reaktionären Islamisten mitbegründet hat. Capo dei Capi der Islamogauchisten wurde er genannt. Die «Figaro»-Autorin Eugénie Bastié verspottete ihn als linksextremen Boomer, der zu spät geboren sei, um den echten Faschismus zu bekämpfen – besessen von den Monstern der Vergangenheit, blind für jene der Gegenwart.

Geboren ist Plenel 1952 in der Bretagne, einem «armen Gebiet, das sehr verachtet wurde, einer Art Dritten Welt Frankreichs», wie er im Gespräch mit der NZZ sagt. Kindheit und Jugend verbringt Plenel unter anderem in der Überseekolonie Martinique und in Algerien. Sein Vater ist Beamter, der nach Ansicht seiner Vorgesetzten zu viel Sympathien für die Kolonialisierten zeigt. 1965 zieht er mit der Familie nach Algerien, das Frankreich drei Jahre zuvor nach einem grausamen Krieg in die Unabhängigkeit entlassen musste.

Applaus für den Terror in München

«Die koloniale Frage hat mich geprägt», sagt Plenel. «Ich glaube an die Gleichheit der Rechte, war schon früh gegen Ideologien, die Dominanz und Ungleichheit rechtfertigen.» 1970 zurück in Frankreich, engagiert er sich in der Revolutionären Kommunistischen Liga (LCR) – einer trotzkistischen Gruppe, die den Stalinismus ablehnt und den Kolonialismus bekämpft, aber auch eine Diktatur des Proletariats plant und sich mit zweifelhaften Figuren solidarisiert.

Deutlich wird das 1972, als palästinensische Terroristen des Schwarzen Septembers an den Olympischen Spielen in München 14 Israeli als Geiseln nehmen, misshandeln und elf von ihnen töten. Die deutsche RAF bejubelt die Aktion genauso wie «Rouge», das Organ der LCR. «Kein Revolutionär kann sich vom Schwarzen September distanzieren. Wir müssen ihre Aktivisten bedingungslos verteidigen», schreibt dort ein gewisser Joseph Krasny (Joseph der Rote).

Hinter dem Pseudonym steht Edwy Plenel. Der Artikel wird ihm oft vorgehalten, auch wenn er den Inhalt heute bedauert. Sein Lebenslauf, so erklärt er der NZZ, werde bloss skandalisiert, «um mich als Journalisten anzugreifen». Ein linksextremes Engagement sei damals völlig normal gewesen.

Mitterrand lässt ihn überwachen wie einen Staatsfeind

Aber vielleicht würden Plenels einstige Verirrungen kaum interessieren, wenn er sich später nicht noch einmal verrannt hätte, diesmal als Sprachrohr von Islamisten. Doch zunächst macht er vor allem als Reporter von sich reden. Er wechselt zu «Le Monde» und deckt 1985 einen Staatsskandal auf. Er kann nachweisen, dass der französische Geheimdienst verantwortlich ist für einen Anschlag auf das Greenpeace-Schiff «Rainbow Warrior», bei dem ein Fotograf getötet wird. Der Verteidigungsminister muss zurücktreten. Nicht aber der Staatspräsident François Mitterrand, obwohl der von den Plänen wusste.

Später erfährt Plenel, dass er auf Befehl der Regierung abgehört und überwacht wurde, wie ein Staatsfeind. «Mitterrand hätte Frankreich demokratisieren können», sagt er, «stattdessen hat er die monarchischen Züge der Republik gefestigt.» Aufgrund dieser Machtfülle sei es umso wichtiger, die Rechtsextremen von der Regierung fernzuhalten. Journalismus sei für ihn immer ein Mittel für demokratischere Verhältnisse gewesen, zuallererst gehe es um Information und Recherche, dann um Meinungen.

Zu Plenels Selbstmarketing gehört auch die Behauptung, er verfolge keine politische Agenda, im Gegensatz zu allen anderen, besonders den rechten Journalisten, die nur noch Meinungen absonderten. Dieses Bild wird von ausländischen Medien meist unkritisch weiterverbreitet. SRF, Deutschlandfunk oder «Guardian» feiern Plenel als Starjournalisten, der mit seiner «Ausnahmezeitung» (SRF) mutig gegen Populismus und Fake News kämpfe.

Politische Gegner als «Braune» diffamiert

Dabei ist Plenel schon bei «Le Monde» umstritten, wo er 1996 Chefredaktor wird. Manche seiner Recherchen erweisen sich als Fehlschläge, etwa die Behauptung, General Noriega habe die französischen Sozialisten finanziert. Bis heute gibt es Vorwürfe, er habe «Le Monde» für Attacken gegen missliebige Personen missbraucht. 2005 verlässt er die Redaktion.

Mit der Plattform «Médiapart», die Plenel 2008 mitbegründet, gelingt ihm ein Neuanfang. Immer wieder deckt das Online-Magazin Skandale auf, etwa eine mutmassliche Wahlkampfspende von 50 Millionen Euro, welche die Familie Ghadhafi an Nicolas Sarkozy überwiesen haben soll. Auch Enthüllungen über ein Schweizer Schwarzgeldkonto von François Hollandes Finanzminister Jérôme Cahuzac oder #MeToo-Fälle in der Kulturszene sorgen für Aufsehen.

Regelmässig wird das Magazin mit Klagen eingedeckt, was zu seinem Ruhm beigetragen hat. Die Grenzen zum Aktivismus sind bei «Médiapart» fliessend. Das von «Médiapart» mitherausgegebene Magazin «Revue du Crieur» stellte kürzlich unter dem Titel «50 Nuancen Braun» Politiker und Publizisten an den Pranger, unter ihnen libertäre und konservative. Sie alle würden «tödliche Diskurse» verbreiten.

«Türöffner für den politischen Islam»

Diskurse von politisch genehmen Extremisten werden dagegen weniger hinterfragt. So hat «Médiapart» kürzlich den Mitgründer der israelfeindlichen, mit der Hamas verbandelten Boykottbewegung BDS, Omar Barghouti, interviewt. Kritische Fragen gab es keine. Dafür durfte Barghouti über den «derzeitigen Genozid» in Gaza, über Apartheid in Israel und «extreme Repression» in Frankreich klagen, als wären aggressive Demonstrationen gegen Israel dort verboten.

Auch Vertreter der linksextremen France insoumise (LFI) dürfen derzeit auf wohlwollende Berichte zählen. Dies, obwohl ihre Partei mit Genozid-Rhetorik und antisemitischen Anspielungen das politische Klima genauso vergiftet wie die Rechtsextremen. Es gibt Wahlkampfreportagen, und Edwy Plenel, der Mann ohne Agenda, bewirbt die von der LFI dominierte Neue Volksfront fast täglich auf X, wo er eine Million Follower hat. In einem «Médiapart»-Beitrag versicherte er, die linke Allianz bekämpfe jeden Judenhass. Als Beweis diente ihm einzig eine Absichtserklärung der linken Parteien.

Kritiker werfen Plenel denn auch vor, er gefährde die Glaubwürdigkeit von «Médiapart» mit seinem «hemmungslos ideologischen Aktivismus», wie es die Autorin Fatiha Boudjahlat einmal ausdrückte. Der Soziologe und Islamismusexperte Gilles Kepel, einst ein LCR- und «Rouge»-Mitstreiter von Edwy Plenel, hält seinen ehemaligen Genossen für «einen der wichtigsten linken Türöffner für den politischen Islam in Frankreich».

Wie andere einstige Linksextreme und Dritte-Welt-Aktivisten hat Plenel in den Muslimen die neuen Verdammten dieser Erde entdeckt, die es in Europa gegen Rechtsextreme und angeblich «verirrte» (also laizistische) Linke zu verteidigen gilt. Ein rabiater, manchmal offen judenfeindlicher Antizionismus gehört zu den Klammern dieser links-islamistischen Allianz, genauso wie der Glaube, dass der französische Staat strukturell rassistisch sei.

«Gestern die Juden, heute die Muslime»

Auf Fragen der NZZ zum Islamismus reagiert Plenel genervt. «Ich habe keinerlei Sympathien für Islamisten», sagt er. Ihm gehe es nur um die Muslime, die man nicht zu Sündenböcken machen dürfe. Überhaupt wolle er über das Thema nicht mehr reden, er habe alles dazu gesagt. Später schickt er eine E-Mail, in der er der NZZ mitteilt, er wünsche keinen weiteren Austausch.

Plenels naive geistige Nähe zu Islamisten wird von seinen Bewunderern gerne heruntergespielt und verschleiert. Aber es gibt zahlreiche Belege. Bezeichnend für seine Haltung ist seine langjährige Bewunderung für den Genfer Islamologen Tariq Ramadan, der die antisemitische und totalitäre Ideologie der Muslimbruderschaft in einen modischen Jargon verpackt.

Plenel und seine Weggefährten, unter ihnen der Philosoph Edgar Morin, fördern den «respektablen Gelehrten» (Plenel über Ramadan). Sie verteidigen ihn, führen öffentliche Gespräche, vermarkten Bücher und betonen die Gemeinsamkeiten in ihrem politischen Kampf.

2014 veröffentlicht Plenel ein Manifest mit dem Titel «Pour les musulmans» (Für die Muslime), das deutlich von Ramadans Rhetorik beeinflusst ist. Der Titel ist eine Anspielung auf Émile Zolas Schrift «Pour les juifs», die den Antisemitismus in Frankreich anprangerte. In der Pose eines neuen Zola verbreitet Plenel Thesen, mit denen auch Islamisten versuchen, Muslime von der Gesellschaft zu entfremden und den französischen Staat zu delegitimieren.

Gestern, so schreibt er, seien die Protestanten und die Juden verfolgt worden, «heute die Muslime». Er erinnert an die «dunklen Stunden von Vichy», erwähnt Auschwitz und zitiert Warnungen aus dem Jahr 1941. Als liefen Millionen Muslime in Frankreich Gefahr, deportiert und vernichtet zu werden wie die Juden im Zweiten Weltkrieg.

Staat und Regierung wirft Plenel vor, sie wollten in ihrem Sicherheitswahn alle religiösen Zeichen auslöschen, Moscheen, Kopftuch, Halal-Produkte. Wegen des «sogenannt islamistischen Terrors» habe man eine «Kriegsrhetorik» entfacht und eine «Verfolgung von Mitbürgern» provoziert. Die Bekämpfung von Islamisten setzt Plenel damit gleich mit der Verfolgung aller Muslime. Auch dies ist ein klassischer Trick von islamistischer Propaganda.

Der Staat Katar – der wichtigste Förderer der Muslimbruderschaft – ist von der Schrift derart angetan, dass er sie auf Arabisch übersetzen und gratis verteilen lässt.

Am Terror ist vor allem die Gesellschaft schuld

Als der «Médiapart»-Chef sein Manifest veröffentlicht, haben islamistische Terroristen in Frankreich bereits mehrere Menschen ermordet, unter ihnen drei jüdische Kinder. Es sind Fälle von Imamen bekannt, die gegen Homosexuelle, Juden, Ungläubige und Apostaten predigen. Es gibt Berichte aus Schulen von religiös motiviertem Mobbing und Gewalt.

All das wird in Plenels Buch verschwiegen und relativiert. Selbst nachdem islamistische Terroristen 2015 die Redaktion von «Charlie Hebdo» sowie einen jüdischen Supermarkt angegriffen und aus Rache für Mohammed-Karikaturen zwölf Menschen getötet haben, sucht Plenel die Schuld überall. Nur nicht bei jenen, welche die Täter inspiriert haben. «Humor ist keine Entschuldigung für Hass», sagt er in Interviews. Die Täter hätten «nicht das Geringste» mit dem Islam zu tun. «Diese Monster sind ein Produkt unserer Gesellschaft.» Bis heute klagt Plenel lieber über die «Verfolgung» von proislamistischen Organisationen, als sich mit den Folgen islamistischer Propaganda auseinanderzusetzen.

2017, als Tariq Ramadan mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert wird, karikiert «Charlie Hebdo» Plenel als Mann, der nichts sieht und nichts hört – und sich mit den Schnurrbartspitzen die Augen, Ohren und den Mund zuhält. Der implizite Vorwurf lautet, Plenel habe von Tariq Ramadans mutmasslichen Übergriffen gewusst. Eine Unterstellung, die zu Recht kritisiert wird. Man kann das Bild aber auch so verstehen, dass der damalige «Médiapart»-Chef nichts sehen will, was sein Weltbild infrage stellen könnte.

Plenel reagiert auf seine Weise: Auf Twitter stellt er sich als Opfer einer faschistischen Attacke dar – und stellt sich in eine Reihe mit Widerstandskämpfern, die von Nazis verfolgt wurden. Es ist die Strategie eines Mannes, der seine zahlreichen inneren Widersprüche mit Anschuldigungen und gewagten historischen Vergleichen zu lösen pflegt.

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