Freitag, November 29

Nächste Woche will der Bundesrat einen Durchbruch in den EU-Verhandlungen schaffen. Die Gegner sind laut, der Aussenminister ist still. Warum nur?

Anfang Woche verschickte Nicolas Bideau zum zweiten Mal den Newsletter «Standpunkte» aus dem Aussendepartement (EDA). Seit August versucht der Kommunikationschef des EDA damit den Lesern «die Sichtweise des Departements zu den wichtigsten aussenpolitischen Themen der letzten Wochen näherzubringen».

Der Kommunikationsbedarf ist vorhanden. Fristete das EDA früher ein Satellitendasein im Kosmos Bundesbern, steht Aussenpolitik seit Putins Angriff auf die Ukraine und der Eskalation im Nahen Osten wieder weit oben auf der Prioritätenliste – sogar in der traditionell primär mit sich selbst beschäftigten Schweiz.

Doch bei der Lektüre der EDA-«Standpunkte» fällt vor allem auf, was fehlt. Bideau referiert über Uno, Ukraine oder eine neue Botschaft in Bagdad. Das wichtigste und umstrittenste Thema aber wird nicht erwähnt: die Beziehungen zur EU.

Damit folgt der Kommunikationschef ganz der Kommunikationsstrategie seines Chefs, Bundesrat Ignazio Cassis. Oder dessen Nicht-Kommunikationsstrategie. Seit März verhandelt die Schweiz mit der EU über ein Paket, das neue Abkommen umfasst und die alten institutionellen Streitfragen klärt. Am Mittwoch, so ist in Bern zu hören, wird sich der Bundesrat vertieft damit befassen. Läuft alles nach Plan, ist dies der letzte grosse Zwischenhalt vor dem Abschluss der Verhandlungen.

Dass diese Gespräche mit Brüssel überhaupt stattfinden, ist primär das Verdienst von Cassis. Mit grosser Ausdauer hat er sich nach dem Abbruch der Verhandlungen über den Rahmenvertrag 2021 für einen neuen Anlauf eingesetzt. Er soll auch massgeblich dazu beigetragen haben, dass das komplexe Dispositiv der Schweizer Verhandlungsteams funktioniert, dass der Bundesrat dieses Mal zudem wesentlich transparenter kommuniziert und dass er sogar das Mandat veröffentlicht hat.

«Low-Level-Kommunikation»

Doch jetzt schweigt Cassis. Seit die Diplomaten verhandeln, ist von ihm praktisch nichts mehr zu hören. Damit lässt er ein Vakuum zu, das seine Gegenspieler im In- und Ausland gerne ausfüllen. Zum Beispiel Maros Sefcovic, Vizepräsident der EU-Kommission: Von Luxemburg aus hat er Bern Mitte Oktober den Tarif durchgegeben. Eine einseitige Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit komme nicht infrage. Die EU-Bürger müssten gerecht behandelt werden. Das sass.

Ohne Fortschritte bei der Schutzklausel werden FDP und Mitte das Paket kaum unterstützen. Auch der Bundesrat verlangt eine Schärfung der bestehenden Klausel. Sefcovics Ansage war daher ein unverhohlener Druckversuch in Richtung Bern.

Aussenminister Cassis reagierte: gar nicht. Sein Kommunikationschef gab einen allgemeinen Kommentar ab. Doch weder er noch Cassis haben erklärt, wie der Bundesrat die Sache sieht, weshalb er eine Schutzklausel nicht nur verlangt, sondern auch als zulässig erachtet.

«Low-Level-Kommunikation»: So bezeichnet man das Stillschweigen in bundesratsnahen Kreisen. Es sei ein ganz bewusster Entscheid des Gesamtbundesrats gewesen, sich öffentlich zurückzuhalten. Drei Gründe dafür sind zu hören: Der Bundesrat könne die EU kommunikativ nicht unter Druck setzen. Die europäischen Medien kümmere es nicht, was Bern zu sagen habe – ganz im Gegensatz zur EU-Kommission, die bei hiesigen Medien allzeit offene Ohren finde.

Zweitens bestehe das Risiko, dass die Schweiz ihre Verhandlungsposition gefährde, wenn sie zu viel rede. Drittens könne der Bundesrat die Abkommen erst dann glaubwürdig verteidigen, wenn sie fertig verhandelt seien.

So weit, so logisch. Auf einer rationalen Ebene leuchtet das ein – so wie es Ignazio Cassis mag, der auch nach sieben Jahren Bundesrat oft weniger wie ein Politiker funktioniert und mehr wie ein Wissenschafter. Aber was ist der politische Preis des logischen Schweigens?

Kaspar Villiger und die Berge

Cassis und der gesamte Bundesrat haben die Deutungshoheit kampflos aufgegeben. Ihr Plan setzt voraus, dass sie die Gegner eines Pakets nach Abschluss der Verhandlungen argumentativ immer noch einholen können. Doch der Widerstand ist gut organisiert. Lange bestand er fast ausschliesslich aus der SVP, die 99 Prozent ihrer Existenzberechtigung aus der Europa- und Zuwanderungspolitik bezieht. Mittlerweile kämpfen mit den Gruppierungen «Kompass Europa» und «Autonomiesuisse» aber auch Unternehmer offen gegen die neuen Verträge.

Das Signal ist potenziell verheerend für die Befürworter des Pakets. Die wirtschaftlichen Vorteile waren hierzulande schon immer das wichtigste Argument für geregelte Beziehungen mit Europa. Die Hälfte der Exporte geht in die EU, 70 Prozent der Importe kommen von dort. Doch neben Economiesuisse und einzelnen Politikern wie dem Unternehmer Simon Michel (FDP) oder Elisabeth Schneider-Schneiter (Mitte) gibt es zurzeit nicht viele, die hörbar über diese Vorteile sprechen. Die Grünliberalen sind marginalisiert, SP, FDP und Mitte gespalten. Das macht es schwierig für den Bundesrat, eine Allianz zu bilden.

Aber unmöglich ist es nicht. Der frühere Bundesrat Kaspar Villiger schrieb einmal in der NZZ: «Ein einiger Bundesrat kann Berge versetzen!» Im EU-Dossier kann indes von Einigkeit keine Rede sein. Die beiden SVP-Bundesräte sind aus Prinzip dagegen, und auch beim Rest des Gremiums ist wenig Begeisterung zu spüren. Die glühendsten Europäer sind Viola Amherd und Beat Jans. Letzterer hat mitten in der Sommerpause mit einem Gastbeitrag einen mittleren Proteststurm ausgelöst.

Die harten Reaktionen geben einen Vorgeschmack auf das, was kommt, wenn die Verhandlungsergebnisse erst einmal auf dem Tisch liegen. Der Druck auf Cassis wird massiv sein. Ob seine Partei ihn unterstützt, ist offen. Die FDP lässt sich Zeit mit der Positionierung. Am Ende wählen der Parteichef Thierry Burkart und Ignazio Cassis wohl denselben Weg: das Delegieren an die Basis. Für Burkart wird die Partei die Linie definieren, für Cassis werden Parlament und Volk bestimmen.

Um sie zu überzeugen, muss Cassis aus der Deckung kommen. Eigentlich kennt er das mittlerweile. Mit der Ukraine, Nahost und Entwicklungshilfe betreut er brisante Geschäfte. Doch es ist ihm nicht gelungen, klare Leitlinien vorzugeben und die Fäden in der Hand zu halten. Bei der Neutralität hat er es versucht, ist aber im Bundesrat gescheitert. Im Umgang mit dem Palästina-Hilfswerk UNRWA laviert er.

Und bei der internationalen Zusammenarbeit bekundet er Mühe, seine Erfolge aufzuzeigen. Er hat einen Strategiewechsel durchgesetzt, die Kooperation mit dem Privatsektor ausgebaut und die Hilfe enger an migrationspolitische Ziele geknüpft. Das ist keine kleine Leistung in einem Departement, in dem traditionelle Ideen der Entwicklungshilfe dominieren und Ziele jenseits humanitärer Zwecke Misstrauen wecken. Doch gegen aussen nimmt man Cassis’ Erfolge kaum wahr.

Ihn scheint das allerdings nicht zu stören. Sonst würde er mehr Interviews geben. Cassis macht sich medial konsequent rar, nur ganz selten lässt er sich auf ausführlichere Gespräche ein – für das laufende Jahr listet das EDA selbst nur drei Interviews auf, mit SRF, Tele Diessenhofen und Tele Züri.

Cassis’ persönlicher Rahmenvertrag

Die grosse Frage ist: Wird er im EU-Dossier den kommunikativen Wechsel schaffen? Hat der Bundesrat das Vertragspaket erst einmal unterzeichnet, gibt es keine Rechtfertigung mehr für die Zurückhaltung. Freund und Feind warten gespannt, ob es dem Aussenminister gelingt, den Modus zu ändern, die Öffentlichkeit zu suchen, sich auf Interviews und kritische Fragen einzulassen, die Abkommen zu erklären, sie gegen die heftige Fundamentalkritik von rechts zu verteidigen.

In seinen sieben Jahren als Bundesrat musste Ignazio Cassis noch nie einen Abstimmungskampf bestreiten. Als Erstes wartet nun die Neutralitätsinitiative der SVP, danach folgt sogleich der Härtetest: das EU-Paket. Falls Cassis dann noch im Amt ist. In Bern munkeln manche, er könnte den Rücktritt ankündigen, sobald der Bundesrat die Verträge an das Parlament überwiesen hat. So könnte er das Gesicht wahren, gleichzeitig aber dem Abstimmungskampf entgehen, der brutal zu werden droht.

Gegen dieses Szenario spricht, dass Cassis damit seine Partei in die Bredouille bringen würde. Ob die FDP den zweiten Bundesratssitz verteidigen könnte, wäre unsicher. Vor allem aber scheint der Aussenminister den Durchhaltewillen nicht verloren zu haben. Mitstreiter betonen, er sei fest entschlossen, dieses Projekt zu Ende zu führen und die Beziehungskrise mit der EU zu beenden. Manche meinen gar, er sehe darin seine Pflicht und Schuldigkeit. Als sich vor zwei Jahren die Chance bot, das Departement zu wechseln und den Neustart mit der EU einem Kollegen zu überlassen, hat Cassis darauf verzichtet.

Bleibt also die Frage, wann das Stimmvolk wohl über das Vertragspaket abstimmen wird. Ein Entscheid könnte noch in der laufenden Legislatur möglich sein, glauben Optimisten im EDA. Zu ihnen scheint auch Cassis zu gehören. Letzter realistischer Termin wäre in diesem Fall Februar 2027. Andere gehen davon aus, dass der Urnengang erst 2028 – nach den nationalen Wahlen – angesetzt wird.

Alle Staatsbesuche, Uno-Debatten und Ukraine-Konferenzen können nichts daran ändern, dass man Ignazio Cassis an der Europapolitik messen wird, der schwierigsten Disziplin der Schweizer Politik. Das EU-Dossier ist sein persönlicher Rahmenvertrag – damit hat seine Amtszeit als Bundesrat angefangen, damit wird sie zu Ende gehen. Er hat es so gewollt.

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