Sonntag, November 24

Mit steigendem Flugaufkommen wird die verlorene Zeit am Gate immer mehr zum Ärgernis. Ansätze für ein deutlich effizienteres Platznehmen in Flugzeugen gibt es schon lange. Nur an der Umsetzung hapert es noch.

Wie ärgerlich: Ein Passagierflugzeug ist verspätet angekommen und muss erst entladen und gereinigt werden, bevor die am Gate wartenden Passagiere endlich zum Weiter- oder Rückflug einsteigen können. Bis zu einer halben Stunde kann es dauern, bis die Reinigungsteams mit der Innenreinigung beginnen können.

Warum dauert das so lange? Das Abschnallen, Aufstehen, Handgepäck aus den Fächern über den Sitzen holen und das Verlassen durch den meist einzigen schmalen Mittelgang geschieht oft ungeordnet. Manche Passagiere haben es besonders eilig und drängen sich aus einer hinteren Reihe an anderen Ankömmlingen vorbei. Manch einer hat sein Handgepäck nicht über dem eigenen Sitz, sondern weiter hinten verstaut – es kommt zu Staus in mehrere Richtungen.

Das alles ist äusserst lästig und kostet wertvolle Zeit. Und beim Boarding beginnt die Prozedur in umgekehrter Reihenfolge. Es gibt zwar Boarding-Strategien mit mehreren Bordgruppen, die eine gewisse Ordnung in die Beladung des engen Flugzeugrumpfes mit Passagieren bringen, aber es ist sehr wichtig, dass die Gruppen nicht direkt nacheinander zum Flugzeug geschickt werden. Insbesondere Buszubringer bringen die Planung wieder durcheinander, denn schon beim Öffnen der Bustüren vor dem Flugzeug gilt wieder das Recht des Schnelleren.

Die beim Boarding und Deboarding, wie das Ein- und Aussteigen von Flugpassagieren genannt wird, vergehende Zeit wird mit der Einführung von Flugzeugen mit immer mehr Sitzkapazitäten zunehmend wichtiger und relevanter. Ein Flugzeug, das etwa im europäischen Binnenzeitplan mehrfach zwischen zwei Destinationen hin- und herpendelt, kann eine einmal auftretende Verspätung kaum aufholen. Im Gegenteil: Die Verspätung wird von Mal zu Mal während des Tages immer grösser.

Gerade Fluglinien, die jeden Arbeitsvorgang auf das Nötigste reduzieren, um mit einzelnen Minuten bis zu mehrere Millionen von Franken einzusparen, ist der Verlust von einzelnen Minuten und Sekunden beim Ein- und Aussteigen von Passagieren ein Dorn im Auge.

Inspiration aus der Frachtluftfahrt

Neue Strategien für einen zügigeren und gleichzeitig komfortableren Umgang mit der Be- und Entladung tun Not. Bereits 2004 befasste sich eine Studie der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg mit dem Problem und kam auf eine verblüffend einfache Lösung, die sich an der Frachtluftfahrt orientiert. Die Reisenden sollten sich am Flugsteig versammeln und dort bereits ihre gebuchten Sitzplätze einnehmen – also noch vor dem Betreten des Flugzeugs.

Anschliessend sollte der gesamte Gate-Bereich als Container ins Flugzeug verladen werden, wie dies bereits mit Frachtcontainern üblich ist. Gleiches sollte beim Deboarding geschehen: Das Flugzeug öffnet eine grosse Klappe im Rumpf, und ein Kran hievt einen ganzen Passagierbereich von zehn und mehr Reihen einschliesslich Handgepäckfächer direkt in die Ankunftshalle. Airbus liess sich dieses System 2015 patentieren.

So einfach und effizient sich das auch anhören mag, so schwierig ist doch die Umstellung der Infrastruktur für solche per Kran bewerkstelligten Container-Bewegungen. Zudem müssten sämtliche gängigen Flugzeugtypen auf neuartige Rumpfanordnungen mit Passagier-Containern und grossen Klappen im Rumpf umgebaut werden.

Fenstersitze geniessen bei Wilma Vorrecht

Gefragt sind stattdessen weniger aufwendige Lösungen, die sich mit bestehender Infrastruktur einführen lassen. Die amerikanische Fluggesellschaft United Airlines hat sich dazu vor rund 15 Jahren ein System einfallen lassen, dass sich «Wilma» nennt. Der Name entstand aus der Gruppierung von Sitzen nach Fenster-, Mittel- und Gangsitzen (Window, Middle, Aisle): Zuerst steigen alle Passagiere mit Fenstersitzen ein, dann die Personen mit Mittelsitzen und zuletzt die Gangsitz-Reisenden.

Mit der Wilma-Methode lassen sich, wie verschiedene Praxistests belegen, bis zu 25 Prozent der Einsteigezeit einsparen. Hält man sich auch beim Aussteigen an die Reihenfolge nach allen Gang-, Mittel- und Fenstersitzen, ist die Ersparnis ähnlich gross, wenn man einmal davon absieht, dass das Entladen von Handgepäck nicht genauso geordnet abläuft wie bei der Wilma-Methode für Passagiere vorgesehen. Aber erhebliche Zeiteinsparungen lassen sich mit der Methode erzielen.

Reihenfolge beim Flugzeug-Boarden nach Wilma-System

United Airlines führte Wilma bereits in den nuller Jahren in der Economy-Klasse ein, setzte das Verfahren aber 2017 wieder aus. Viele Passagiere fühlten sich benachteiligt und zurückgesetzt. Wer einen Fenstersitz ergattert hatte, durfte zuerst das Flugzeug besteigen, ganz unabhängig davon, in welcher Sitzreihe er seinen Platz hatte. Entsprechend hatten die Fensterpassagiere auch als Erste das Recht, die Handgepäckfächer zu beladen.

Insbesondere die Gangplatz-Passagiere hatten in der Folge oft keinen Platz mehr in den Ablagen über den Sitzen, um ihr Handgepäck zu verstauen. Sie mussten dann den knappen Fussraum mit ihrem Handgepäck teilen. Immer mehr Passagiere begannen, United Airlines aufgrund ihres Wilma-Systems zu boykottieren.

Seit Oktober 2023 aber ist United zum Wilma-System zurückgekehrt. Rechtzeitig zur Winterreisesaison ist die effiziente Boarding-Methode auf United-Flügen in der Economy-Klasse wieder in Kraft. An den Schwächen des Systems hat sich kaum etwas verändert. Nur die Abmessungen der Handgepäckstücke werden nun noch engmaschiger kontrolliert.

Die Steffen-Methode ist viel besser

Dabei gäbe es eine noch bessere Methode als Wilma. Jemand, der sich mit dem Problem des schnellen Ein- und Aussteigens beim Flugzeug befasst hat, ist der Astrophysiker Jason Steffen, der sich normalerweise mit Exoplaneten, weit entfernten Sternen und dunkler Materie befasst. Offenbar genügte es dem findigen Denker nicht, die kompliziertesten Mysterien des Universums aufzuschlüsseln. Er zerbrach sich schon 2008 den Kopf darüber, wie sich das Boarding von Flugzeugen am effizientesten regeln liesse.

«Ich musste vor einem Abflug von Seattle einmal in einem Autostau warten», erklärt Steffen seine Motivation, für schnelleres Einsteigen ins Flugzeug eine Lösung zu erdenken. «Dann musste ich bei der Sicherheitskontrolle in der Schlange stehen. Und dann noch einmal beim Lesen meines Abflugtickets am Flugsteig und erneut vor dem Flugzeug, als sich im Fingerdock wiederum alles staute.»

Während Jahren zerbrach sich der Astrophysiker den Kopf, wie das irdische Problem am besten zu lösen sei. «Es schien mir ein lösbares Problem – es musste also eine Lösung dafür geben, so seltsam sie auch gestaltet sein mochte», sagte er kürzlich gegenüber dem «Wall Street Journal». Wie sich erweisen sollte, verkürzt seine ungewöhnliche Steffen-Methode die beim Wilma-Boarding vergehende Zeit sogar.

Steffen vermutete, dass die unpraktischste Art des Einsteigens sei, wenn man die Passagiere der vordersten Sitze zuerst und erst dann die hinteren Plätze belegen liess. Zu diesem Schluss kam man auch bei der Wilma-Methode. Überraschenderweise ging es schneller, wenn man die Reisenden zufällig auswählte und einsteigen liess, ganz gleichgültig, in welcher Reihe oder Flugklasse sie gebucht waren. Steffen schloss aus diesem «wilden» Boarding, dass es wohl das Beste sei, seine eigene Arbeitsweise aus der Astrophysik einzusetzen. Er schrieb einen Algorithmus zur Optimierung des Einsteigeprozesses beim Flugzeug. Die Steffen-Methode war geboren.

Das Prinzip ist komplex: Beim Beispiel eines Passagierjets des Typs Boeing 737 mit nur einem Mittelgang steigt als erster Reisender die Person ein, die auf dem letzten Fensterplatz auf der linken Seite gebucht ist, also beispielsweise Sitzplatz 30A. Der nächste Passagier belegt dann Fensterplatz 28A, also zwei Reihen davor, dann nach und nach die Plätze 26A, 24A, 22A und alle weiteren Fensterplätze in geraden Sitzreihen.

Anschliessend kommen die Fensterplätze der linken ungeraden Reihen dran, ebenfalls von hinten nach vorne. Erst dann dürfen Passagiere auf den Fensterplätzen der rechten Seite einsteigen, ebenfalls wieder zuerst die geraden und dann die ungeraden Reihen, von hinten nach vorne.

Derselben Reihenfolge entsprechend steigen danach die Personen mit Mittel- und Gangplätzen ein. Durch die jeweils um zwei Reihen versetzt einsteigenden Passagiere ergeben sich weniger Engpässe und Staus im Mittelgang. Zudem werden die Ablagefächer nicht mühsam nacheinander beladen wie bei Wilma, sondern in rascher Abfolge. Auf diese Weise liesse sich gegenüber der Standard-Einsteigemethode rund ein Drittel der Zeit einsparen.

Reihenfolge beim Flugzeug-Boarden nach Steffen-System

Mit Hollywood-Komparsen ausprobiert

Um zu belegen, dass die Steffen-Methode mehr Effizienz beim Boarden bringt, liess der Physiker einen Nachbau des Innenraums einer Boeing 757 in seinem Forschungslabor mit fünf verschiedenen Einsteigesystemen durch Freiwillige und Hollywood-Komparsen befüllen. Die Steffen-Methode gewann deutlich.

Doch bis heute hat sich das System des amerikanischen Astrophysikers nicht durchgesetzt. Es ist erwiesenermassen die effizienteste Methode, aber nicht die praktischste. Wer in Gruppen reist, wird durch das Steffen-System auseinandergerissen. Wer einen Vielflieger-Status oder andere Reiseprivilegien erworben hat, möchte ins Flugzeug einsteigen, wann es ihm beliebt. Wer rasch aussteigen will, weil er einen Anschlussflug zu verpassen droht, hat es ebenfalls eilig und kann nicht warten, bis er an die nach dem System vorgegebene Reihe kommt.

Zwar gibt es heutzutage an manchen Flughäfen elektronische Gate-Kontrollen, die eine Zuteilung der Plätze gemäss Steffen-System ermöglichen könnten. Doch der Programmieraufwand ist entsprechend gross.

Steffen selbst erdachte eine etwas pragmatischere Variante seines komplexen Einsteigesystems, die vor allem reisende Familien und ihre Bedürfnisse einrechnet. Wie der Vordenker sagt, sei die «Steffen-lug» genannte Variante immer noch effizienter als die meisten anderen Methoden. Dabei werden erst die geraden Sitzreihen auf beiden Seiten des Flugzeuggangs befüllt, dann die ungeraden. Auf diese Weise sind die Passagiere besser auf die verschiedenen Bereiche verteilt, es kommt zu weniger Staus und Engpässen.

Doch United Airlines hält weiterhin an der soeben wieder eingeführten Wilma-Methode fest. Es habe eigene Tests der Fluglinie gegeben, und dies nicht in einem Studio mit Komparsen, sondern auf Flügen mit realen Passagieren. Dort habe sich Wilma als die effizienteste Methode herausgestellt und besser abgeschnitten als Steffen, wie ein United-Sprecher bestätigte.

Um einen erneuten Boykott der Passagiere zu vermeiden, wandelt die Airline das Wilma-Prinzip leicht ab. Wie früher dürfen Familien mit Kleinkindern, Militärangehörige, Menschen mit Behinderung und Vielflieger zuerst einsteigen. Erst danach wird nach Fenster-, Mittel- und Gangsitzen aufgeteilt.

Einen weiteren Ansatz pflegt die Fluglinie Southwest, ebenfalls aus den USA. Dort gibt es alphabetische Einsteigegruppen und eine nummerierte Reihenfolge. Southwest hat zur Einführung dieser Methode einen Wissenschafter für Schwarmverhalten eingestellt. Vielleicht lässt sich tatsächlich von Fischen und Zugvögeln lernen, was Menschen mit ihrem Verhalten in der Menge falsch machen.

Exit mobile version