Freitag, April 25

Iter

In Südfrankreich kämpfen Ingenieure darum, das Vorzeigeprojekt für eine kontrollierte Kernfusion endlich auf die Erfolgsspur zu bringen. Zu Besuch auf einer der grössten Baustellen Europas.

In der Provence, unweit des Städtchens Saint-Paul-lès-Durance, prallen Vergangenheit und Zukunft aufeinander. Auf einer kleinen Anhöhe thront das im 15. Jahrhundert erbaute Schloss Cadarache. Hier traf sich einst der Adel, um zu jagen und zu feiern.

Nur einen Katzensprung entfernt befindet sich eine der grössten Baustellen Europas. Schon von weitem sticht eine riesige Halle ins Auge. Stünde sie in Paris, würde sie den Triumphbogen überragen. Anders als das idyllische Schloss ist das Gebäude keine Augenweide. Aber was hier gebaut wird, soll auch nicht gefallen. Zusammen mit den erneuerbaren Energien soll es den Weg in eine sichere Energiezukunft ohne fossile Brennstoffe weisen.

Auf einem Gelände so gross wie 60 Fussballfelder entsteht der Internationale Thermonukleare Experimentalreaktor Iter. Mit diesem weltweit grössten Fusionsexperiment wollen Europa, die USA, Russland, China, Japan, Südkorea und Indien endlich der kontrollierten Kernfusion zum Durchbruch verhelfen. Der Versuchsreaktor soll demonstrieren, dass sich durch die Verschmelzung von Wasserstoff zu Helium zehnmal so viel Wärme erzeugen lässt, wie durch die Heizung des Plasmas verlorengeht.

Das Prinzip der Kernfusion

Das Prinzip der Kernfusion

Strom produzieren soll Iter noch nicht. Das soll erst mit einem nachfolgenden Demonstrationskraftwerk geschehen, das auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Iter aufbaut. Insofern ist Iter der Schlüssel für die Zukunft der Kernfusion. So sehen es zumindest die Befürworter des Milliardenprojekts.

Wesentliche Komponenten des Iter-Reaktors sind defekt

Schon auf dem Weg zur Montagehalle wird deutlich, dass Iter ein Bauwerk der Superlative ist. Am Wegesrand liegt gut verpackt ein Bauteil, das einen Durchmesser von 30 Metern hat und entfernt an ein Ufo erinnert. Es handelt sich um den Deckel des Kryostaten. Dieses Kühlgefäss soll später die supraleitenden Magnete umschliessen, die das 150 Millionen Grad heisse Wasserstoffplasma einschnüren und von den Wänden des ringförmigen Vakuumgefässes fernhalten.

Laut Plan soll Iter 2025 den Betrieb aufnehmen. Ein Blick in die Baugrube zeigt jedoch, dass das illusorisch ist. Eigentlich sollten hier die ersten Segmente des riesigen Vakuumgefässes miteinander verschweisst sein. Doch die Arbeiten mussten gestoppt werden. Bei Inspektionen hatte sich gezeigt, dass die bereits gelieferten Segmente von der gewünschten Form abweichen. Ihre Ränder sind leicht gewellt und können daher nicht mit der erforderlichen Genauigkeit verschweisst werden.

Jetzt hängen zwei der Segmente von der Decke der Montagehalle. Jedes wiegt fast 400 Tonen, so viel wie ein vollbeladener Jumbo-Jet. In luftiger Höhe haben Schweisser damit begonnen, die Segmente zu reparieren. Die Idee besteht vereinfacht gesagt darin, zusätzliches Metall aufzutragen und die Ränder danach glattzuschleifen. Das kostet Zeit. So dauerte es alleine ein Jahr, die aufwendigen Reparaturarbeiten vorzubereiten und zu testen.

Mit Schuldzuweisungen halten sich die Iter-Verantwortlichen zurück. Dem südkoreanischen Hersteller der drei bereits gelieferten Segmente könne man keinen Fehler nachweisen, sagt Akko Maas, der bei Iter für die Koordination der wissenschaftlichen Aktivitäten zuständig ist. Das Problem sei vielmehr das Design. «Das Vakuumgefäss ist zu kompliziert für das, was es tun soll.»

Ein zweites Problem ortet Maas auf politischer Ebene. Ursprünglich hätte der Auftrag zur Herstellung des Vakuumgefässes an ein Land vergeben werden sollen. Auf Druck der Mitgliedsländer sei aber entschieden worden, die Segmente in Südkorea und Europa produzieren zu lassen. Zu allem Überfluss sträubten sich die Hersteller jahrelang dagegen, zu kooperieren. Das sind keine guten Voraussetzungen für reibungslose Abläufe.

Das Vakuumgefäss ist nicht die einzige Komponente des Iter-Reaktors, die Mängel aufweist. Auch die thermische Abschirmung der supraleitenden Magnete muss überholt werden. Der Aufwand ist enorm. Alles in allem müssen 23 Kilometer bereits verschweisste Kühlrohre ersetzt oder repariert werden, weil sie feine Risse haben könnten.

Mitgliedsländer müssen sich auf höhere Kosten einstellen

Für Pietro Barabaschi, der das Iter-Projekt seit Oktober 2022 leitet, sind die Verzögerungen ein Ärgernis. Aber es erstaunt ihn nicht, dass es bei einem Projekt dieser Grössenordnung und Komplexität zu Komplikationen kommt. «Solche Dinge passieren, wenn man Neuland betritt», erklärt Barabaschi den anwesenden Journalisten. «Und sie passieren häufiger, als man denkt.»

Der Generaldirektor von Iter steht nun vor einer undankbaren Aufgabe. Bis Juni muss er den Mitgliedsländern im Iter-Rat einen neuen Zeit- und Kostenplan präsentieren und darauf hoffen, dass dieser allgemeine Zustimmung findet. Sollten die Mitgliedsländer den Geldhahn zudrehen, stünde das weltweit grösste Fusionsexperiment vor dem Aus.

Auf Nachfrage will Barabaschi nicht preisgeben, um wie viele Jahre sich das Iter-Projekt verzögern wird. Nur so viel lässt er sich entlocken: «Wir versuchen, auf schnellerem Weg von A nach B zu kommen.» Will heissen: Man hofft nach wie vor, dass der Reaktor wie geplant ab 2035 mit einem fusionsfähigen Brennstoffgemisch aus Deuterium und Tritium betrieben werden kann. Dafür nimmt man eine Verkürzung der vorbereitenden Experimente und Tests in Kauf, die zwischen 2025 und 2035 geplant sind.

Die Verzögerungen sind das eine. Das andere sind die höheren Kosten, die auf die Mitgliedsländer zukommen. Die ursprünglich veranschlagten 20 Milliarden Euro dürften vorne und hinten nicht reichen. Aber auch bei dieser Frage lässt sich Barabaschi nicht in die Karten schauen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.

Ist die Laserfusion auf der Überholspur?

Für das Iter-Projekt kommen die Probleme mit den defekten Komponenten zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Während sich die Bauarbeiten in Südfrankreich um Jahre verzögern dürften, erlebt die Kernfusion anderswo einen Boom, der noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

Einer der Gründe dafür ist ein Experiment in den USA, das einen anderen Weg zur Kernfusion erprobt als Iter, die sogenannte Laserfusion. An der staatlichen National Ignition Facility beschiesst man winzige Brennstoffkügelchen von allen Seiten mit Laserlicht, um den Brennstoff zu komprimieren und zu erhitzen. Dabei ist es kürzlich erstmals gelungen, eine positive Energiebilanz zu erzielen: Die verschmelzenden Atomkerne im Inneren des Kügelchens setzten das 1,5-Fache der zugeführten Laserenergie frei. In dieser Hinsicht ist die Laserfusion der bei Iter verfolgten Magnetfusion also einen Schritt voraus.

Der Durchbruch in den USA hat auch Politiker hellhörig gemacht. So hat die Regierung Biden kürzlich das Budget für die Erforschung der Kernfusion erhöht. Auch in Deutschland zeigt man sich spendabel. Die Bundesregierung will die Fusionsforschung in den nächsten fünf Jahren mit mehr als einer Milliarde Euro fördern. Davon sollen sowohl die Magnetfusion als auch die Laserfusion profitieren.

Startups suchen den schnellen Weg zum Fusionskraftwerk

Druck kommt auch von anderer Seite. In den letzten Jahren sind rund 40 Startups gegründet worden, die die Kommerzialisierung von Fusionsreaktoren beschleunigen wollen. Getragen werden sie von staatlichen Zuschüssen und von privaten Geldgebern, die in den letzten Jahren 6,2 Milliarden Dollar investiert haben. Offenbar sind die Investoren überzeugt, dass die Kernfusion nach Jahrzehnten der Grundlagenforschung endlich reif für die Anwendung ist.

Besonders viel scheint man der amerikanischen Firma Commonwealth Fusion Systems zuzutrauen. Das Spin-off des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat zwei Milliarden Dollar Risikokapital aufgetrieben und setzt wie Iter auf die Magnetfusion. Der Versuchsreaktor, den das Unternehmen in den kommenden Jahren bauen will, soll allerdings wesentlich kompakter und damit kostengünstiger sein. Möglich machen das sehr starke Magneten zum Einschluss des Plasmas, die noch nicht anwendungsreif waren, als Iter geplant wurde.

Der Zeitplan von Commonwealth Fusion Systems liest sich wie eine Kampfansage an Iter. Im Jahr 2025 soll der kompakte Versuchsreaktor den Betrieb aufnehmen. Bereits Mitte der 2030er Jahre soll ein kommerzielles, stromproduzierendes Kraftwerk folgen. Das wäre der Zeitpunkt, zu dem Iter frühestens mit einem Deuterium-Tritium-Plasma zu experimentieren beginnt. Ähnlich optimistisch klingen die Verlautbarungen anderer Startups.

Kommt Iter also zu spät? Akko Maas hat dazu eine dezidierte Meinung. Die privaten Firmen versprächen das Blaue vom Himmel. Er ist überzeugt, dass man Iter braucht, um Antworten auf eine Reihe schwieriger Fragen zu finden. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, woher das Tritium kommen soll, das in zukünftigen Fusionskraftwerken verbrannt werden soll. Die weltweiten Tritiumvorräte reichen dazu bei weitem nicht aus. Mit Iter möchte man zeigen, dass Fusionsreaktoren ihren eigenen Brennstoff erbrüten können. Die Idee ist, die innerste Wand des Reaktors mit Lithium anzureichern. Dieses Element zerfällt bei Beschuss mit Neutronen in Tritium.

Auch der Fusionsforscher Martin Greenwald vom MIT, der Commonwealth Fusion Systems mitgegründet hat, ist von der Notwendigkeit von Iter überzeugt. «Selbst wenn die privaten Unternehmen das Ziel zuerst erreichen sollten, werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Iter liefert, für nachfolgende Generationen von Fusionsanlagen von Nutzen sein.» Greenwald spricht von einem freundschaftlichen Wettbewerb, von dem beide Seiten profitieren können.

Europäische Fusionsforscher mahnen zur Eile

Die Verzögerungen von Iter tangieren auch die staatlichen Pläne für den Demonstrationsreaktor, der auf Iter folgen soll. Man könne nicht darauf warten, bis Iter alle Meilensteine erreicht habe, sagt Ambrogio Fasoli vom Swiss Plasma Center an der ETH Lausanne, der gleichzeitig Programm-Manager der europäischen Fusionsforschungseinrichtungen (Eurofusion) ist. Europa müsse die Entwicklung eines stromproduzierenden Reaktors parallel zum Betrieb von Iter vorantreiben.

Dass Fasoli und andere europäische Fusionsforscher zur Eile mahnen, hat auch politische Gründe. Die chinesische Regierung hat angekündigt, bis 2035 den ersten industriellen Prototyp eines Fusionsreaktors zu bauen. Ab 2050 möchte China mit der Kernfusion im grossen Stil Strom erzeugen. Darauf muss Europa eine Antwort finden, wenn es energiepolitisch nicht ins Abseits geraten will.

Auf der Iter-Baustelle in der Provence spielen solche strategischen Überlegungen keine Rolle. In der Montagehalle bespricht ein amerikanischer Ingenieur mit chinesischen Kollegen die nächsten Schritte für den Bau des zentralen Magneten, der später einen Strom von 15 Millionen Ampere durch das Wasserstoffplasma jagen soll. An Politik denkt in diesem Augenblick keiner von ihnen. Alle haben nur ein Ziel vor Augen: Iter endlich auf die Erfolgsspur zu bringen.

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