Freitag, Oktober 4

Der mutmassliche Attentäter von München lebte in Österreich, er galt als IS-Sympathisant. Die Behörden stuften ihn nicht als Gefährder ein. Doch weil eine einheitliche Datenbank fehlt, hätten bayrische Polizisten selbst bei einer solchen Einstufung nichts davon gewusst.

Emrah I. lebte mit seinen Eltern in Neumarkt, einer beschaulichen 6000-Einwohner-Stadt im Salzburgerland. Der muslimische Jugendliche mit bosnischen Wurzeln interessierte sich offenbar für Waffen und sah sich Videos des Islamischen Staates im Internet an. 2023 ermittelte die Staatsanwaltschaft Salzburg gegen den damals 17-jährigen Österreicher, nachdem er mit gewalttätigem Verhalten an der Schule aufgefallen war. Dabei entdeckten die Ermittler auf seinem Smartphone Videos aus dem Jahr 2021 mit Szenen aus einem Spiel, in denen Emrah I. Terrorszenen nachstellte und seinen Avatar mit einer islamistischen Fahne schmückte.

Kontakte zu anderen Islamisten oder einschlägige Hass-Propaganda fanden die Ermittler aber nicht. Die Untersuchung wurde deshalb eingestellt, die Behörden stuften den Jugendlichen nicht als Gefährder ein. Sein Umfeld und die Schule wurden aber gebeten, sich bei Hinweisen auf eine Radikalisierung zu melden. Das geschah nicht. Er lebte offenbar nicht besonders religiös und wirkte auch äusserlich nicht wie ein Islamist.

Ein Jahr später kaufte Emrah I. sich einen Schweizer K-31-Karabiner, trotz einem gegen ihn verhängten Waffenverbot. Dann machte er sich auf den Weg nach München und eröffnete vor dem israelischen Generalkonsulat das Feuer auf Polizeibeamte. Sie erschossen ihn. Hätte der Mann womöglich früher gestoppt werden können?

Heiko Teggatz, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, hält das für wenig wahrscheinlich. Nicht einmal dessen Einstufung als Gefährder durch österreichische Behörden hätte wohl deutsche Polizeibeamte alarmiert, sagt er im Gespräch mit der NZZ. Zum einen, weil an der deutsch-österreichischen Grenze «nur stichprobenartig» kontrolliert werde. Zum anderen, weil es noch keine europaweite Datei gebe, mit der Gefährder «an der Grenze oder im Ausland identifiziert» werden könnten.

Derzeit verfügen die EU-Mitgliedsstaaten über keine einheitliche Definition, was einen Gefährder ausmacht. Seit vier Jahren bespricht die EU ein deutsches Vorhaben, mit dem die Vereinheitlichung der Gefährder-Datenbanken vereinfacht werden soll. Getan hat sich seither wenig. Somit können deutsche Polizisten ausländische Gefährder bei der Einreise in der Regel nicht identifizieren.

Warum reiste Emrah I. nach Deutschland?

Und ein weiteres Problem erschwert die Arbeit der Sicherheitsbehörden zusätzlich. Wie mutmasslich Emrah I. auch radikalisieren sich viele junge Islamisten fast ausschliesslich im digitalen Raum. Sie meiden islamistische Gemeinden oder Moscheevereine, verhalten sich unauffällig, bis sie plötzlich zuschlagen. So sind sie für die Ermittler schwerer greifbar.

Das grösste Gefahrenpotenzial sieht der österreichische Verfassungsschutz entsprechend bei «radikalisierten männlichen Einzelpersonen sowie autonom agierenden Kleinstgruppen», wie es in seinem Bericht heisst. Sie seien «von terroristischen Organisationen inspiriert», in den meisten Fällen jedoch «nicht direkt beauftragt» worden. Gerade bei Erwachsenen unter 25 Jahren spiele islamistische Propaganda «im digitalen Raum» eine wichtige Rolle – und zwar als «Inspirationsquelle für terroristische Taten».

Doch warum fuhr Emrah I. ausgerechnet nach Deutschland, um dort eine israelische Vertretung anzugreifen? Womöglich, weil sich Deutschland mit besonderem Nachdruck zu Israels Existenzrecht bekennt?

Noch dauern die Ermittlungen an. Für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann ist es aber kein Zufall, dass Emrah I. an dem Tag nach München reiste, an dem sich das Olympia-Attentat palästinensischer Terroristen zum 52. Mal jährte. Remko Leemhuis, Direktor des American Jewish Committee in Berlin, sieht das ähnlich. Aus seiner Sicht spricht es für eine «historische Kontinuität», dass ausgerechnet am Jahrestag des Attentats, bei dem palästinensische Terroristen in München «elf Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft und einen Polizisten ermordeten, ein Anschlag auf das israelische Generalkonsulat in München verübt wird».

Die meisten Terroristen leben bereits in Deutschland

Laut Sicherheitskreisen wirkten der Überfall der Hamas auf Israel im Oktober vergangenen Jahres und der anschliessende israelische Militäreinsatz im Gazastreifen wie ein Brandbeschleuniger für islamistische Gruppen. Der Solinger Attentäter Issa al-Hasan, ein Asylmigrant aus Syrien, nannte in seinem Bekennervideo für den Islamischen Staat die Rache für die «Muslime in Palästina» als Tatmotiv. Ein ähnliches Motiv liegt auch im Fall von Emrah I. nahe. Er soll einen Bezug zur sunnitischen Terrororganisation Hayat Tahrir al-Sham aus Syrien gehabt haben, berichtet die Deutsche Presse-Agentur.

Dass Islamisten aus Nachbarländern nach Deutschland reisen, um Anschläge zu verüben, ist allerdings die Ausnahme. Das zeigt ein Überblick über die Terroranschläge der vergangenen Jahre. Die meisten Täter sind vor mehreren Jahren nach Deutschland als Asylmigranten eingewandert. Oder sie sind Nachkommen von Arbeitsmigranten, die vor Jahrzehnten nach Deutschland kamen, und haben sich im Land radikalisiert.

Derzeit stuft das deutsche Bundeskriminalamt 483 Islamisten im Inland als «Gefährder» ein. Es versteht darunter eine Person, «zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung» begehen wird. Dafür muss sie zuvor keine Straftaten begangen haben. Es reicht aus, wenn sie als Unterstützer, Führungsperson oder Akteur bei der Vorbereitung eines Terroranschlags in Erscheinung tritt oder Kontakte in terroristische Kreise pflegt.

In Österreich ist die Definition des «Gefährders» weniger eindeutig. Auch Personen, die etwa wegen häuslicher Gewalt amtsbekannt sind, können als Gefährder gelten. Es muss sich also nicht zwangsläufig um politische Kriminalität handeln. Laut dem Nachrichtendienst gibt es eine «mittlere zweistellige Zahl» islamistischer Gefährder. Junge Männer wie Emrah I., die einmal mit islamistischen Handlungen oder Insignien aufgefallen sind – ohne dass die Behörden darin eine verfassungsgefährdende Bedrohung sahen –, gibt es aber Hunderte.

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