Mittwoch, Januar 29

Der Bund macht Druck, hinter den Kulissen gehen die Gespräche über den Arbeitsmarkt in die letzte Runde. Es wird hart, doch selbst beim grössten Streitpunkt sind die Differenzen kleiner, als es scheint.

Was haben sie getobt. Kaum hatte der Bundesrat Ende Dezember bekanntgegeben, dass die Verhandlungen mit der EU abgeschlossen sind, gingen die Gewerkschaften rhetorisch auf die Barrikaden. Der Bundesrat habe in Brüssel den Lohnschutz geopfert, und die Arbeitgeber seien in den innenpolitischen Gesprächen noch immer nicht kompromissbereit. Weil die Gewerkschaften im EU-Dossier eine politische Schlüsselrolle spielen, hallte die Kritik nach. Das war kurz vor Weihnachten.

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Heute klingt es versöhnlicher. «Wir haben gesehen, dass die Arbeitgeber offenbar bereit sind, einen Beitrag zu leisten, dass der Lohnschutz gewährleistet ist»: Mit diesen ungewohnt freundlichen Worten liess sich Daniel Lampart auf SRF zitieren. Er ist Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, der dem EU-Paket besonders skeptisch gegenübersteht. Was ist passiert?

Lampart bekräftigt auf Nachfrage, aus seiner Sicht habe es Fortschritte gegeben. Zu verdanken sei dies primär dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das die Initiative ergriffen und die verfahrenen Gespräche der Sozialpartner mit eigenen Vorschlägen vorangebracht habe. «Aber es bleibt schwierig», sagt Lampart.

Details will er nicht nennen. Diese Woche wollen die Gewerkschaften ihre Positionen festlegen, bevor die innenpolitischen Verhandlungen im Februar in die entscheidende Phase gehen. Auch von Travail Suisse, dem zweiten Dachverband der Gewerkschaften, ist zu hören, die Positionen der Arbeitgeber würden sich teilweise aufweichen.

Der Plan ist klar: In den Verhandlungen mit der EU hat die Schweiz Konzessionen gemacht, die den Lohnschutz erschweren könnten. Zum Beispiel müssten sich Firmen aus der EU, die hierzulande arbeiten wollen, nur noch vier statt acht Tage vorher anmelden. Heute müssen diese Firmen zudem Kautionen hinterlegen für den Fall, dass sie sich nicht an die Regeln halten und etwa zu tiefe Löhne zahlen. Auch damit wäre Schluss. Kautionen wären nur noch fällig, wenn ein Betrieb bereits einmal gebüsst wurde.

Bundesrat will rasch Vorschläge

Trotzdem soll der Lohnschutz auf heutigem Niveau erhalten werden. Dies ist das erklärte Ziel aller Beteiligten. Erreichen wollen sie es mit autonomen Massnahmen im Inland, ohne Einbezug der EU. Zum Beispiel soll ein vollständig digitales Meldeverfahren ermöglichen, dass Firmen aus der EU trotz kürzerer Anmeldefrist weiterhin rechtzeitig kontrolliert werden können. In diesem Punkt ist man sich einig, andere Fragen aber sind hart umkämpft.

Die Gewerkschaften stellen Forderungen, die aus Sicht der Arbeitgeber nichts mit dem EU-Dossier zu tun haben. Dazu gehören beispielsweise Obergrenzen für Temporärangestellte oder ein Ausbau des Kündigungsschutzes für Personalvertreter.

Am Zug sind Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammen. Unter der Moderation des Seco sollen sie verhandeln, welche Massnahmen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt nötig sind. Und zwar bereits bis Ende Februar. So stellt es sich zumindest der Bundesrat vor, die Gewerkschaften indes verlangen mehr Zeit.

Sogar bei GAV gibt es Spielraum

Gespräche mit Involvierten lassen vermuten, dass die Fronten weniger verhärtet sind, als es lange den Anschein machte. Dies gilt selbst für die grösste Streitfrage, die den gesamten Konflikt prägt: Unter welchen Umständen darf der Bund einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für eine ganze Branche allgemeinverbindlich erklären? In diesen Fällen müssen sich auch Firmen an die vereinbarten Löhne und die weiteren Regeln halten, die dem GAV gar nie zugestimmt haben. Gewerkschaften sehen darin einen wichtigen Teil des Lohnschutzes, Arbeitgeber eine Einschränkung des flexiblen Arbeitsmarkts.

Heute gibt es drei Quoren, die verhindern sollen, dass eine Minderheit der Mehrheit die Regeln in einer Branche diktieren kann. Im Prinzip darf der Bund GAV nur allgemeinverbindlich erklären, wenn die beteiligten Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften eine Mehrheit der Firmen und der Angestellten vertreten. Bei den Angestellten sind Ausnahmen möglich, nicht aber bei den Unternehmen. Steht nicht die Mehrheit aller Firmen hinter einem GAV, darf er nicht obligatorisch sein.

Darin sehen die Gewerkschaften ein Problem. Ihre Argumentation geht so: Es gebe zunehmend Branchen, in denen eine Minderheit von Firmen den Grossteil aller Angestellten beschäftige, während daneben viele kleine Betriebe tätig seien, die nur wenig Personal hätten. In solchen Fällen sind heute allgemeinverbindliche GAV nicht möglich.

Mit ihrer Kritik sind die Gewerkschaften nicht völlig allein. Der Westschweizer Arbeitgeberverband Centre patronal kommt zu dem gleichen Schluss. Er hat einen Vorschlag lanciert, mit dem GAV auch obligatorisch werden können, wenn etwa nur 40 Prozent der Firmen dahinterstehen, die aber 80 Prozent aller Angestellten beschäftigen. Den nationalen Arbeitgeberverbänden geht das zu weit. Ihr Widerstand gegen eine Lockerung bei den GAV ist massiv und kategorisch. Zumindest gegen aussen.

Arbeitgeber halten an «roter Linie» fest

Hinter den Kulissen zeigt sich, dass in einer wichtigen Frage eine Einigung gelingen sollte: Auch der Arbeitgeberverband will verhindern, dass bestehende GAV, die bereits allgemeinverbindlich sind, diesen Status plötzlich verlieren. Dies kann passieren, wenn in einer Branche viele neue Firmen entstehen, so dass der Anteil der Unternehmen, die hinter dem GAV stehen, unter 50 Prozent fällt. In einem solchen Fall müsste der Bund die Allgemeinverbindlichkeit aufheben.

Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Dem Vernehmen nach gibt es aber mehrere relevante Branchen-GAV in Bereichen wie Bau, Reinigung und Sicherheit, in denen der Anteil um 50 Prozent herum schwankt. Damit sei unsicher, wie lange diese GAV noch verlängert werden könnten.

Zumindest in dieser Frage will der Arbeitgeberverband laut mehreren Quellen den Gewerkschaften entgegenkommen. Allerdings denken die Arbeitgeber an eine rein «technische» Lösung: Der Bund könnte laut den Quellen die Zählweise der Firmen so ändern, dass die 50-Prozent-Hürde leichter zu erreichen ist – aber nur für bestehende GAV.

Den Gewerkschaften würde das nicht genügen. Die Arbeitgeber halten aber an ihrer «roten Linie» fest: Die Ausweitung neuer GAV dürfe nicht vereinfacht werden, sonst schädige die Schweiz ihren liberalen Arbeitsmarkt.

Bundesrat Parmelin unter Beobachtung

In diesem Fall will die Wirtschaft lieber auf die neuen Verträge mit der EU verzichten. Allerdings zeigt das Beispiel der Verlängerung bestehender GAV, dass dies keine Schwarz-Weiss-Debatte ist. Letztlich werden für beide Seiten die Details entscheidend sein.

Am Ende muss der Bundesrat entscheiden, welche Vorschläge er dem Parlament zum Thema Lohnschutz unterbreitet – ob er lediglich übernimmt, was die Sozialpartner einstimmig gutheissen, oder ob er weiter geht. Hier spielt Bundesrat Guy Parmelin eine interessante Rolle. Einerseits vertritt er die SVP, die das EU-Paket vehement bekämpft. Andererseits muss er als Wirtschaftsminister eine tragfähige Lösung für den Arbeitsmarkt präsentieren.

Politisch ist die Sache fragil. Je stärker Bundesrat und Parlament den Gewerkschaften entgegenkommen, um die Linke hinter das Paket zu scharen, desto stärker dürfte der Widerstand im bürgerlichen Lager und in der Wirtschaft wachsen.

Geheimlösung für Geheimverträge

Bisher hat der Bund die konkreten Vertragstexte, die er mit der EU verhandelt hat, nicht veröffentlicht. Ein Problem ist dies primär beim Thema Lohnschutz im Inland: Wie können Gewerkschaften und Arbeitgeber verbindliche Deals eingehen, wenn sie nicht genau wissen, was in den Abkommen steht?

Vor allem die Gewerkschaften haben im Dezember ultimativ die Publikation der Texte verlangt. Daraus wird aber nichts. Der Bund hält daran fest, dass die Verträge erst nach dem formellen Abschluss der Verhandlungen mit der EU, nach der Paraphierung, veröffentlicht werden können. Dies soll im Frühling erfolgen. Zuvor müssten die Texte rechtlich überprüft und übersetzt werden.

Damit scheinen sich nun auch die Gewerkschaften abgefunden zu haben. Offenbar haben sie mit dem Bund irgendeine kreative Lösung gefunden. Jedenfalls sind sie bereit, die Gespräche fortzusetzen, obwohl die Texte nicht vorliegen. Wie die Lösung aussieht, will niemand sagen. Man kann nur mutmassen, dass die Sozialpartner die für sie relevanten Vertragsteile diskret einsehen konnten – unter Aufsicht und striktem Fotografierverbot.

Wie kann die Schweiz den Lohnschutz weiterhin sicherstellen?

Bei diesen Ansätzen sind Arbeitgeber und Gewerkschaften gesprächsbereit bis handelseinig:

  • Zahlungsstopp bei Missbrauch. Wenn sich zeigt, dass eine Firma aus der EU bei Einsätzen in der Schweiz zu tiefe Löhne zahlt oder andere Regeln verletzt, sollen die Zahlungen der Auftraggeber auf ein Sperrkonto gehen. Damit könnten Bussen bezahlt werden, wenn eine Kaution fehlt.
  • Ausweitung der Haftung. Geben Firmen einen Teil der Arbeiten an Subunternehmen weiter, sollen sie stärker als bisher haften, falls diese die Lohn- und Anstellungsbedingungen nicht einhalten.
  • Effizienteres Meldesystem. Die Lohnkontrollen sollen voll digitalisiert werden – und allenfalls auch zentralisiert. Heute unterscheiden sie sich von Kanton zu Kanton. Neu muss alles schneller gehen, damit Firmen aus der EU trotz kürzerer Anmeldefrist kontrolliert werden können.
  • Keine Staatsaufträge. Um Aufträge von Bund, Kantonen und Gemeinden zu erhalten, sollen Firmen neu stets nachweisen, dass sie sich bisher an alle Regeln des Lohnschutzes gehalten haben.
  • Ungelöstes Problem: Spesen. Laut der EU-Spesenregelung müssten Firmen aus der EU auch in der Schweiz nur so hohe Spesen zahlen wie in ihrem Heimatland. Die EU fordert die Übernahme dieser Regel. In der Schweiz tendieren alle Beteiligten dazu, die Änderungen innerstaatlich einfach nicht umzusetzen – wie dies auch diverse westliche EU-Länder machen. Die Gewerkschaften warnen davor: Es sei unklar, was passiere, falls betroffene Firmen vor Bundesgericht klagen würden.
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