Montag, September 30

Immer reiner, immer stärker: Das war jahrelang die Richtung beim Kokain. Nun kommt es zu einer massiven Zunahme von gestrecktem Stoff – mit potenziell lebensbedrohlichen Folgen.

Das Reagenzglas mit dem Kokain ist klein, durchsichtig und befindet sich gerade in einem Wasserbad. Daneben liegen Spritzen, Pipetten und Flaschen mit Lösungsmittel.

Ein Mann mit Brille, Jeans und krausen Haaren nimmt das Reagenzglas aus der Halterung und prüft mit geübtem Blick das Innere. Vor ihm ist auf knapper Fläche ein ganzes Chemielabor aufgebaut, von der Aussenwelt nur durch ein Zeltdach getrennt. Auf der Arbeitsfläche wartet schon die nächste Probe, diesmal mit der Droge MDMA.

Vergangener Samstag, Street Parade. An der grössten Techno-Party der Welt mit ihrer knappen Million Teilnehmenden ist der Drogenkonsum hoch. Im mobilen Labor am Bürkliplatz, betrieben von der städtischen Drogenarbeit, können die Raver ihren Stoff gratis testen lassen.

Während draussen die Bässe wummern und die Körper hüpfen, wird die Schlange vor dem Testzelt lang und länger. Vor allem Männer warten hier mit ihren Pillen und Pülverchen, die meisten sind um die 30.

Neben MDMA und Amphetaminen ist bei ihnen vor allem eine Substanz hoch im Kurs: Kokain. Doch die Proben, die an diesem Tag entnommen werden, zeigen: Etwas ist dieses Mal anders mit dem weissen Pulver – und es ist potenziell gefährlich.

Hinter dem mobilen Testlabor sitzt Dominique Schori, der Leiter des städtischen Drogeninformationszentrums. Er sagt: «Das Kokain ist immer häufiger gestreckt – in einem ganz neuen Ausmass, verglichen mit den letzten Jahren.»

Ein Drittel aller Proben ist kontaminiert

Procain heisst die Substanz, die die städtischen Labors in letzter Zeit vermehrt in Kokainproben feststellen. Es ist ein sogenanntes Lokalanästhetikum – also ein Mittel zur Betäubung einzelner Körperstellen. Psychoaktive Wirkung hat es keine. Ursprünglich für medizinische Einsätze entwickelt – etwa für die Lokalnarkose bei Operationen –, wird das Mittel heute nur noch selten regulär eingesetzt.

Stattdessen taucht es nun vermehrt im Kokain auf, das die Zürcherinnen und Zürcher bekanntlich in Rekordmengen schnupfen. Gemäss einer Abwasseranalyse in verschiedenen Grossstädten liegt die Stadt Zürich beim Kokainkonsum pro Einwohner europaweit auf Platz sechs.

«Seit kurzem wird Procain vermehrt als Streckmittel eingesetzt – nicht nur in Zürich, sondern in ganz Europa», sagt Schori. Die Zürcher Zahlen dazu sind eindrücklich: Waren 2023 noch 3 Prozent der Kokainproben mit dem Medikament verunreinigt, so waren es im März und April dieses Jahres schon 25 Prozent, also ein Viertel. In den vergangenen drei Monaten hat sich dieser Anteil dann nochmals erhöht: auf einen Drittel kontaminierte Proben. Ein Trend, der sich auch beim Grosseinsatz der Drogentester an der Street Parade bestätigt.

Diese Zunahme sei bemerkenswert, sagt Schori zwei Tage nach der Street Parade im Gespräch mit der NZZ. «Lange zeigte beim Kokain der Trend in eine andere Richtung: Es wurde immer reiner, also immer stärker dosiert.»

Nun, aufgrund der gestreckten Ware, komme es zu einer Trendumkehr. Warnte das städtische Drogeninformationszentrum noch vergangenes Jahr vor einem Rekordreinheitsgrad von 86,9 Prozent, liegt dieser im laufenden Jahr deutlich tiefer, bis jetzt um geschätzt 5 Prozentpunkte.

Dass es sich dabei um eine europaweite Entwicklung handelt, weiss Schori von seinen Kontakten in anderen Drogentestzentren in ganz Europa. «Wir sind sehr gut vernetzt und bilden so eine Art Frühwarnsystem für neue Trends auf dem Drogenmarkt», sagt er. Neben dem Labor in Zürich berichteten auch solche aus anderen Schweizer Städten sowie aus Berlin, Österreich, Slowenien und dem Vereinigten Königreich von der mit Procain gestreckten Ware.

Die Injektion kann lebensgefährlich sein

Der Trend bietet dabei handfeste Gefahren für Kokainkonsumierende, allerdings vor allem für eine spezifische Gruppe unter ihnen. «Wer das gestreckte Kokain schnupft oder raucht, spürt kaum einen Unterschied», sagt Schori. Doch wer es sich spritze, gefährde damit sein Leben.

Denn der Stoff kann in hohen Dosen zu einer Beeinträchtigung des Herz-Kreislauf-Systems führen. Im Extremfall droht laut Schori ein Herzstillstand. Dazu kommen andere mögliche Nebenwirkungen wie Taubheit, Blutdruckabfall oder eine allergische Reaktion.

Besonders schwer Süchtige, die sich den Stoff in grossen Mengen injizieren, sind also durch den Zusatzstoff einem höheren Risiko ausgesetzt. Bis anhin gibt es jedoch noch keine Anzeichen für markant gestiegene Überdosen.

Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Gruppe möglicher Betroffener seit Jahren kleiner wird. Thilo Beck, Co-Chefarzt Psychiatrie bei der Zürcher Abgabestelle Arud, betreut sei Jahrzehnten Schwerstsüchtige. Er sagt: «Der Trend geht weg vom Spitzen hin zu anderen Einnahmeformen. Dass Kokain gespritzt wird, ist heute ziemlich unüblich.»

Ein Problem mit der Beimischung von Procain gebe es jedoch durchaus: dann, wenn es in hohen Mengen erfolge. «Dann hat das angebliche Kokain kaum einen Effekt, man nimmt mehr und mehr davon – und verschärft so die gefährlichen Nebenwirkungen.»

Laut der Stadt wiesen bisher etliche Kokainproben einen substanziellen Procain-Gehalt von über 10 Prozent auf. Vereinzelt bestanden sie gar mehrheitlich oder ganz aus dem Streckmittel.

Ist es Gier? Oder wird das Kokain knapp?

Mit Blick auf den internationalen Drogenmarkt sind, neben den Folgen für Konsumierende, vor allem die Gründe für die Schwemme an gepanschtem Kokain interessant. Für Dominique Schori von der Stadt Zürich gibt es dafür drei mögliche Erklärungen.

Erstens: ein Versorgungsengpass, der dazu führt, dass Dealer ihre Ware strecken. Zweitens: ein Einpendeln des Reinheitsgehalts um 80 Prozent, als Reaktion auf die gesunkene Nachfrage nach möglichst hoch dosiertem Kokain. Oder drittens: Gier – wird weniger reines Kokain für denselben Preis verkauft, erhöht das die Marge der kriminellen Händler.

Der Grund, weshalb genau ein lokales Betäubungsmittel beigemischt wird, hat dabei mit einer Praxis zu tun, die den meisten aus Mafiafilmen bekannt sein dürfte. Dort testen ernst blickende Hünen die Qualität von Kokain jeweils, indem sie einen Kokainsack mit dem Messer aufschlitzen und sich das Pulver mit dem Finger auf das Zahnfleisch streichen.

Wird dieses betäubt, ist die Ware echt und der Boss zufrieden. Bleibt der Effekt aus, hat der Verkäufer des Stoffs ein Problem.

Diesen leicht betäubenden Effekt von Kokain imitiert das Betäubungsmittel Procain perfekt – und führt damit selbst jene Konsumenten hinters Licht, die sich besonders schlau und hartgesotten wähnen.

«Es steigert die Attraktivität der Ware», sagt der Psychiater Beck. Die gute Qualität könne vorgetäuscht sein, sagt Schori warnend. Das, fügt er an, sei ohnehin die wichtigste Lektion aus der Schwemme von gestrecktem Kokain: «Einem Dealer kann man nicht vertrauen. Was in der Ware drin ist, weiss er oft selber nicht. Ohne Test ist jeder Konsum eine Lotterie.»

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