Alle fünf Jahre findet bei der Uno in Genf ein umfassender Menschenrechtsdialog statt. China macht mit, aber versucht, Mitgliedsstaaten für seine Ziele einzuspannen. Nicht bei allen gelingt das.
Es kommt selten vor, dass sich Chinas Regierung vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf für die Gesamtlage der Menschenrechte im Land verantworten muss. Genauer: nur alle fünf Jahre. Dann geben sich die Uno-Mitgliedsstaaten gegenseitig Verbesserungsvorschläge. Am Dienstag war China an der Reihe. Fast drei Stunden lang hörte die chinesische Delegation Hunderte von Empfehlungen zu Xinjiang, Hongkong oder dem wachsenden Überwachungsstaat scheinbar ungerührt an. Erst beim Schlusswort verlor der Uno-Botschafter aus China die Contenance.
Die sogenannten Bedenken einiger Länder seien viel eher «fabrizierte Lügen» mit dem Ziel, China zu verleumden, sagte Chen Xu. «Ich appelliere an diese kleine Handvoll: Hört auf, euch in Chinas politische Angelegenheiten einzumischen und Menschenrechtsanliegen zu politisieren.»
Menschenrechtsorganisationen ausquartiert
Dabei hat Chinas Regierung einiges unternommen, um am Dienstag einen Gesichtsverlust zu verhindern. Sarah Brooks, die bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International für China verantwortlich ist, spricht von der chinesischen «Verwirrungstaktik». China versucht, die internationale Staatengemeinschaft über die tatsächliche Menschenrechtslage im Land zu täuschen, Menschenrechte neu zu definieren und die Uno-Mechanismen zu unterwandern.
Einerseits durch relativ simple Machtdemonstrationen. So war die Grösse der chinesischen Delegation am Dienstag überwältigend. China fuhr mit einer sechzigköpfigen Delegation auf, darunter viele hochrangige Staatsbeamte, welche die Empfehlungen der Mitgliedsstaaten zweimal unterbrachen, um die Errungenschaften und Fortschritte im Land in Länge zu propagieren. So hielt ein Vertreter des Nationalen Volkskongresses in Peking, Chinas Scheinparlament, eine kurze Rede über Demokratie. In China herrsche Demokratie «für den ganzen Prozess», die Macht gehöre ganz dem Volk. Jeder Gesetzesentwurf werde veröffentlicht, um die öffentliche Meinung dazu einzuholen.
Vertreter von chinesischen Organisationen strömten auch in den Bereich im Saal, der für NGOs reserviert ist. Und so wurden die Mitarbeiter von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen ins Untergeschoss ausquartiert. «Wir haben buchstäblich keinen Platz am Tisch, das ist enttäuschend», sagt die Amnesty-China-Direktorin Brooks.
Die chinesische Überzeugungsmacht
Daneben ist es China sichtlich gelungen, seinen wirtschaftlichen Einfluss auf einige Uno-Mitgliedsstaaten geltend zu machen. Diese Staaten meldeten sich zwar zu Wort, doch statt kritische Empfehlungen war viel Lob zu hören für Chinas Fortschritte im Menschenrechtsbereich.
Serbien sagte zum Beispiel, China habe es geschafft, die absolute Armut zehn Jahre früher als geplant abzuschaffen. Seit 2010 haben die Chinesen über 8 Milliarden Dollar in Serbien investiert, eine Autobahn, eine Brücke und eine Bahnverbindung von Belgrad nach Budapest gebaut.
«Länder, die von chinesischen Krediten abhängig sind, werden weniger Kritik äussern. Und so gelingt es China zunehmend, die Erzählung zu verbreiten, dass Menschenrechte vorwiegend als Recht auf Entwicklung interpretiert werden», sagt Andrea Ostheimer, die für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Genf stationiert ist. China priorisiert wirtschaftliche und soziale Menschenrechte gegenüber bürgerlichen und politischen Rechten.
Mindestens die Hälfte der Delegationen, um die 80, beglückwünschten China am Dienstag für Fortschritte im Bereich der Menschenrechte. Manche übernahmen die Rhetorik der Kommunistischen Partei punktgenau. Sri Lanka applaudierte China für seine «menschenzentrierte Entwicklung» und forderte die «Stärkung der Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich im Rahmen der Neue-Seidenstrassen-Initiative». Die Delegation aus Sierra Leone sagte, China habe den grössten Wohlfahrtsstaat der Welt aufgebaut. Venezuela sprach von der «Schicksalsgemeinschaft der Menschheit» – ein Schlagwort von Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping aus seiner Rede vor der Uno-Vollversammlung im Jahr 2015.
Diese Uno-Mitgliedsstaaten blieben in ihren Formulierungen absichtlich vage oder formulierten Pseudo-Empfehlungen. Dominica forderte China etwa dazu auf, die «Demokratie für den ganzen Prozess voll zu entwickeln». Und Bolivien empfahl China, «die Ungleichheit zwischen Stadt und Land weiterhin zu verringern». Dahinter liegt eine weitere Taktik Chinas.
Einerseits entsteht so ein gemischtes Abbild der Menschenrechtssituation in China – die vielen Staaten, die sich positiv äussern, verwässern die kritischeren Statements. Es erlaubt China, die überwiegende Zahl vage oder positiv formulierter Empfehlungen anzunehmen. Auf dem Papier sieht das gut aus. Zudem sorgten die ausserordentlich vielen Wortmeldungen dafür, dass den einzelnen Staaten nur 45 Sekunden Redezeit blieb.
Eine Alibiübung für Chinas Regierung
Immerhin: China kann offenbar die Kritik nicht so leicht vom Tisch wischen wie vor fünf Jahren. Viele Menschenrechtsverletzungen Chinas, wie zum Beispiel in Xinjiang, sind auch auf Ebene der Uno ausführlich dokumentiert und belegt. Sie kamen nun deutlich zur Sprache. Die Expertin Sarah Brooks sagt, im Vergleich zu vor fünf Jahren hätten mehr Länder das internationale Menschenrechtssystem dezidiert verteidigt. Immer mehr Regierungen seien offenbar bereit dazu, sich den Risiken zu stellen, die China für dieses System darstelle.
Knapp fünfzig Delegationen haben Chinas Menschenrechtslage klar kritisiert und konkrete, messbare Vorschläge unterbreitet. Sie forderten etwa ein Moratorium für die Todesstrafe von China, ungehinderten Zugang für Uno-Sonderberichterstatter oder die Freilassung von willkürlich festgehaltenen Menschenrechtsanwälten.
Weitere gut dreissig Regierungen haben vorsichtiger formulierte Empfehlungen ausgesprochen, die für China kein rotes Tuch darstellen. Uganda und die Philippinen forderten China beispielsweise dazu auf, die Rechte von Migranten besser zu schützen. Auffallend war auch, dass es aus Asien, Afrika und Südamerika handfeste Empfehlungen für China gab, nicht nur aus Europa oder den USA. «Es geht nicht um den Westen contra China, auch wenn China versucht, es so darzustellen», sagt Raphael Viana David, der beim International Service for Human Rights für China zuständig ist.
Damit haben mindestens die Hälfte der beteiligten Staaten China zur Rechenschaft gezogen und so Massstäbe für ihre eigene Chinapolitik gesetzt. China ist nun aufgefordert, diese Empfehlungen anzunehmen oder abzulehnen – und dem Menschenrechtsrat darüber zu berichten. Eine Alibiübung für China, die kaum die Situation einer Bürgerjournalistin oder eines Hongkonger Demokratieaktivisten verbessern wird.