Freitag, Oktober 18

Die Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg sind nicht die ersten, die am Zürcher Schauspielhaus scheitern. Wie führt man ein Theater gut? Sechs Erkenntnisse erfolgreicher Intendanten.

Nicht nur grosse Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, sondern auch grosse Debakel: Halbleere Ränge, Abo-Kündigungen, 1,39 Millionen Franken Verlust waren seit Monaten Zeichen dafür, dass die Intendanz des Zürcher Schauspielhauses gescheitert ist. Es ist nicht das erste Mal, dass sich eine Theaterleitung an Zürich die Zähne ausbeisst. 2004 musste Christoph Marthaler den Posten im Streit räumen, 1992 Achim Benning. Und nun das Intendanten-Duo Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg.

Das wirft Fragen auf: Ist Zürich ein schwieriges Publikum? Was braucht es, damit Theater gelingen kann? Und vor allem: Wie macht man das überhaupt, ein Theater richtig führen? Vier Intendantinnen und Intendanten, die mehrfach ausgezeichnet wurden und Theatergeschichte geschrieben haben, sprechen über ihre Erkenntnisse. Eine Art Anleitung in sechs Punkten.

1. Das Zürcher Publikum ist schwierig, aber nicht unmöglich

Es gibt ein besseres Klima für Theater als das hiesige. «Zürich ist keine sinnliche Stadt, man darf nicht schwärmen», sagt der in Zürich aufgewachsene Regisseur Stefan Bachmann. Das Publikum habe künstlerische Experimente wiederholt an sich abprallen lassen: «Wenn ein Zürcher begeistert ist, sagt er: ‹Es isch no guet gsi.›» Trotzdem. Es gab immer wieder Zeiten, in denen Zürich im Theaterfieber entflammte. Etwa 1993 bis 1999, als Volker Hesse gemeinsam mit Stephan Müller das Neumarkt-Theater leitete und mit dem kleinen Haus Theatergeschichte schrieb. Hesse ist überzeugt: «Die Stadt hat ein mobilisierbares, neugieriges Publikum.» Das zeige sich etwa daran, wie gut Lesungen besucht seien, oder am Erfolg des Zürcher Balletts. «Es ist eine Stadt mit einer grossen Neugier, und die lässt sich aktivieren.» Offenbar braucht es dafür die richtigen Impulse. Das hängt von den Stücken ab, wie der nächste Punkt zeigt.

2. Es ist leicht, den Saal vollzukriegen. Dann wird es schwierig

Die Erkenntnis ist überraschend: «Es ist leicht, einen Saal vollzukriegen. Es gibt Stücke wie ‹Romeo und Julia›, ‹Kabale und Liebe› oder die ‹Dreigroschenoper›, die mit aller Wahrscheinlichkeit einen Saal füllen, wenn sie von einem Regisseur ‹poppig› inszeniert werden», sagt Karin Beier, mehrfach ausgezeichnete Intendantin des Deutschen Schauspielhauses Hamburg.

Sind die schwindenden Besucher, mit denen nach der Pandemie viele Theaterhäuser kämpfen, also bloss ein hausgemachtes Problem? So einfach ist es nicht. Denn: «Die Schwierigkeit besteht darin, einen Saal anspruchsvoll vollzukriegen», so Beier. Kommerzieller Erfolg und Exzellenz sind also die Pole, zwischen denen die Theaterhäuser schwanken. Eine Gratwanderung. Denn ein Haus, das dauerhaft Pop und verspielte Produktionen bietet, spielt irgendwann in derselben Liga wie «The Phantom of the Opera» – und es verkennt seine essenzielle Rolle: «Theater muss Vergangenheit erinnern und uns mit den grossen Menschheitsmythen verbinden», sagt Volker Hesse. Die Quadratur des Kreises liege darin, eine Mischung zu finden, die nicht wie ein Gemischtwarenladen wirke: «Ein Rezept gibt es nicht», sagt Karin Beier. Aber Anhaltspunkte, wann Theater gelingt. Diese führen direkt zur nächsten Erkenntnis.

3. Gutes Theater trägt die DNA seiner Stadt in sich

Als sich in den 1990er Jahren in Zürichs Teppichetagen der Menschentyp des Managers expansiv auszubreiten begann, konnte man bald darauf ebensolchen «Top Dogs» im Theater Neumarkt hautnah beim Scheitern zusehen. Nachdem 2009 in Köln das historische Archiv eingestürzt war, brachte 2010 die Intendantin Karin Beier «Ein Sturz» von Elfriede Jelinek auf die Bühne. Gutes Theater trägt die DNA seiner Stadt in sich. Oder wie Sonja Anders, Intendantin des Schauspiels Hannover, sagt: «Die Menschen wollen sich mit der Gegenwart auseinandersetzen, aber nicht auf einer Metaebene, sondern ganz konkret. Diese Tradition gab es schon bei Frisch oder Dürrenmatt.» Grosse Themen gibt es auch heute, angefangen mit der Frage nach der Schweizer Neutralität, über den Untergang der Credit Suisse, die Klimakleber auf der Hardbrücke bis hin zur Diaspora der Kosovo-Albaner. Man muss sie nur auf die Bühne holen.

4. Theater kann und soll reagieren

Das Theater mag eine der ältesten Kunstformen sein, aber sie ist bis heute die schnellste: Im November 2023 fand ein Geheimtreffen von AfD und Rechtsradikalen statt, um die Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund zu diskutieren. Im Januar 2024 gingen in Deutschland Hunderttausende Menschen auf die Strasse, um gegen Rechtsextremismus und Hetze zu demonstrieren. Schon am 17. Januar brachten das Berliner Ensemble und das Wiener Volkstheater die Protokolle des Geheimtreffens der AfD in einer szenischen Lesung auf die Bühne. Auch am Schauspiel Hannover wurde der Livestream kostenlos übertragen. Die Intendantin Sonja Anders sagt: «In Situationen wie diesen müssen wir einfach reagieren, weil die Menschen diese Ereignisse mit sich herumtragen. Und wir sind die letzten öffentlichen Orte in einer Stadt, wo man sich trifft und solche Dinge bespricht.» In öffentlichen Bewegungen wie den Antirassismus-Demonstrationen drücke sich die Stimmung der breiten Bevölkerung aus, sagt der einstige Neumarkt-Intendant Volker Hesse. «Darauf reagieren und sich an die Spitze solcher Bewegungen setzen, das kann Theater. Das hat das Schauspielhaus in meiner Wahrnehmung wenig geschafft.»

5. Politik darf nicht in die Kunst eingreifen

In den vergangenen Monaten sorgte das Thema «Diversity» am Zürcher Schauspielhaus für hitzigere Diskussionen als irgendeines der dort gespielten Stücke. Wie viel davon wurde von der Politik gefordert? Wie viel war Konzept der Intendanten? Das wirft die grundsätzliche Frage auf: Darf Politik Einfluss nehmen auf die Kunst? Kunstfreiheit ist einer der höchsten demokratischen Werte und gesetzlich verankert. Wenn die Politik in die künstlerische Arbeit eingreife, sei das «ein falsches Signal», sagte Ulrich Khuon, der das Schauspielhaus ab Sommer 2024 interimistisch leiten wird, in der NZZ.

Dennoch. Dass die Stadttheater gegenwärtig einen strukturellen Wandel vollziehen müssen, ist eine Tatsache. «Die politische Vorgabe zum Beispiel für ein modernes, diskursorientiertes Stadttheater finde ich legitim», sagt die Intendantin Sonja Anders. Die Frage ist: Wie setzt man das um? Das führt direkt zur nächsten Erkenntnis.

6. Dogmen machen unfrei

Dogmen haben in der Kunst genau einmal funktioniert. Als Lars von Trier Filme wie «Idioten» drehte. In den übrigen Fällen sind sie für die Entstehung von Kunst ungefähr so förderlich wie eine Monokultur für mehr Biodiversität. Als Intendantin sei man aufgrund von Political Correctness oder Cancel-Culture heute tatsächlich weniger frei als vor zwanzig Jahren, sagt Karin Beier. Das sei unschön, aber die Realität: «Gewisse Stoffe oder Figuren fasst man nicht mehr an, im Wissen, dass man bereit sein müsste, in eine heftige Diskussion einzusteigen.» Und wie sich eine starr ausgelegte Political Correctness auf das Publikum auswirkt, konnte man in Zürich erleben: «Wenn sich die Intendanz des Zürcher Schauspielhauses auf eine sehr bestimmte Szene kapriziert, erreicht sie dadurch zwar neue Zuschauerinnen und Zuschauer. Aber gleichzeitig vergrault sie viele traditionelle Bildungsbürger», sagt Beier.

Dabei kommt «Schauspiel» von «Spielen». Und Spielen war schon immer das Gegenteil von Ideologie. «Wir haben damals am Neumarkt gesagt: Wir sind ein heterodoxes Theater – alle Formen von Orthodoxie sind uns fremd», sagt Volker Hesse. «Nach einer wilden Schwulenparade von Tony Kushner haben wir den ‹Phaidon› von Platon gemacht, in dem zwei Menschen über den Tod nachdachten.» Denn Theater kann und soll ein Ort sein, wo sich Menschen mit verschiedenen Massstäben einfinden. In dieser Perspektive erscheint sogar der überstrapazierte Ausdruck der Diversität in einem neuen Licht. Oder wie es die Intendantin Sonja Anders auf den Punkt bringt: «Diversität heisst auch, die älteren Mitmenschen und die Jungen mitzunehmen. Und den Begriff der Marginalisierung nicht zu eng zu denken.»

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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