Donnerstag, Juni 5

Seine Oper über eine freiheitsliebende Frau, die sich den Wünschen und Gelüsten der Männer widersetzt, beherrscht bis heute alle Spielpläne. Doch derzeit werden viele frühere Werke Bizets aus dem Schatten dieses Welterfolgs hervorgeholt. Vieles lohnt sich.

In den Theaterstatistiken gehört «Carmen» alljährlich zu den meistgespielten Opern überhaupt, weltweit. Doch würde man ihren Komponisten kennen, wenn er kurz vor Vollendung des Stücks gestorben wäre? Die Spekulation ist statthaft. Georges Bizet starb vor 150 Jahren, am 3. Juni 1875, exakt drei Monate nach der Uraufführung von «Carmen» in Paris, mit gerade einmal 36 Jahren. Den Erfolg seiner Oper erlebte er nicht mehr, er stellte sich erst bei späteren Aufführungen ein.

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Neben dem Allzeit-Hit behaupten sich auf den Bühnen der Gegenwart allenfalls noch «Les pêcheurs de perles», nicht ganz in der ursprünglichen Form überliefert, dramaturgisch leicht windschief, aber dennoch magisch in den Atmosphären und zündenden Melodien. Es war die erste grosse Oper des damals 24-jährigen Bizet für Paris, aber kein durchschlagender Erfolg. Immerhin hatte er zuvor schon mehr Glück gehabt als andere: Bereits mit neun Jahren war er als Schüler ins Conservatoire seiner Heimatstadt aufgenommen worden, für die eigene kompositorische Entwicklung blieben ihm also gut 25 Jahre.

Falsche Selbsteinschätzung

An das, was in diesen Jahren, vor «Carmen», dennoch möglich war, erinnert man rund um den 150. Todestag derzeit in Paris, unter anderem mit einem besonderen Theaterabend, veranstaltet vom Palazzetto Bru Zane, einer Stiftung, die in den vergangenen Jahren viel vergessene französische Musik des 19. Jahrhunderts wieder hörbar gemacht hat. Unter der Regie von Pierre Lebon vereint man im Théâtre du Châtelet gleich zwei seltene Werke Bizets: die Schauspielmusik zu «L’Arlésienne» und «Le docteur Miracle», die erste öffentliche Talentprobe des 18-Jährigen. Das einstündige komische Öperchen verdankt seine Existenz einem Wettbewerb, den der Kollege Jacques Offenbach werbewirksam für sein Theater, die Bouffes-Parisiens, ausgeschrieben hatte.

Ein Soldat will darin eine Tochter aus höherem Hause heiraten, was ihm erst gelingt, nachdem er den Vater halb vergiftet und in der Verkleidung eines Wunderdoktors wieder geheilt hat. Am Textbuch war Ludovic Halévy beteiligt, der knapp zwanzig Jahre später gemeinsam mit Henri Meilhac auch das Libretto zu «Carmen» schreiben sollte. Wie in Paris zu erleben, funktioniert der Humor noch immer, auch wenn die Inszenierung, nicht untypisch für den französischen Komödienstil, die Sänger ziemlich outrieren lässt. Der junge Komponist beherrscht alle klassischen Topoi musikalischer Komik: die mechanisierte Wiederholung, das Missverhältnis zwischen Anlass und musikalischem Aufwand, am schönsten in einem Quartett, in dem es um nichts als den Verzehr eines Omeletts geht. Man kennt so etwas von Offenbach, auch von Rossini, der den jungen Bizet ebenfalls gefördert hat.

Dabei war Bizet keineswegs ein reiner Opernkomponist. Daran erinnert der Palazzetto Bru Zane in diesem Gedenkjahr mit einer Edition von vier CD im hauseigenen Label: Klaviermusik ist da zu hören, darunter die abgründigen «Variations chromatiques», Chöre mit und ohne Instrumentalbegleitung, Lieder – und jene Kantaten auf ziemlich staatstragende Texte, die Bizet für den Prix de Rome einreichte. Der Gewinn des prestigeträchtigen Preises im Jahr 1857 erlaubte ihm einen dreijährigen Aufenthalt in der Villa Medici in Rom, zur finanziell sorglosen Selbstvervollkommnung. Es ist die einzige längere Abwesenheit von Paris in Bizets kurzem Leben.

Bizet war ein exzellenter Pianist, der auch als Solist Karriere hätte machen können – aber es drängte ihn zur Oper. Überspitzt kommt das in der Selbstbeschreibung zum Ausdruck, die der Kollege Camille Saint-Saëns überliefert hat: «Ich bin einfach nicht gemacht für die Sinfonie. Ich brauche die Bühne, ohne sie kann ich überhaupt nichts.» Dass Bizet hier einer gründlichen Fehleinschätzung unterlag, zeigt nicht zuletzt seine eigene, klassizistisch ausgewogene C-Dur-Sinfonie, die er schon mit 17 Jahren geschrieben hatte; sie wurde aber erst achtzig Jahre später uraufgeführt.

Die für Bizets Selbstwahrnehmung so wichtige Oper ist damals – wie noch heute – das Genre, in dem ein Komponist von den meisten äusseren Faktoren abhängig ist, die er selbst kaum beeinflussen kann. Das beginnt mit den Textbüchern: «La jolie fille de Perth» etwa blieb ein dramaturgischer Verhau voller Unwahrscheinlichkeiten. Viele andere Projekte Bizets kamen nicht zum Abschluss: Mal ging ein Theater pleite, mal behinderte der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 die Realisierung.

Bei anderen hatte Bizet schlicht zu wenig Zeit und blieb hinter den eigenen Ansprüchen zurück, zumal er vom Komponieren sich selbst und später eine Familie ernähren musste (und dies immerhin auch konnte). Hinzu kommt in der Oper die Veränderung des Zeitgeschmacks: Der Einakter «Djamileh» etwa, enthalten ebenfalls in der Box des Palazzetto Bru Zane, ist atmosphärisch enorm suggestiv und steckt voller brillanter Instrumentationseffekte. Er wäre aber durch sein Frauenbild und den prägenden Exotismus eine arge Herausforderung für Gegenwartsregisseure.

Eine Schwester der Carmen

Wer eins dieser Stücke für die Bühne zurückgewinnen will, braucht Mut und Ideen, wie sie Pierre Lebon im Pariser Doppelabend bei der Musik zu «L’Arlésienne» zeigt. Das Schauspiel selbst war bei der Uraufführung 1872 ein solcher Reinfall, dass sich der Autor Alphonse Daudet danach auf den Roman zurückzog. Teile seiner Komposition konnte Bizet immerhin retten: Er machte eine Konzertsuite daraus, eine weitere erstellte später sein Freund und Kollege Ernest Guiraud, der auch Rezitative für die «Carmen» nachkomponierte.

Heute sind die «L’Arlésienne»-Suiten Bizets beliebtestes Orchesterwerk. Im Théâtre du Châtelet kann man die Musik mit dem Orchestre de Chambre de Paris unter Leitung von Sora Elisabeth Lee allerdings in ihrer originalen Gestalt hören: als Schauspielmusik für nur 26 Instrumente, darunter das damals noch neue Saxofon. Bizet legt sie als feines Gewebe – zumal in den Melodramen – unter die Sprache, auch ein Chor kommt zum Einsatz.

Für die in der Camargue spielende Handlung findet die Pariser Inszenierung eine sparsame, aber poetische Form. Vor einer Mühle, Symbol des ländlichen Frankreich, verkörpern drei Tänzer zentrale Figuren. Ziege, Bär und Pferde sagen einander gute Nacht, während der alte Hirt Balthazar, ein Schauspieler, die Geschichte erzählt: ein zartes Poem über die Jugend und das Alter, den ersten Sturm der Gefühle und einen lebensklugen Umgang mit ihnen. Man hört die Fähigkeit des 33-jährigen Bizet, Situationen und Figuren auf engstem Raum zu skizzieren, die Leidenschaft zumal des Protagonisten Frédéri, die das beschauliche Ambiente durchbricht, aus Liebe zu dem titelgebenden Mädchen aus der Stadt Arles.

Dass die besagte «Arlésienne» selbst nie auftritt, also reine Projektionsfläche für die Dorfbewohner bleibt, darf man eine originelle Idee von Alphonse Daudet nennen. Sie verblüfft in der historischen Rückschau noch mehr, weil die schwer greifbare, erotisch aber anscheinend faszinierende Frau eindeutig eine Schwester der Carmen ist. Und auch Frédéri erscheint bereits wie ein Bruder Don Josés, jenes Sergeanten vom Land, der drei Jahre später in Sevilla in zwielichtige Kreise geraten wird.

Was dann noch fehlt? Ein wirklich gutes Textbuch und das gewachsene Selbstbewusstsein eines Komponisten, selbst am Szenarium mitzuarbeiten und sich gleichzeitig genug Zeit für die Komposition zu nehmen. Bei «Carmen» sollte Bizet all das haben. Der Rest ist eine Erfolgsgeschichte, und sie dauert bis heute an.

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