Freitag, Oktober 4

Die Hürden für den Übertritt von der Schule in die Berufswelt sind für Menschen mit einer Beeinträchtigung hoch.

Milena Schmid ist auf den Rollstuhl angewiesen und wird wegen ihrer leicht schleppenden Sprechweise manchmal zu Unrecht nicht ganz für voll genommen. Ipek Kurtulus ist nahezu blind und musste ihre Lehrabschlussprüfung ohne die versprochenen Hilfsmittel schreiben. Es sind zwei selbstbewusste junge Frauen, die entschlossen sind, in der Arbeitswelt zu bestehen.

Vor dem Treffen wollen sie genauer wissen, was das Ziel des Artikels sei. Auf das Gespräch haben sie sich dann gut vorbereitet, geben präzis und offen Auskunft über ihre mitunter auch negativen Erfahrungen. Sie haben auf unterschiedliche Art ein Handicap und haben es doch geschafft, eine Berufsausbildung abzuschliessen.

Selbstverständlich ist das keineswegs. Zwar gilt der bildungspolitische Grundsatz «Kein Abschluss ohne Anschluss» für alle am Ende der Volksschule. Doch für junge Menschen mit einer Beeinträchtigung ist der Einstieg in die Arbeitswelt ungleich schwieriger. Die Zahl der Lehrabbrüche ist hoch.

Die Volksschule bietet für Kinder mit einer Beeinträchtigung an fünf Tagen in der Woche einen klar strukturierten Rahmen, der auch zusätzliche Unterstützung vorsieht. Mit der Berufsausbildung unterteilt sich der Alltag dagegen in den Betrieb und die Berufsschule, wo es oft an einem heilpädagogischen Angebot mangelt.

Auch wenn heute an der Oberstufe allgemein viel vorgekehrt wird für den Einstieg in die Arbeitswelt: Die Berufswahl ist am Ende Sache der Jugendlichen und ihrer Eltern. Mit einem Handicap ist das ein umso grösserer Schritt. Es fallen lebensbestimmende Entscheidungen: vor allem, ob man eine dreijährige Lehre antritt oder lediglich eine vereinfachte zweijährige Ausbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA), die frühere Anlehre.

Es geht auch um die Weichenstellung, wer im zweiten, geschützten Arbeitsmarkt tätig ist. Und wer den Weg in den ersten Arbeitsmarkt mit all seinen Anforderungen anstrebt, wie die beiden Protagonistinnen hier.

Milena Schmids Berufswunsch platzt

Die 29-jährige Milena Schmid hat seit dem 10. Lebensjahr eine seltene Krankheit, die ihre Koordinationsfähigkeit so stark beeinträchtigt, dass sie ausser Haus auf den Rollstuhl angewiesen ist. Sie absolvierte im Kanton Aargau die Bezirksschule, das entspricht im Kanton Zürich der Sekundarstufe A. Zunächst konnte sie sich ihren Berufswunsch als Lebensmitteltechnologin erfüllen und fand eine Lehrstelle in einer Grossbäckerei.

Dann verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand, sie wurde unsicherer auf den Beinen: «Ich bewegte mich zwischen Maschinen und musste an ihnen hantieren. Mit der Zeit wurde es einfach zu gefährlich», erzählt sie. Sie kam mit dem Betrieb überein, das Lehrverhältnis aufzulösen.

Milena Schmid meldete sich bei der IV an, die ihr einen Job-Coach zur Seite stellte. In einer Sozialfirma konnte sie eine, wie sie sagt, «halbgeschützte» KV-Lehre abschliessen, aber immerhin mit dem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ).

Das Angebot, danach im Betrieb auf einer Stelle im zweiten Arbeitsmarkt zu bleiben, schlug sie aus. «Erstens ist da der Lohn mickrig. Und arbeitet man einmal an einem geschützten Arbeitsplatz, wird es sehr schwierig, den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu finden», sagt sie. Es folgte ein Praktikum, das sie ebenso nicht verlängerte, weil sie den Eindruck erhielt, sie sei vor allem als billige Arbeitskraft gefragt.

Mit etwas Fürsprache ihrer Mutter fand sie eine Stelle in einem technischen Unternehmen, erst in der Buchhaltung, dann am Empfang, wo sie auch Rechnungen von Lieferanten verarbeitete. Dann wurde ihr Job allerdings durch die fortschreitende Digitalisierung überflüssig. Sie zog zu ihrem Freund nach Dielsdorf. Seit zwei Jahren hat sie keine feste Stelle mehr.

Ipek Kurtulus wird bevormundet

Die 23-jährige Ipek Kurtulus ist seit Geburt auf einem Auge blind, auf dem anderen ist die Sehkraft stark eingeschränkt. Sie beendete mithilfe einer unterstützenden Lehrkraft die Sekundarschule in einer Regelklasse. Eigentlich interessierte sie sich für die Modebranche. Mit ihrer Sehbeeinträchtigung sei eine Arbeit in diesem Bereich nicht möglich, hiess es.

«Ich konnte nicht selbst entscheiden. Als junge Person glaubt man, was einem die Erwachsenen sagen», sagt sie. Sie betont aber ebenso, sie habe immer die Unterstützung der Eltern gehabt und Lehrkräfte hätten dafür gekämpft, dass sie nicht in eine Schule für Sehbeeinträchtigte und Blinde geschickt worden sei. Auch die Kolleginnen und Kollegen hätten sie immer akzeptiert.

Ipek Kurtulus machte dann eine Ausbildung als Büroassistentin in einer Stiftung, allerdings nur mit EBA-Abschluss, wegen der Sehprobleme in der Schule. «Damals ahnte ich nicht, was das meiner Zukunft antun würde, welch grosser Stein mir in den Weg gelegt wurde.» Die Ausbildung sei deprimierend gewesen, sie habe als Einzige in ihrer Gruppe die Lehre abgeschlossen. Der EBA-Abschluss erwies sich als Stigma bei Bewerbungen.

Die Abschlussprüfung erlebte sie als Trauma. Obwohl sie ein Jahr vorher angeben musste, welche Hilfsmittel sie benötigte – A3-Vergrösserungen oder einen grossen Bildschirm –, stand am entscheidenden Tag wenig zur Verfügung. «Es war, wie wenn jemand anderes die Prüfung ohne Stift hätte schreiben müssen. Das werde ich nie vergessen.» Das Prüfungsblatt sei am Ende nass von Tränen gewesen. Trotz der schwierigen Situation bestand sie die Prüfung.

«Mit der richtigen Unterstützung wäre ich in der Lage gewesen, eine Ausbildung auf dem normalen Weg abzuschliessen», ist Ipek Kurtulus überzeugt. Vielleicht hätte es etwas länger gedauert. Als sich das Sehvermögen verschlechtert habe, habe sie sich beinahe den zweiten Arbeitsmarkt einreden lassen. Aber eine Stelle «ohne richtige Arbeit» sei nichts für sie.

Während neun Monaten absolvierte sie in Basel eine intensive Schulung für moderne Hilfsmittel am Computer wie die Sprachausgabe. Nach längerer Suche vermittelte die IV ihr eine befristete Stelle als Sachbearbeiterin.

Die Wissenschafterin ordnet ein

Die Geschichten von Milena Schmid und Ipek Kurtulus veranschaulichen die Hürden für Menschen mit Handicap beim Übertritt in die Berufsbildung. Dort ist der Unterricht weniger individualisiert, der Zeitdruck steigt, in der Arbeitswelt sind gute Fähigkeiten in Kommunikation und Multitasking gefragt.

Ziel der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren ist eine Abschlussquote von 95 Prozent in der Sekundarstufe II für alle Jugendlichen. Derzeit liegt die Schweiz bei 91 Prozent. Dieser Wert kann gerade mit der verbesserten Integration von Menschen mit einem Handicap erhöht werden. «Wir sind auf dem Weg, aber noch nicht da, wo wir sein wollen», stellt Claudia Schellenberg fest. Sie ist Professorin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (HfH) und befasst sich mit dem Übertritt von der Schule in das Arbeitsleben.

Primäre Aufgabe der Hochschule ist die Ausbildung von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sowie therapeutischen Fachpersonen in den Bereichen Logopädie und Psychomotorik. Sie unterhält auch eine Fachstelle berufliche Inklusion als Anlaufstelle für Lehrkräfte. Wichtig gerade für Menschen mit einem Handicap ist beim Übergang Schule-Beruf laut Schellenberg die Stärkung der überfachlichen Kompetenzen, wie im Lehrplan 21 vorgesehen. Ziel ist, einen zu Persönlichkeit und Fähigkeiten passenden Beruf zu finden.

Im internationalen Vergleich attestiert sie der Schweiz bei der beruflichen Integration eine gewisse Vorreiterfunktion. Zur dreijährigen Lehre EFZ und zum Attest EBA gibt es noch das Angebot einer niederschwelligen, praktischen Ausbildung für jene, die keinen Zugang zu einer Berufsausbildung und Lernschwierigkeiten haben.

Laut einer Studie der Hochschule verbessert sich aber die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen. Nach einer Ausbildung mit EBA absolvieren immerhin rund 40 Prozent später eine Lehre mit EFZ, und etwa 18 Prozent mit einer praktischen Ausbildung können noch ein EBA erwerben.

Etwa 20 Prozent aller Jugendlichen am Ende der Volksschule haben in irgendeiner Form ein Handicap. Die Vielfalt ist enorm, sie reicht von Lese- und Rechenschwächen wie Legasthenie und Dyskalkulie über verschiedene Beeinträchtigungen von Körper und Sinnen und chronische Krankheiten bis zu psychischen Problematiken wie ADHS, Depression, Angststörungen oder Schwierigkeiten im Sozialverhalten.

Vor allem zum letzten Punkt brauche es mehr Wissen, um Berührungsängste abzubauen, sagt Schellenberg: «Wie reagieren, wenn jemand Angstzustände hat? Spricht man die Person direkt an, oder tritt man dann zu nahe?» Das könne schon Unsicherheiten hervorrufen.

Der integrative Unterricht in einer Regelklasse wirkt sich laut einer weiteren Studie für den Übertritt in die spätere Ausbildung günstiger aus als der Besuch einer heilpädagogischen Schule. Die Selbsteinschätzung der Jugendlichen setze früh ein, so die Wissenschafterin. Wichtig sei eine realitätsnahe Vorstellung der Berufswahl. Manchmal hätten Jugendliche, oder ihre Eltern, zu hohe Erwartungen.

Jede Lehrperson sei gefordert, so zu unterrichten, dass alle Lernfortschritte machen könnten und für den Einstieg in die Berufswelt gut vorbereitet seien, betont Schellenberg. Die Schweiz hat die Uno-Konvention über die Rechte Behinderter unterzeichnet, die auch ein Recht auf Arbeit umfasst. Im Berufsbildungsgesetz des Bundes ist die Integration von Menschen mit Beeinträchtigung mehrfach erwähnt.

In einem neuen Forschungsprojekt bis 2027 legt die HfH laut Schellenberg nun einen Schwerpunkt auf den Erfolg begleitender Massnahmen in der betrieblichen Ausbildung des ersten Arbeitsmarktes. Anhand von 15 ausgewählten Unternehmen werden die Bedürfnisse aller Beteiligten erhoben, von den Jugendlichen, ihren Ausbildnern und Job-Coachs sowie von Fachpersonen.

«Es liegt in der Verantwortung der ganzen Gesellschaft, dass alle eine Chance erhalten», sagt Claudia Schellenberg. Der Blick sollte nicht nur auf das Handicap, sondern auf das individuelle Potenzial und die Stärken gerichtet werden: «Jeder Mensch mit einer Beeinträchtigung in der Arbeitswelt ist ein Gewinn für die Gesellschaft.»

Lippenbekenntnisse und echte Hilfe

Milena Schmid und Ipek Kurtulus wollen diesen Weg gehen. Sonderschulen und geschützte Arbeitsplätze seien wichtig, denn es gebe Menschen, die im Arbeitsleben nicht bestehen könnten. Aber sie wünschen sich mehr Verständnis und Unterstützung für jene, die wie sie keinen grösseren Wunsch hegen, als eine ganz normale Stelle zu erhalten. Sie kennen das Gefühl, nicht am richtigen Ort zu sein.

Seit sie 14 Jahre alt gewesen sei, sei über ihren Kopf hinweg entschieden worden, sagt Ipek Kurtulus. Daran müsse sich etwas ändern: «Fachpersonen treffen rasch Entscheidungen, welche die Zukunft der Betroffenen stark bestimmen. Das ist ausgrenzend», stellt sie aufgrund ihrer Erfahrungen fest. Die beinahe blinde Frau ist Muslimin und zeigt das nach aussen. Für sie gebe es noch ein anderes Hindernis, sagt sie. Aber wenn für eine Bewerbung ihr Kopftuch ein Problem sei, dann wolle sie diese Stelle gar nicht.

Milena Schmid ortet das Kernproblem in den Unternehmen. Oft herrschten Vorurteile vor und die Angst, jemanden mit einem Handicap einzustellen, sagt sie. Die Koordinationsprobleme durch ihre Krankheit äussern sich auch dadurch, dass sie leicht schleppend spricht. Einige hätten dann den Eindruck, sie sei im Kopf nicht ganz beieinander, sagt sie selbst. Im Gespräch realisiert man dagegen sofort, dass ihre Gedanken sehr klar sind.

Kennengelernt haben sich die beiden Frauen 2022, als sie mit anderen das Projekt «handicaps@work» leiteten, eine Informationsoffensive mit Videoclips für die Integration in die Arbeitswelt. Sie hätten viel investiert, auch einiges bewirkt, aber leider nicht so viel wie erwartet, so fassen sie ihre Erfahrungen zusammen.

In den Interviews hätten sich die Vertreter der Firmen offen gegeben. Aber es habe nach vorbereiteten Antworten getönt. Sie hätten sich Mühe gegeben, aber vor allem um gut dazustehen. «Viele Arbeitgeber reden nur, aber handeln nicht» lautet ihr bitteres Fazit.

Das Projekt «handicaps@work» lief Ende 2023 aus. Milena Schmid ist immer noch auf der Suche nach einer Teilzeitstelle in der Administration oder am Empfang. Dass der verbreitete Personalmangel Chancen eröffne, davon merke sie wenig.

Für Ipek Kurtulus öffnete sich eine Tür. Sie konnte an einer Veranstaltung zum Thema Beeinträchtigung und Arbeitswelt einen Vortrag halten. Sie habe da sehr offen über die Schwierigkeiten gesprochen, erzählt sie. Dann habe ihr ehemaliger Vorgesetzter die Versammlung aufgefordert, doch gleich vor Ort für sie eine Stelle zu finden.

Es funktionierte. Ab Juni hat sie eine normale Anstellung als kaufmännische Allrounderin. Dass am Ende Vitamin B nötig gewesen sei, sei etwas schade, sagt sie, aber ohne gehe es vielleicht nicht: «Nach fünf Jahren Kampf habe ich meine erste unbefristete Stelle im ersten Arbeitsmarkt. Für mich ist das ein Riesenerfolg.»

Ein Jubiläum und zwei Jahrestage

sho. 1924 öffnete in Zürich das Heilpädagogische Seminar seine Tore. 2001 ging daraus die erste pädagogische Hochschule der Schweiz überhaupt mit heute 1300 Studierenden hervor. 13 Kantone der Deutschschweiz und das Fürstentum Liechtenstein bilden die Trägerschaft der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik am Berninaplatz. Zum runden Geburtstag startete sie eine Kampagne mit Videoclips und Plakaten: «Teilhabe ist, wenn . . .».

Das Jubiläum fällt zusammen mit dem 10. Jahrestag, seit die Schweiz die Uno-Konvention über die Rechte Behinderter unterzeichnete. Aus diesem Anlass finden bis Mitte Juni Nationale Aktionstage Behindertenrechte mit rund 1000 Veranstaltungen in der ganzen Schweiz statt, davon allein 150 im Kanton Zürich. Ausserdem ist es 20 Jahre her, dass das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes in Kraft trat.

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