Dienstag, September 2

Der Historiker Andreas Rödder sieht sowohl die linke Identitätspolitik als auch die rechtspopulistische Gegenbewegung als Gefahr für die liberale Demokratie. Trotzdem ist er für Europa vorsichtig optimistisch.

Herr Rödder, Sie sprachen kürzlich an einem Anlass des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik in Luzern von der «Überforderung der liberalen Demokratie». Was meinen Sie damit?

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Die liberale Demokratie im klassischen Sinne des Begriffs folgt wenigen Prinzipien: der Mehrheitsherrschaft, dem Minderheitenschutz, der Rechtsstaatlichkeit, dem friedlichen Regierungswechsel und damit auch dem Vorhandensein von politischen Alternativen und einer vitalen politischen Öffentlichkeit. In vielen westlichen Gesellschaften, vor allem in Europa, wurden diese Prinzipien nach 1990 inhaltlich immer stärker ausgedehnt, moralisch aufgeladen und dadurch überspannt. Zugespitzt kann man sagen, dass sich in den Augen vieler Linker die Qualität der liberalen Demokratie an der Anzahl Queer-Klubs pro Quadratkilometer misst. Oder am Verbrennerverbot. Der Begriff «liberale Demokratie» wurde normativ derart überzogen, dass dies eine Gegenbewegung lostrat, die ihrerseits problematisch ist und mit dem Wesenskern einer liberalen Demokratie nicht viel zu tun hat.

Wenn auf privater Basis Queer-Klubs entstehen, so kann doch kein Liberaler etwas dagegen haben.

Stimmt, das fällt unter Toleranz. Aber was die Queer-Bewegung heute fordert, zum Beispiel, dass die Regenbogenflagge auf dem Reichstag in Berlin gehisst wird, ist nicht mehr Toleranz, sondern Bekenntnis. Das ist ein entscheidender Unterschied: Aus einer Emanzipationsbewegung für bestimmte Lebensformen ist ein Modell für die staatliche Umgestaltung der Gesellschaft geworden. Diese Überspannung ist das Problem, nicht die Toleranz, die dem Ganzen zugrunde liegt.

Blasen Sie da nicht ein Randphänomen auf?

Wenn an einer führenden deutschen Universität eine Biologin ihren Vortrag über zwei biologische Geschlechter nicht halten darf, weil das dem Diversitätskonzept der Universität widerspricht, so reden wir nicht mehr von einem Randphänomen: Man will die normativen Haltungen innerhalb der Gesellschaft verändern und implementiert dies über das Bildungssystem.

Was hat das nun mit der «Überforderung der liberalen Demokratie» zu tun?

Woke Vorstellungen beanspruchen in vielen wichtigen Bereichen die Deutungshoheit über Richtig und Falsch: bei Migration und Integration, bei Geschlecht und Sexualität, bei Energie und Klima. Dies hat sich gerade in Deutschland in erheblichem Ausmass niedergeschlagen, etwa beim Atomausstieg, in der Energiewende, in der Migrationspolitik, im Gleichstellungsgesetz. Sie können sagen, es sei ein normaler Vorgang, wenn eine gesellschaftliche Strömung die kulturelle Hegemonie gewinnt. Dann darf man aber auch nicht delegitimieren, dass es eine Gegenbewegung gibt, die nun massiv in die andere Richtung geht. Wir erleben nun in vielen Gesellschaften einen starken Pendelschlag nach rechts, von Trump über Orban bis zur AfD.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban bekennt sich zur «illiberalen Demokratie». Auch die gegenwärtige amerikanische Regierung wird mit diesem Begriff in Verbindung gebracht. Was bedeutet das überhaupt?

Wir müssen aufpassen: Der Begriff «liberal» hat verschiedene Bedeutungen. Wenn Sie in Deutschland oder in der Schweiz liberal sind, so bedeutet das, für wenig staatliche Einschränkungen zu stehen, für eine wirtschaftsfreundliche Politik, also für ein freisinniges Denken. In den USA hingegen ist damit das Spektrum zwischen linksliberal und woke gemeint, also links aussen. Als ich in Ungarn Orbans Bekenntnis zur illiberalen Demokratie kritisiert habe, sagte man mir: «Moment, damit ist nur der amerikanische Sinn des Wortes gemeint, wir wehren uns gegen die überspannte links-woke Haltung.» Das ist freilich nur die Hälfte der Wahrheit. Illiberal oder antiliberal heisst im wörtlichen Sinne natürlich auch, die Grundlagen der liberalen Demokratie infrage zu stellen, also Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit und eine vitale Öffentlichkeit – also jene Dinge, die man gegen links und rechts verteidigen muss.

Sie sagten bei Ihrem Vortrag, die Überspannung der liberalen Demokratie habe auch Auswirkungen auf die Stellung des Westens bei den derzeitigen geopolitischen Konflikten. Können Sie das erklären?

Zunächst einmal handelt es sich bei dieser Überspannung um ein internationales Phänomen. Der Ursprung liegt in der postmodernen philosophischen Revolution der 1970er und der 1980er Jahre, als Foucault und Derrida befanden, dass die ganze Macht in der Sprache liege. So begann man an den Unis, bürgerliche Ordnungsvorstellungen durch Sprache zu dekonstruieren: die Geschlechter, die Nation, die Idee des Westens überhaupt. Letzterer wurde nicht mehr mit Freiheit und Wohlstand in Verbindung gebracht, sondern mit Diskriminierung und Zerstörung. Dies sickerte von den Hörsälen in die Gesellschaften und in die Politik ein und schwächte das Selbstbewusstsein der westlichen Gesellschaften. Auch die Gegenbewegung war von Anfang an international, ob mit der FPÖ in Österreich, Jean-Marie Le Pen in Frankreich, Berlusconi in Italien oder der AfD in Deutschland. Gerade die rechtspopulistischen Bewegungen gefallen sich heute oft darin, eine Putin-freundliche Politik zu machen.

Woher kommt diese Sympathie für Russland?

Es geht um die Abgrenzung von der liberalen Demokratie im überzogenen Sinne, also von der ganzen Wokeness-Ideologie, die mit einer antiwestlichen Attitüde allgemein einhergeht. Sosehr auch ich die woken Exzesse kritisiere: Dass dies auf das Konto von Wladimir Putin einzahlt, ist ein kühner intellektueller Move. Daher kann man auch innerhalb der Rechten eine Spaltung beobachten: zwischen den westlich Orientierten, zum Beispiel Giorgia Meloni, und den Putin-Freundlichen, zu denen ein beträchtlicher Teil der AfD gehört.

Interessant ist, dass diese antiwestliche Attitüde vor noch nicht allzu langer Zeit eine Domäne der Linken war: die Nato-Skepsis, die Kritik am «US-Imperialismus» usw.

Nicht nur. Es gab immer auch den kulturkonservativen Antiamerikanismus. Dieser ging in Deutschland nach 1945 aber deutlich zurück, weil die Konservativen entweder an den Rand gedrängt wurden oder in der CDU aufgingen, die in der Westorientierung eine historische Mission sah. Die transatlantische Ausrichtung der CDU unter Adenauer und Kohl war für die deutsche Rechte ein Game-Changer. Zu meiner Überraschung zeigt sich nun, dass sie nicht so tief verankert war, wie ich es aufgrund der Geschichte der Bundesrepublik erwartet hätte. Doch nicht nur die Rechten, auch die Linken sind in der Russlandfrage gespalten. Das Bündnis Sahra Wagenknecht in Deutschland ist sehr russlandfreundlich, während die Grünen plötzlich westlich orientiert und für Aufrüstung sind. Wir haben es mit neuen Konstellationen von Konfliktlagen zu tun.

Sie sprechen der Finanzkrise von 2008 eine wichtige Rolle für die vertrackte Situation zu: Das neoliberale Paradigma habe damals Schiffbruch erlitten, was den Siegeszug des woken Paradigmas ermöglicht habe.

Der Neoliberalismus geriet durch den Bankenkollaps in eine schwere Glaubwürdigkeitskrise, nachdem er zwanzig Jahre lang dominiert hatte. In dieses Vakuum stiess tatsächlich das postmoderne Wokeness-Paradigma. Wobei sich die beiden Seiten nicht immer ausschliessen, wenn man zum Beispiel die Allianz von Kapitalismus und Feminismus bei der Frage um die Ausweitung von Kinderbetreuung sieht. Oder wenn sich Firmen für Diversität und queere Anliegen starkmachten.

Ein Linker würde wohl entgegnen, der Neoliberalismus habe gar nicht verloren, wir lebten nach wie vor in einer vom Kapitalismus beherrschten Welt.

Natürlich ist der Kapitalismus nicht verschwunden, gerade in den USA mit seinem digitalisierten Finanzmarktkapitalismus. Dennoch hat man sich durch die Weltfinanzkrise vielerorts vom Paradigma des Neoliberalismus verabschiedet, der den Staat zugunsten des Marktes zurückdrängen wollte. Die 2010er Jahre waren vor allem in Europa durch enorme Regulierungen und Staatswachstum gekennzeichnet. Wenn Sie den Green Deal anschauen, die vielen Compliance-Regelungen oder das Lieferkettengesetz, so hat das mit einem Neoliberalismus eines Milton Friedman nichts mehr zu tun. Der Staat als umgestaltende Kraft hat massiv an Bedeutung gewonnen.

Heute leben wir geopolitisch wieder in einer gefährlichen Zeit. Wie konnte es dazu kommen?

Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es im Westen zwei Denkfehler. Erstens hat man nicht erkannt, dass der Konflikt über die normative Ordnung zwischen Ost und West weiterbesteht, wenn auch in veränderter Form. Zweitens war man überzeugt, dass sich gemäss der Erzählung vom «Ende der Geschichte» die westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nun weltweit verbreite. Man übersah, dass die Russen überhaupt nicht einverstanden waren mit der neuen Ordnung. Was Wladimir Putin «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» genannt hat, nämlich den Untergang der Sowjetunion und damit der russischen Machtposition, hat Gorbatschow schon 1990 nicht akzeptiert. Man hat es im Westen nur nicht sehen wollen. Und damit kommen wir zur zweiten Überdehnung der liberalen Demokratie: dass man gemeint hat, dem «Ende der Geschichte» mit Demokratieexport nachhelfen zu müssen.

Sie meinen die «Freedom Agenda» von George W. Bush, deren Ziel es offiziell war, Demokratie und Freiheit weltweit zu fördern?

Ja. Die Glaubwürdigkeit der liberalen Ordnung und der USA als Hegemonialmacht wurde durch den Irakkrieg von 2003 und andere Interventionen massiv beschädigt. Dann kam 2008 die Weltfinanzkrise, die den Glauben an liberalisierte Marktwirtschaften zerstörte. Das hat die liberale Demokratie geschwächt.

Nach dem Ende der Sowjetunion suchten viele ehemalige Ostblockländer Anschluss beim Westen. Hätten die Nato und die EU zurückhaltender sein sollen mit der Aufnahme solcher Länder?

Das würde ich nicht sagen. Der Westen stand 1990 vor einem Dilemma. Einerseits sollte er den Sicherheitsbedürfnissen der postkommunistischen Staaten entsprechen, die sich allesamt gegen Russland richteten, andererseits sollte er Russland mit seinen Grossmachtansprüchen berücksichtigen. Dieses Dilemma liess sich nicht auflösen. Die Art und Weise, wie die EU und die Nato die baltischen Staaten, Polen und andere postkommunistische Staaten durch den Beitritt auf ihrem Weg zu Demokratie, Wohlstand und Sicherheit unterstützt haben, werte ich als grosse Erfolgsgeschichte. Den Preis dafür aber bezahlen die Staaten in der Grauzone, vor allem die Ukraine.

Was genau hätte man besser machen können, um den Ukraine-Krieg möglicherweise verhindern zu können?

Am Gipfel von Bukarest von 2008 versprach die Nato der Ukraine und Georgien den Beitritt, ohne konkrete Schritte zu vereinbaren. Das Problem war: Die USA waren für den Beitritt, Angela Merkel dagegen. Beide hatten gute Gründe, ich möchte keine Schuldzuweisungen vornehmen – auch wenn Merkel immer noch dabei ist, sich zu rechtfertigen. Der Kompromiss von Bukarest erwies sich als schlechtestmögliche Variante: Dadurch, dass man der Ukraine und Georgien einen Beitritt versprach, hat man Putin maximal provoziert, zugleich hatte der Westen keine Strategie, die zwei Länder zu schützen. Diese labile Situation erwies sich als Falle.

2014 annektierte Russland die Krim. Abgesehen von ein paar Sanktionen liess man ihn einfach gewähren. Hätte der Westen da schon viel stärker reagieren sollen?

Man hat die völkerrechtswidrige Annektierung den eigenen energiepolitischen und wirtschaftlichen Interessen untergeordnet. Das gilt vor allem für Deutschland. Die Deutschen sind ja Grossmeister darin, zu sagen, es gebe keine deutschen, sondern nur europäische Interessen. Damals folgte man aber knallhart den nationalen ökonomischen Egoismen. Nichts anderes war Nord Stream 2, nichts anderes war auch die Exportstrategie gegenüber China.

Eine harte Aussage. Jedes Land muss seinen Interessen folgen, dazu gehört eine kostengünstige Energieversorgung.

Doch die billige Energie aus Russland hatte sicherheitspolitisch einen sehr hohen Preis, und das hat man immer gewusst. Es gibt eine alte deutsche Attitüde, zu meinen, man könne mit Russland Deals abschliessen, unter Umgehung der Staaten dazwischen. Auch heute wird immer wieder einmal von «unserem Nachbarn Russland» geredet, als ob es bestimmte Staaten in Europa nicht gäbe.

Sie stellen Europa und vor allem Deutschland ein schlechtes Zeugnis aus. Die Frage lautet: Hat der Kontinent die Kraft, bei einem Rückzug der Schutzmacht USA auf eigenen Beinen zu stehen?

Zurzeit hat er die Kraft weder wirtschaftlich noch militärisch. Aber die ersten Wochen der Regierung Merz zeigen, wie sehr es auf Personen und den Willen zu politischer Führung ankommt. Auch symbolische Handlungen sind wichtig. Der Besuch von Starmer, Merz, Macron und Tusk in der Ukraine oder die Armada der gesamten wichtigen europäischen Führer im Weissen Haus dokumentieren eine Form von europäischer Agency, die wir noch vor einem Jahr für völlig unmöglich gehalten hätten. Natürlich gibt es noch sehr viel Luft nach oben. Aber als Historiker sage ich: 1938 war Grossbritannien nicht kriegsfähig, hat dann aber massiv aufgerüstet und den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Die politischen Dinge sind weniger in Stein gemeisselt, als wir aus der konkreten Anschauung glauben.

Andreas Rödder ist Professor für neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Denkfabrik Republik 21 für neue bürgerliche Politik.

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