Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen hat ein Pamphlet gegen Putin und für die Frauen geschrieben.
Bunte Dreadlocks, auffällige Kleider, starkes Make-up – Sofi Oksanen ist eine unübersehbare Erscheinung. Vor allem aber ist sie Finnlands erfolgreichste Romanautorin. Seit sie schreibt, warnt sie auch. Vor Russland, vor Putin, vor dem Krieg, den sie prophezeite und der nun seit zwei Jahren wütet. Oksanen hat Jahrgang 1977, die Mutter ist Estin, der Vater Finne; man lebte in Finnland und sommerte im sowjetisch besetzten Estland. Eine Kindheit an der Trennlinie zwischen West und Ost. «Bis 2022 nannte man mich eine hysterische Estin», sagt Oksanen. Doch die Gegenwart hat ihr Recht gegeben. Mit «Putins Krieg gegen die Frauen» hat sie nun eine Brandschrift gegen Russland geschrieben, die gerade auf Deutsch übersetzt worden ist. Ein Essay über 300 Seiten, schnörkellos und wütend.
In Ihrem Buch versuchen Sie, Europa die Augen zu öffnen. Etwa dafür, dass Russland eine langjährige Kolonialmacht sei und auch bleiben wolle.
In der westlichen Vorstellung werden Imperialismus und Kolonialismus mit den Überseeexpeditionen der europäischen Mächte und der USA in Verbindung gebracht. Sie gehören jedoch auch zum Wesen Russlands. Dieses Land hat nie aufgehört, sich auf seine Nachbarn ausdehnen zu wollen.
Ebenso schreiben Sie, der Westen verkenne, dass Putin vor allem einen Krieg gegen die Frauen führe. Warum dieser geschlechtsspezifische Fokus?
Hand an die Mütter, Ehefrauen und Schwestern der gegnerischen Soldaten und Befehlshaber zu legen, hat in Russland als Kriegstaktik Tradition. Sexuelle Gewalt ist das am meisten vernachlässigte Kriegsverbrechen. So will man ganze Gemeinschaften über Generationen brechen. Was Russland macht, geht nahe an den Genozid.
Laut der Uno-Konvention besteht bei einem Genozid die Absicht, direkt oder indirekt «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören». Ist, was Russland in der Ukraine vorhat, ein Genozid?
Man will die Fundamente einer Gesellschaft untergraben, um eine Gruppe von Menschen auszulöschen. Das ist der Versuch eines Genozids, ja. Aus Untersuchungen früherer Völkermorde geht hervor, dass Vergewaltigungen dafür ein wichtiges Instrument sind. Und in Regionen, in denen Frauenfeindlichkeit weit verbreitet ist und Gewalt im Allgemeinen eher akzeptiert wird, kann sexuelle Gewalt erfolgreich als Waffe eingesetzt werden.
Die fehlende Gleichstellung der Geschlechter ist für Russland also ein Kriegsvorteil?
Ja, denn die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine sind eng mit dem gesellschaftlichen Klima in Russland verknüpft. Dort wurden in den letzten Jahren sowohl die Rechte der sexuellen Minderheiten als auch die der Frauen erheblich beschnitten. Je weniger Rechte sexuelle Minderheiten haben, desto weniger Rechte haben auch Frauen; und desto leichter ist die Gewalt gegen sie zu rechtfertigen. Frauenrechte gelten in Russland heute als verwerfliche westliche Importware.
Sie schreiben: «In so einer Welt ist es völlig normal, dass ein Soldat die Wohnung einer Ukrainerin betritt, ihren Kleiderschrank durchwühlt und seine Freundin anruft, um sie nach ihrer Körbchengrösse zu fragen.» Auch russische Frauen sind also Teil des Problems?
Viele russische Frauen, davon berichten abgehörte Telefongespräche aus dem ukrainischen Kriegsgebiet, zeigten sich einverstanden damit, dass ihre Männer ukrainische Frauen vergewaltigen.
Während Vergewaltigung als Kriegswaffe in Russland historisch verankert ist und als selbstverständlich erscheint, begann man bei uns erst mit dem Krieg in der Ukraine vertiefter darüber zu sprechen. Woher kommt diese Diskrepanz zwischen West und Ost?
Frauen und Männer benutzen im Krieg nicht die gleiche Sprache. Eine Frau sagt: Ich wurde von einem Soldaten vergewaltigt. Ein Mann sagt: Ich wurde gefoltert. Weil männliche Stimmen im Krieg mehr Raum bekommen, bedeutet das erstens, dass sexuelle Gewalt oft nicht als solche benannt wird. Darum wurde die Vergewaltigung als Kriegswaffe im Westen kaum thematisiert. Und es führt zweitens dazu, dass der Kampf dagegen vor allem ein weiblicher Kampf ist. Denn eine Opfergruppe – die Männer – kommt im Diskurs gar nicht vor. Stattdessen sind die Männer in dieser Diskussion stets Täter.
Sexuelle Gewalt wird auch darum angewendet, weil sie ihre Opfer beschämt. Auch Scham kann ein mächtiges Instrument sein.
Eine Kriegsverletzung kann jemanden zum Helden machen. Aber die Stigmatisierung von Vergewaltigungsopfern will niemand. Das spielt Russland in die Hände: Wenn sich die Opfer für das schämen, was ihnen widerfahren ist, fangen sie an, sich selbst infrage zu stellen. Das ist typisch für Opfer von sexuellem Missbrauch, unabhängig von ihrem Geschlecht. Und es führt dazu, dass der Fokus gar nicht erst auf den Tätern liegt.
In Russland scheint die Täterrolle kaum reflektiert zu werden. Die Erzählung vom Grossen Vaterländischen Krieg beginnt auch erst 1941 – also mit Hitlers Russlandfeldzug. Und nicht davor, als Russland und Nazi-Deutschland verbündet waren.
Sie sprechen vom Mythos der russischen Unschuld – Russlands Kernproblem. Egal, was Russland tut, es bleibt immer unschuldig. Putins Regime nutzt diesen «Engelskomplex» sehr geschickt, auch für sexuelle Kriegsverbrechen: Die Schuld daran wird auf die Opfer abgewälzt. Und weil Vergewaltigung als Kriegswaffe in der Öffentlichkeit als ein Frauenproblem angesehen wird, führt es vor allem dazu, dass die Frauen verstummen. Auch das spielt Putin in die Hände.
Warum versucht Russland so gezielt, gerade die Frauen klein zu halten?
Die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen. Und diese Hälfte könnte über viel mehr Macht verfügen, als sie das derzeit tut. Würden die Frauen in Russland ihre Macht beanspruchen, wäre das revolutionär. Das würde die Machtstrukturen verändern, das würde die Gesellschaft verändern, das Wertesystem, alles. In einer Welt, in der die Macht, wirtschaftlich und politisch, in den Händen von Männern ist, liegt grosses Potenzial bei den Frauen.
Dieses Potenzial hat die Ukraine spätestens mit dem Euromaidan zu nutzen begonnen.
Die Ukraine hatte nach ihrer Unabhängigkeit ein Problem mit Oligarchen und Korruption; Geld und Macht waren in Männerhand, genau wie in Russland. Dann wuchsen diese feministischen Ideen, ohne dass Russland wirklich darauf geachtet hat. Während der Maidan-Revolution wurde deutlich, dass die Frauen an Selbstbewusstsein gewonnen haben. Heute sind sehr viele Frauen aktiv in der Politik, der Wirtschaft und auch in der Armee. Sie erbringen den Beweis dafür, dass sich ein postsowjetisches Land aus eigenem Antrieb reformieren kann. Das gefällt Putin nicht.
Könnte der Feminismus also zur Waffe gegen Putin werden?
Alle Diktaturen haben Angst vor Frauen. Darum macht es für Russland gerade so viel Sinn, sich mit anderen autoritären Herrschern und Diktaturen zu verbünden. Ihre Macht basiert auf der Ohnmacht der Frauen. Bekommen diese aber die Möglichkeit, eine neue Generation zu erziehen, die anders denkt, wird das die Zukunft des gesamten Landes verändern.
Aber gerade in patriarchalen Gesellschaften sind es ja seit vielen Generationen die Frauen, die die Kinder erziehen. Und sie erziehen keine neue, revolutionäre Generation.
Genau wie in Nazi-Deutschland, genau wie in allen totalitären Regimen, werden Frauen als Mütter gepriesen. Dieses System ist auch schwer zu ändern, weil die Frauen, die in diesem System hochgehalten werden, kein Interesse daran haben, es zu ändern. Weil sie ihre Privilegien nicht verlieren wollen. Alles, was sie getan haben – Kinder grossziehen, zu Hause bleiben, sich unterordnen –, wird wertlos. Auch Frauen können von einem patriarchalen System profitieren. Aber das heisst nicht, dass es Frauen darum weniger unterdrückt.
In einem Land ein so frauenfeindliches und kriegsfreundliches Klima aufzubauen, geschieht nicht über Nacht. Dennoch war man im Westen überrascht vom Kriegsausbruch.
Ich bin mir sicher: Hätten europäische Medien auf die Frauenfeindlichkeit der russischen Führung so scharf reagiert wie beispielsweise auf Donald Trumps Reden oder die Abtreibungsgesetze in den Vereinigten Staaten, wäre dem Westen viel früher klar geworden, welche Ziele Russland verfolgt.
Es wurde schon über Frauenrechte in Russland berichtet. Vor allem in Zusammenhang mit der Aktivistinnengruppe Pussy Riot.
Ja, vor zehn Jahren, da sorgte die Inhaftierung ihrer Mitglieder weltweit für Schlagzeilen. Da war das Interesse des Westens an den feministischen Ideen der Russinnen tatsächlich für einen kurzen Moment geweckt. Aber das ging dann vorbei.
Dabei sind es in Europa vor allem Linke, die sich für feministische Themen interessieren und eine Faszination für Russland haben – oder hatten.
Ja, aber die Frauen, die sich einst so sehr für die Gleichberechtigung in der Sowjetunion interessierten, haben mit dem Zusammenbruch der UdSSR ihr Interesse an der Region völlig verloren. Die historische Perspektive ging vergessen.
Sie haben bereits vor mehr als 15 Jahren vor Russland und Putin gewarnt. Damals hat niemand auf Sie gehört. Nun gibt die Gegenwart Ihnen Recht. Was erwarten Sie zukünftig von Russland?
Russland wartet geduldig darauf, dass Europa und die USA es satthaben, die Ukraine zu unterstützen. Und im Moment sieht es so aus, als könnte sich das auszahlen. Denn die westlichen Länder haben damals die Sowjetunion und heute Russland noch immer nicht verstanden.
Was ist das grösste Missverständnis des Westens in Bezug auf Russland?
Egal ob es einen neuen Präsidenten gibt oder Russland den Krieg sogar verliert: Die Grundidee des russischen Machtsystems bleibt, weil das russische Volk das so will. Es will den Mythos der eigenen ewigen und unumstösslichen Unschuld nicht entlarven, denn er ist seit Jahrzehnten und für Generationen identitätsstiftend. Dieser Kreislauf könnte nur durchbrochen werden, wenn sich das russische Selbstverständnis verändert. Nur dann verschieben sich die Machtverhältnisse.
Wenn zum Beispiel Soldaten, die im Krieg vergewaltigt haben, zu Hause nicht mehr als Helden gelten?
Ja, aber auf diesen Prozess hat der Westen keinen Einfluss. Er muss von innen kommen. Und ich glaube nicht, dass das russische Volk daran interessiert ist.
Sofi Oksanen: Putins Krieg gegen die Frauen. Aus dem Finnischen von Angela Plöger und Maximilian Murmann; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 336 Seiten, ca. Fr. 35.