Montag, Januar 13

Man weiss zu wenig über Flöhe, aber das dürfte sich jetzt ändern: Der Literaturwissenschafter Ulrich Stadler hat dem so faszinierenden wie lästigen Parasiten ein schönes Buch gewidmet.

Ein Floh kann monatelang ohne Nahrung auskommen. Aber wenn er dann einen warmblütigen Wirt wittert, ist er nicht mehr zu halten. Dies und vieles andere mehr lernt man in Ulrich Stadlers Buch «Der ewige Verschwinder». Stadler, eigentlich Literaturwissenschafter, viele Jahre Professor an der Universität Zürich, avanciert damit zum führenden Floh-Experten des 21. Jahrhunderts.

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Er widmet der klitzekleinen Kreatur – nur die Käsemilbe ist noch kleiner – eine grosse kulturgeschichtliche Untersuchung. 300 Jahre Floh-Geschichte, zudem Rückblicke in die Geschichte des Flohs im Altertum. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hat Stadler keine Stelle übersehen, wo von einem Floh die Rede ist. Und er hat tief gewühlt, das Literaturverzeichnis ist siebzehn Seiten lang, dort tauchen Namen auf, die kaum jemand kennt, vor allem natürlich reihenweise Floh- und Insektenforscher.

Robert Hooke zum Beispiel, Mitglied der Royal Society of London, dessen Buch «Micrographia» 1655 erschienen ist. Hooke porträtiert den Floh nicht nur als «starkes», sondern auch als «schönes» Lebewesen. Das Buch bezeichnet eine Wende in der Floh-Kunde. Hooke vergrössert den Floh ums 120-Fache, macht ihn zum Hamster, zum Grössten und Schönsten.

Alle haben ihren Floh

Wie viele seiner Zeitgenossen ist Hooke fasziniert von der Sprungkraft des Flohs, vom aussergewöhnlichen Zusammenwirken der drei Beinpaare, vom Rüssel, mit dem er das menschliche Blut saugt. Die Floh-Begeisterung ist zu seiner Zeit so verbreitet, dass sich für das Mikroskop die Bezeichnung «vitrum puliciarum» einbürgert – Floh-Glas.

Hookes Betrachtungen begünstigen den medizinischen Fortschritt. Es erscheinen weitere Studien, die jedoch herausfinden, dass der Floh keineswegs «schön», sondern gefährlich ist. Es sind die Flöhe, die einen Prozess der massenhaften Ansteckung in Gang setzen können. Sie waren es möglicherweise auch, die Pestepidemien auslösten. Denn sie befallen Ratten, und wenn diese krank werden und sterben, verlassen die Flöhe ihre toten Wirte und springen auf den Menschen über.

Es ist beeindruckend, was Stadler alles zusammengetragen hat. Besonders im 18. Jahrhundert ist der Floh oft Gegenstand literarischer und lyrischer Texte. Als Schmarotzer, der zum Menschen gehört. Einige der damaligen Autoren gehen so weit, Mensch und Floh in eins zu setzen. Der soziale Status eines Menschen korrespondiert sozusagen mit seinem Floh.

Jagd im Décolleté

Einfältige Menschen ziehen dumme, aufgeweckte ziehen intelligente Flöhe an. Der Floh dient als Projektionsfläche. Einmal tritt er sogar als politischer Akteur auf. 1720 erscheint von einem unbekannten Autor das Büchlein «Der belobte Floh». Es kehrt die Hierarchie der Tiere um. Nicht mehr der Löwe steht an der Spitze, der Floh ist der wahre König. Die Schrift ist ein Pamphlet gegen die französische Grossmachtpolitik, sie identifiziert die deutschen Kleinstaaten mit dem kleinen Geschöpf.

Nicht nur in Büchern, sondern auch auf Kupferstichen und Gemälden erscheint der Floh als Träger sexueller Phantasien. Erotische «Floh-Jagden» werden veranstaltet. Die männliche Phantasie sucht das Tier im Décolleté und im Schritt. In einem Fall fordert eine liebestolle Frau, der offenbar ein Floh zu schaffen macht, den zögernden Mann auf, sie von dieser Last zu befreien. Das ist allerdings die Ausnahme. Meist wünschen sich Männer, ein Floh zu sein.

Seinen Namen trägt das Tierchen wohl, weil die Stammmutter aller Menschen, Eva, eines zwischen ihren Fingern zerdrücken wollte, aber dieses floh. So wird es wenigstens vereinzelt behauptet. Und so viel daran ist richtig: Fliegen und Flöhe haben nicht nur den Anfangsbuchstaben gemein, Stadler nennt sie «Fliehkünstler ersten Ranges».

So hoch wie der Kölner Dom

Ulrich Stadler hat den Floh erschöpfend untersucht. Aber seine Forschungen werfen weitergehende Fragen auf: Was kompensiert der Floh-Enthusiasmus im 17. und 18. Jahrhundert? Warum projizieren die Menschen ihr Begehren ausgerechnet in dieses kaum sichtbare Tier hinein, in dieses «Fast-Nichts»?

Stadler darf man durchaus einen stillen Floh-Bewunderer nennen. Die «mirakulöse Sprungkraft» des Tieres, sagt er, sei beeindruckend. Der Floh könne das 750-Fache seiner Beinlänge hoch und das 1500-Fache weit springen. Wenn der Mensch mit seiner Körpergrösse dasselbe leisten wollte wie der Floh mit seiner, dann müsste er mit einem Satz den Dom zu Köln überspringen können.

Heute haben Hygiene und Gift dem Floh den Garaus gemacht. Gleichwohl gibt es noch immer etwa 2000 Arten. Der Floh überlebt als Metapher und Spitzname. Stadler denkt an einen Dribbelkünstler und Weltfussballer, an Lionel Messi, auch «La Pulga» genannt: der Floh. Zwei schöne Thesen bleiben hängen, nachdem man das Buch gelesen hat: dass auch Geringes bedeutungsvoll sein kann. Und dass fliehende, eigentlich als Verlierer geltende Lebewesen oft über ihre Verfolger triumphieren.

Ulrich Stadler: Der ewige Verschwinder. Eine Kulturgeschichte des Flohs. Schwabe-Verlag, Basel 2024, 308 S., Fr. 38.–.

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