Montag, August 18

Immigration verändert die europäischen Gesellschaften in einem atemberaubenden Tempo. Während die einen die neue kulturelle Buntheit begrüssen, weckt sie bei anderen starke Ängste.

Es gilt, realistisch zu sein – mit dem Meister in Goethes «Zauberlehrling», der mit Schrecken erkennt: «Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.» Die meisten der Migranten, die in den vergangenen Jahrzehnten gerufen und ungerufen den Weg nach Europa gefunden haben, sind gekommen, um zu bleiben, und abgesehen von wenigen Einzelfällen und ausser in Fällen von schwerer Kriminalität droht ihnen auch keine Abschiebung.

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Die demografische Entwicklung Europas ist eindeutig und konstant negativ. Die Geburtenraten sinken, die alteingesessene autochthone Bevölkerung schrumpft, die Alten werden immer älter, die Babyboomer gehen in Rente, aus Fachkräftemangel wird Arbeitskräftemangel, die Wirtschaft stagniert.

Mit der Integration der Einwanderer zumal aus dem Süden tut sich Europa schwerer als das klassische Einwanderungsland USA. Aus dem «Schmelztiegel» ist dort längst eine allgemein akzeptierte «Salatschüssel» geworden, oft mit ethnischen und sprachlichen Parallelgesellschaften. Auch wenn Präsident Trump gerade versucht, illegale Einwanderer auszuweisen, zeigen gerade die amerikanischen Erfahrungen, dass eine selektive Einwanderungspolitik schwer durchzuhalten ist.

Integration als Daueraufgabe

Schon bei den riesigen Migrantenströmen des 19. Jahrhunderts waren bestimmte Nationen alles andere als willkommen. Mafiosi aus Italien, Sozialisten aus Deutschland, verarmte Iren und später auch Juden waren suspekt, und Chinesen waren von 1882 bis 1943 per Gesetz ganz ausgeschlossen.

Vor allem durch massiven Zustrom von Asylbewerbern sind inzwischen die meisten Länder Westeuropas bei einer Ausländerquote von zwischen 15 und 20 Prozent angekommen. Angesichts nicht zu übersehender Integrationsprobleme hat sich das politische Klima in Deutschland von anfänglich allgemeiner und oft auch privater Hilfsbereitschaft aus Angst vor Überfremdung und Kriminalität deutlich abgekühlt und die Optik nach rechts verschoben.

Mittel- und langfristig besteht die Herausforderung für die europäischen Staaten darin, den Übergang von einer historisch stark homogenen zu einer multikulturellen Gesellschaft in Frieden und Freiheit zu schaffen. Wie sehr dabei Integration und soziale Balance eine Daueraufgabe sind, zeigt das Beispiel der multiethnischen, multilingualen und multireligiösen Gesellschaft des Stadtstaates Singapur.

Als Singapur 1965 unerwartet von der Malaysischen Föderation in die Unabhängigkeit gestossen wurde, stand neben dem wirtschaftlichen Überleben vor allem die Frage im Raum, wie die dominierende chinesische Mehrheit mit den malaiischen und indischen Minderheiten in Frieden auskommen könne. Denn in den sechziger Jahren kam es mehrmals zu Rassenunruhen zwischen Chinesen und Malaien mit Toten und Verletzten.

Singapur beschloss damals bewusst, eine multiethnische Gesellschaft aufzubauen, die allen Gruppen gleichermassen faire Chancen bieten sollte. Ein nationales Gelöbnis, das schon in den Schulen jeden Morgen gemeinsam rezitiert wird, beginnt mit der Formel: «Wir, die Bürger Singapurs, geloben vereint, zusammenzustehen, unabhängig von Rasse, Sprache und Religion.» Die sprachliche Vielfalt wurde auf Malaiisch, Mandarin, Tamil und Englisch als Verwaltungssprachen reduziert, amtliche Dokumente sind viersprachig.

Das war für die chinesische Mehrheit ein massiver Einschnitt, weil viele auch in der dritten oder vierten Generation noch chinesische Dialekte sprachen und sich kaum untereinander verständigen konnten. Lee Kuan Yew, der erste Ministerpräsident, der so gut Englisch sprach wie seinen Dialekt, ging mit gutem Beispiel voran. Er lernte Mandarin und Malaiisch und konnte seine Reden in allen drei Sprachen halten. Insgesamt hat sich Englisch als Umgangssprache weitgehend durchgesetzt, bei vielen auch mit einem «Singlish» genannten Unterton.

Der Inselstaat wird in diesem Monat sechzig Jahre alt und feierte am Unabhängigkeitstag, dem 9. August, seine wirtschaftlichen Erfolge und seine multikulturelle Integration. Deshalb dürfte Singapur auch für Europa Anschauungsmaterial und Anregungen liefern, um von den ideologischen Grabenkämpfen gegen oder für Multikulti wegzukommen und zu einer zielführenden Debatte zu finden. Denn ein Zurück zu ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaften wird es nicht geben.

Drei Säulen

In der illiberalen Demokratie Singapur war von Anfang an klar, dass der Zusammenhalt einer multikulturellen Gesellschaft gefördert und immer wieder nachjustiert werden muss. Zu den drei Säulen gehören Gesetze und Sanktionen gegen Missbrauch sowie Leitlinien für die Gleichberechtigung aller Gruppen in der Praxis. Dazu kommen klar definierte Integrationsinstrumente im Verwaltungsvollzug sowie die Förderung gemeinschaftsbildender zivilgesellschaftlicher Aktivitäten.

Im Februar hat das Parlament diese Instrumente zusammengefasst und als Maintenance of Racial Harmony Bill verabschiedet. Rassismus und Hetze sind im Strafgesetz klar definiert und werden von den Gerichten entsprechend mit Sanktionen belegt. Ein prominenter Fall erregte kürzlich Aufsehen: Ein chinesischer Singapurer warf auf einer Einkaufsstrasse in der Innenstadt einem gemischten Pärchen vor, dass die Liaison zwischen einem Inder und einer Chinesin eine Schande sei. Der Mann wurde zu fünf Wochen Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt und verlor seinen Job als Dozent.

Die Gesellschaft wird derweil immer offener, die Zahl ethnischer Mischehen hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr als verdreifacht. Doch die Mehrheit der Eheschliessungen bleibt innerhalb der ethnischen Gruppierung.

Im religiösen Bereich ist Prävention besonders wichtig, weil die malaiische Minderheit ausnahmslos muslimisch ist und so die Konflikte im Nahen Osten intensiver wahrnimmt als andere Gruppen. Auch wegen der Islamisierungstendenzen in der regionalen Nachbarschaft nimmt die Politik dieses Thema besonders ernst. Im Kabinett wird es durch einen Minister für muslimische Angelegenheiten vertreten.

Die Selbstradikalisierung von muslimischen Jugendlichen im Internet hat mehrfach Alarm und Verhaftungen ausgelöst, aggressiven Predigern aus dem Ausland wird die Einreise verweigert. Interreligiöse Kontakte werden dagegen gefördert, die Geistlichen der zahlreichen in Singapur praktizierten Religionen kommen regelmässig zusammen und organisieren Begegnungsprogramme mit ihren Gemeinden. Ethnische Enklaven wurden durch Quotierung vermieden. Eine beim Präsidenten angesiedelte Kommission überprüft alle neuen Gesetze darauf, ob sie diskriminieren könnten oder Minderheitenrechte verletzen.

Mit der People’s Association (PA) unterstützt die Regierung massiv die sogenannte Graswurzelarbeit, die sozialen Zusammenhalt und ethnische Harmonie fördert und als Bindeglied zwischen der Regierung und der Bevölkerung dient. Die Aktivitäten der PA in rund 2000 Graswurzelorganisationen und über 100 Community-Clubs erreichen einen grossen Teil der Bevölkerung dort, wo es am bequemsten ist: in der Nähe ihrer Wohnung. Damit bieten sie den Parlamentariern, die ohnehin durch wöchentliche Bürgersprechstunden nah am Puls ihrer Wähler sind, einen Austausch in beide Richtungen.

Völlig «farbenblind» ist die Singapurer Bevölkerung trotzdem nicht. Teilweise stammen die Ressentiments noch aus der Kolonialzeit, als die Briten chinesische und indische Arbeiter ins Land holten, weil sie die Malaien zu schwerer körperlicher Arbeit in den Plantagen und Zinnminen Malaysias für ungeeignet hielten. Es gibt auch immer wieder neue Vorurteile, die hinter vorgehaltener Hand kommuniziert werden. Nur wehe, wenn solche Bemerkungen an die Öffentlichkeit geraten, dann schreiten Polizei und Justiz ein.

Aus historischen und administrativen Gründen hält Singapur an der Klassifizierung seiner Bürger als chinesisch, malaiisch, indisch und andere (Eurasier und Europäer) fest. So steht es auch im Personalausweis. Das klingt rassistischer, als es ist, denn gerade auf den verschiedenen Interaktionsebenen der Gruppen wird deutlich, dass religiöse und kulturelle Werte und Gewohnheiten weit schwerer wiegen als die ethnische Abstammung.

Gemeinsam essen

Wo trifft sich das Singapurer Völkergemisch am meisten und am intensivsten? Bunt geht es eigentlich fast immer zu, im Kindergarten und in der Schule, am Arbeitsplatz und im Supermarkt, im Wohnumfeld, im Sport, im Nachtleben, im Wehrdienst und in Bussen und Bahnen. Aber der mit Abstand grösste gemeinsame Nenner entsteht täglich beim Essen. In Restaurants und Food-Courts mit zahlreichen Garküchen finden sich alle Köstlichkeiten und Geschmacksvarianten Asiens in riesiger Auswahl, einschliesslich aller chinesischen Regionalküchen. Die Spezialitäten ganz Südostasiens und aus dem Rest der Welt kommen hinzu, erstaunlicherweise auch Fast Food. Die enorme kulinarische Vielfalt und Verfügbarkeit auf kleinem Raum dürfte weltweit einmalig sein.

In immer komplexeren Gesellschaften wie jener Singapurs geht es um die Begegnung zwischen Mensch und Mensch, möglichst ohne Berührungsangst und Vorurteile. Durch die Ghettobildung, die Überforderung der Gemeinden und die daraus erwachsenen Spannungen auf beiden Seiten hapert es leider gerade damit in Europa. Singapur zeigt, wie ein umfassendes Integrationskonzept hilft, die notwendigen Massnahmen zu planen und umzusetzen. Es zeigt auch, dass Wohnen und Arbeiten allein für eine wirkliche Integration nicht ausreichen, sondern dass Kultur und Religion einbezogen werden müssen.

Im Multikulturalismus liegt auch Europas absehbare Zukunft. Das setzt voraus, dass die Politik das Problem der Integration von Arbeit- und Asylsuchenden in seiner Tiefendimension erkennt und einen starken Willen zur Gestaltung entwickelt, wie er in Singapur sichtbar wird. Allerdings besitzt die autoritäre Führung des Stadtstaates repressive Mittel zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen, die europäischen Demokratien nicht zur Verfügung stehen. Die Mehrzahl der westeuropäischen Staaten steht in Bezug auf ein regelbasiertes gedeihliches multikulturelles Zusammenleben vor einem umfassenden Kraftakt, der nicht durch parteipolitische Grabenkämpfe sabotiert werden darf.

Wolfgang Sachsenröder lebt als Politikberater in Singapur und forscht und publiziert über Parteien in Südostasien.

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