Deutsche Politiker verkaufen das AKW-Aus am ersten Jahrestag als Erfolg. Sie erzählen allerdings nicht die ganze Geschichte.

Vor genau einem Jahr schaltete Deutschland seine letzten drei verbliebenen Atommeiler ab, und glaubt man Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen, dann war diese Entscheidung ein voller Erfolg. Zum Jahrestag des Atomausstiegs nahm er ein Kurzvideo auf: Habeck steht vor dem Ministerium, im weissen Hemd, das Jackett offen. Man möge ihm eine Minute geben, um einige Fakten klarzustellen, sagt er.

Punkt für Punkt arbeitet Habeck durch, warum Deutschland auch ohne Kernkraftwerke gut dasteht. Zum Schluss nennt er den Atomausstieg «ein Gemeinschaftswerk» aller Parteien in Deutschland. Habeck zählt zuerst Union, FDP und Sozialdemokraten auf, erst ganz zum Schluss die Grünen. Den Atomausstieg haben wir alle beschlossen, lautet die Botschaft, und in erster Linie die anderen. Wozu also noch streiten?

Schützenhilfe bekam Habeck von Bundesumweltministerin und Parteikollegin Steffi Lemke. Sie beklagte am Freitag eine «zunehmende Diskrepanz» zu den eigentlichen Fakten in der Atomkraftdebatte. Kernkraftwerke würden mittlerweile als «energiepolitische Heilsbringer» dargestellt. Sie erlebe eine zunehmend «realitätsferne Mythenbildung». Die Frage ist allerdings, für wen das gilt, für die Grünen oder ihre Kritiker.

Die vier Mythen über den Atomausstieg:

1. Es geht vor allem um die Versorgungssicherheit

Das ist Habecks zentrales Argument. Die Versorgungssicherheit, sagt der Minister gleich zu Beginn in seinem Video, sei auch ohne Atommeiler gesichert, und zwar «24 Stunden, rund um die Uhr, das ganze Jahr». Allerdings geht es Kritikern des Atomausstiegs nicht hauptsächlich um die Versorgungssicherheit. Die spielte vor allem auf dem Höhepunkt der Energiekrise eine Rolle. Damals drohte Frankreich als Stromlieferant für Deutschland auszufallen, worauf etwa der Bundestagsabgeordnete und Fachsprecher der CDU für Energiepolitik Mark Helfrich hinwies.

Ein Grossteil der französischen Atomreaktoren stand damals still. Einige wurden turnusgemäss gewartet, bei anderen hatte sich diese Wartung wegen der Corona-Pandemie verzögert. Deutschland musste dem Nachbarland also selbst aushelfen und es mit Strom beliefern. In einer solchen Lage Atomkraftwerke abzuschalten, wäre riskant gewesen. Zuletzt hat der Bundesrechnungshof im März die Versorgungssicherheit infrage gestellt. Es ging der Behörde allerdings um die Versorgung mit klimafreundlichem Strom.

Sollte die Bundesregierung beim ambitionierten Kohleausstieg bleiben und der Ausbau der Erneuerbaren und der Gas-Reservekraftwerke weiter stocken, dann werde es eng. Strom kann Deutschland auch so genug erzeugen. Es muss dazu nur weiter Kohle verbrennen.

2. Deutschland hat konkurrenzfähige Strompreise

Befürworter des Atomausstiegs weisen immer wieder darauf hin, dass die Strompreise gesunken seien. Das tut auch Habeck in seinem Video. Er spricht von einem Rückgang von «40 Prozent im Grosshandel». Mag sein, dass Habeck sich auf die Preise am Terminmarkt bezieht. Denn die sind tatsächlich im Vergleich zum vergangenen Jahr um 42 Prozent gesunken. Allerdings liegen sie immer noch deutlich über dem Vorkrisenniveau von 2018 bis 2020.

Habeck verschweigt zudem, dass die Strompreise insbesondere für die Industrie noch immer weit höher liegen als zu früheren Zeiten. Im Dezember schätzte das Institut der deutschen Wirtschaft, dass energieintensive Betriebe wie Eisengiessereien im Jahr 2023 7,9 Cent pro Kilowattstunde Strom bezahlen mussten. In den USA waren es 5,7 Cent, in China 4,1. Andere Firmen haben es noch schwerer. Autohersteller zum Beispiel mussten 2023 dreimal so viel für ihren Strom bezahlen wie in den USA und immer noch doppelt so viel wie in China. Im Jahr 2019 sah das noch anders aus. Da waren die Preise auf ähnlichem Niveau.

Habeck verschweigt ausserdem, dass viele Experten in Zukunft mit steigenden Strompreisen rechnen, je weiter die Energiewende voranschreitet. Darauf wies jüngst die Ökonomin Veronika Grimm in einer Studie hin. Sie verwies auf die Gesamtkosten eines erneuerbaren Stromsystems. Dazu zählten eben nicht allein Windräder oder Solardächer. Sondern etwa auch Reservekraftwerke, die bei Flaute und bewölktem Himmel einspringen müssten. All das macht laut Grimm den Strom teurer. Zudem wird allein der Netzausbau laut dem Netzentwicklungsplan noch mehr als 200 Milliarden Euro kosten. Diese Kosten werden am Ende entweder auf den Verbraucher umgelegt oder vom Staat getragen. Das Energiesystem bleibt aber teuer.

Wenn ein Staat Kernkraftwerke betreibt, kann er einige dieser Systemkosten vermeiden. Er muss dann weniger Reservekraftwerke bauen und die Netze etwas weniger stark ausbauen. Im Gegenzug fallen andere Kosten an, etwa hohe Baukosten oder Kosten für die Endlagerung des Atomabfalls. Trotzdem ging der französische Netzbetreiber RTE im Jahr 2021 davon aus, dass ein Stromsystem mit 50 Prozent Atomstrom Frankreich rund 17 Milliarden Euro pro Jahr weniger kosten wird als eines, das ausschliesslich auf Erneuerbare setzt.

Nun hat Frankreich seine Atomreaktoren nicht stillgelegt wie Deutschland. Die Rechnung lässt sich also nicht einfach so auf das Land übertragen. Aber auch eine Studie im Journal «Nature Energy» kam im Jahr 2022 zu dem Schluss, dass sich Atomreaktoren rechnen, wenn ein Staat bereits weit fortgeschritten ist auf dem Weg zur Klimaneutralität. Diese Rechnung galt ausdrücklich auch für Deutschland.

3. Der deutsche Strom ist sauber

Habeck wies in seinem Video darauf hin, dass Deutschland in Sachen Emissionsminderung schon viel erreicht habe. Die Emissionen im Stromsektor seien gesunken, «und zwar um minus 20 Prozent». Zudem werde in Deutschland «so wenig Kohle verstromt wie seit Jahrzehnten nicht mehr». Beide Zahlen beziehen sich mutmasslich auf die Bilanz von Agora Energiewende für das Jahr 2023. Die Lobbyorganisation sieht darin allerdings überwiegend keinen «klimapolitischen Erfolg». Die Gründe dafür sind laut Agora Energiewende, dass die Industrieproduktion eingebrochen sei und die Stromimporte gestiegen seien. Habecks Erfolg ist also in Wahrheit keiner. Hinzu kommt: Im internationalen Vergleich steht Deutschland schlecht da. Über das ganze Jahr 2023 gerechnet, war unter Deutschlands Nachbarländern Strom nur in Tschechien oder Polen schmutziger.

Die meisten anderen Länder hatten eine deutlich klimaschonendere Bilanz, insbesondere Länder mit Atommeilern, wie etwa Frankreich.

4. Atomkraftwerke sind eine Hochrisikotechnologie

Bundesumweltministerin Lemke sagte am Freitag, es handele sich bei der Atomkraft «um eine Hochrisikotechnologie». Deutschland sei mit Abschaltung seiner Meiler «sicherer» geworden. Es stimmt, Atomunfälle können katastrophale Folgen haben, wie sich vor allem 1986 in Tschernobyl zeigte. Betrachtet man allerdings nur die Zahlen, sieht es anders aus. Die Website «Our World in Data» hat einmal ausgerechnet, wie viele Menschen im Schnitt durch unterschiedliche Kraftwerke sterben. Die Todesrate bei einer Terawattstunde Strom aus einem Braunkohlekraftwerk beträgt 32,7. Die von Steinkohle liegt bei 24,6 pro Terawattstunde. Denn diese Kraftwerke lösen Atemwegserkrankungen aus, an denen jedes Jahr Tausende Menschen vorzeitig sterben. Die Atomkraft liegt bei 0,03 Todesfällen pro Terawattstunde Strom, alle Atomunfälle auf der Welt zusammengerechnet.

Fazit: Wäre Deutschland nicht aus der Atomkraft ausgestiegen und hätte es die Erneuerbaren im gleichen Tempo ausgebaut, hätte es heute eine weitaus bessere Klimabilanz. Folgt man Experten wie Grimm, hätte es noch dazu günstigeren Strom. Selbstverständlich können Habeck und seine Parteifreunde den Atomausstieg weiter gutheissen. Sie sollten ihn aber nicht als überwältigenden Erfolg verkaufen.

Exit mobile version