Montag, September 30

Der Westen muss das Verhältnis zu Russland weiterdenken. Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, ist die Konfrontation mit dem Land keineswegs vorbei.

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine prägt auch nach über zweieinhalb Jahren die Debatte über die europäische Sicherheit – wie könnte es auch anders sein.

Putin hat im Februar 2022 eine rote Linie überschritten und die europäische Sicherheitsordnung offen herausgefordert. Zentrale Grundprinzipien dieser Ordnung sind die Unverletztlichkeit von Grenzen zwischen souveränen Nationalstaaten und das Verbot des Angriffskriegs.

Russland ist sogar über den Angriffskrieg hinausgegangen und betreibt einen Eroberungskrieg, bei dem es um die Annexion des Territoriums eines anderen Landes geht. Erklärtes Kriegsziel ist das Ende der Existenz einer unabhängigen ukrainischen Nation und eines souveränen ukrainischen Staates.

Damit attackiert Russland die Grundlagen, auf denen Europas Sicherheit, Prosperität und Freiheit beruht – eine Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa aufgebaut wurde und nach dem Ende des Kalten Kriegs vom Osten des Kontinents übernommen wurde, mit der Nato und der EU als den zentralen Pfeilern.

Der Krieg verändert das Verhältnis Europas zu Russland radikal. Die Idee einer engen Partnerschaft, die seit dem Ende des Kalten Krieges die Russlandpolitik des Westens prägte, ist offenkundig gescheitert. Eine kohärente neue Russlandpolitik gibt es noch nicht. Einstweilen hat sich Europa unter der Führung Washingtons auf einen doppelten Ansatz geeinigt: Unterstützung der Ukraine und Sanktionen gegen Russland.

Wie wird sich die Beziehung mit Russland in den nächsten Jahren unter diesen Voraussetzungen entwickeln? Vier Szenarien sind denkbar: ein direkter Konflikt mit Russland, dauerhafte Spannungen, Modus Vivendi und ein Regimewechsel in Russland. Der Zeithorizont ist das Jahr 2030, also eine mittelfristige Zukunft.

1. Offener Konflikt mit Russland

Dieses Szenario ist das unwahrscheinlichste, zugleich aber enorm wichtig für die Gegenwart – weil es diejenige mögliche Zukunft beschreibt, die das gegenwärtige Handeln unbedingt verhindern muss.

Russland rüstet erheblich auf, investiert massiv in seine Streitkräfte, und es wird dabei von einer Reihe von Partnern unterstützt: von China insbesondere mit Dual-Use-Gütern, vom Iran mit Drohnen und ballistischen Raketen, von Nordkorea mit Munition und anderen kriegswichtigen Gütern.

Zugleich hat Putin immer wieder deutlich gemacht, dass es ihm nicht nur um die Ukraine geht, sondern um eine dominante Position in Ost- und Ostmitteleuropa.

Ein frontaler Angriff durch Russland ist dabei die unwahrscheinlichste Variante. Im Bereich des Möglichen hingegen ist die Provokation eines Zwischenfalls, hierfür bietet sich das Baltikum an. Russland könnte unter dem Vorwand, ethnische Russen zu schützen, einmarschieren. Es würde damit die Nato-Staaten zwingen, entweder militärisch zu antworten oder durch Nichthandeln die Ungültigkeit des Nato-Schutzversprechens offenzulegen – und damit die europäische Sicherheit zu schwächen. Perspektivisch würde das weitere Gelegenheiten für Russland eröffnen.

Moskau könnte diesen Schritt gehen, wenn es dazu durch westliche Schwäche – oder deren Anschein – provoziert wird. Uneinigkeit im Westen und eine neue Russlandpolitik, etwa nach einem Waffenstillstand in der Ukraine, die auf neue Angebote an Moskau setzt, könnten als Schwäche verstanden werden.

Wie sich dieses Szenario weiterentwickeln könnte, würde von der Reaktion des Westens abhängen. Entschlossene, schnelle Gegenwehr könnte den Konflikt eindämmen, ihn auf dem Niveau eines «Zwischenfalls» halten. Ein längeres Zögern würde es Russland hingegen erlauben, einen Keil in die Allianz zu treiben – zwischen den Ländern im Osten und Norden Europas, die entschlossen sind, die russische Expansion auch zu einem hohen Preis zu stoppen, und jenen Ländern, die auf einen machtpolitischen Kompromiss mit Russland setzen.

2. Dauerhafte Spannungen

Ein zweites Szenario für die nächsten Jahre wäre die Fortsetzung von Spannungen auf dem gegenwärtigen Niveau. Russland attackiert die Ukraine weiter, es gibt Perioden der verstärkten Kriegsführung und der Beruhigung, eventuell in Form eines Waffenstillstands. Beide Seiten sehen aber weiterhin die Chance, den Krieg für sich zu entscheiden. Weshalb sie nicht aufgeben.

Zugleich verdoppelt Russland seine hybride Kriegsführung gegen den Westen, mit Desinformation und Propaganda sowie mit gelegentlichen Attacken, die verschleiert werden. Gegenüber Georgien und der Moldau übt es einen besonders hohen Druck aus, die schleichende Annexion von Weissrussland führt es fort.

Der Westen bleibt zögerlich in seiner Unterstützung der Ukraine: Er gibt genug, damit die Ukraine nicht aufgibt und Russland weiterhin widerstehen kann, aber zu wenig, damit sie den Krieg für sich entscheiden kann.

3. Ein neuer Modus Vivendi

Möglich ist, dass sich der Westen ganz hinter die Ukraine stellt. Im Anschluss an einen Waffenstillstand würde die Ukraine vom Westen militärisch so gesichert, dass es aussichtslos für Russland wäre, den Krieg weiterzuführen.

Der Westen baut die ukrainischen Streitkräfte auf und liefert, was nötig ist. Weil die Ukraine nun verlässliche Sicherheitsgarantien besitzt, kommen Investoren ins Land, Flüchtlinge kehren zurück, die Ukraine erholt sich. Zugleich werden Georgien und die Moldau gegen eine russische Übernahme geschützt.

Damit verliert Russland die militärische Option in seiner westlichen Nachbarschaft. Es kann zwar weiter hybride Operationen betreiben, wird aber abgeschreckt, weil der Westen seine Streitkräfte stärkt und sich den Ländern der Region als verlässlicher Partner anbietet.

Zwischen Russland und dem Westen bestehen Spannungen weiter. Doch die klare Grenzziehung erlaubt es dem Westen auch, Russland Angebote zu machen – ohne damit die klare Position im Bereich Sicherheit und Verteidigung zu kompromittieren.

4. Regimewechsel in Russland

Das vierte Szenario ist wenig wahrscheinlich. Ein Nachfolger Putins würde vermutlich seinen Kurs weiterführen. Allerdings ist unklar, ob er bald eine ähnliche Machtfülle haben würde und das Land so effektiv kontrollieren könnte wie Putin. Es könnte sein, dass ein Nachfolger Putins gar nicht die Kapazitäten hätte, sich um die Eroberung von Nachbarländern zu kümmern, weil er zuerst die Macht im eigenen Lande festigen müsste.

Möglich ist, dass es nicht nur zu einem Wechsel der Führungsposition kommt, sondern auch zu einem Regimewechsel – und sich wieder liberalere Positionen durchsetzen. Es könnte wie nach Stalins Tod im Jahr 1953 wieder ein Tauwetter in Moskau geben und damit Chancen für eine Öffnung gegenüber dem Westen.

Der Westen müsste sich in einem solchen Fall darum bemühen, Russland neue Kooperations- und Integrationsangebote zu machen – ohne, wie nach dem Ende des Kalten Krieges, in Fragen der territorialen Integrität und Souveränität der Nachbarn Russlands ein oder zwei Augen zuzudrücken. Voraussetzung für die Zusammenarbeit muss der deutliche Verzicht auf imperiale Ambitionen sein.

Einfluss des Westens

Der Westen muss sich auf eine Reihe von möglichen Szenarien einstellen. Was in Russland passiert, lässt sich von aussen zwar nicht steuern. Doch der Westen ist in der Lage, die strategische Umgebung zu gestalten, in der Russland agiert, was wiederum auf Russland selbst zurückwirkt.

Je eindeutiger der Westen Moskaus Versuch zurückweist, mit militärischer Gewalt und hybridem Krieg sich eine beherrschende Machtposition in Ost- und Ostmitteleuropa zurückzuerobern, um so wahrscheinlicher gibt Russland dieses Projekt auf. Denn das Land verfügt über weniger Machtressourcen als Europa.

Verteidigung und Abschreckung sind zentral für die Selbstbehauptung Europas gegen den neuen russischen Imperialismus. Sichere Grenzen machen gute Nachbarn. Wenn Europa mit einem expansionistisch gesinnten Russland in Frieden leben will, muss es Härte und Entschlossenheit zeigen und in seine Streitkräfte investieren. Mit Diplomatie, mit freundlichen Worten und Entgegenkommen ist das nicht zu erreichen, wie die vergangenen Jahre immer wieder gezeigt haben. Europa muss die Machtbalance zu seinen Gunsten gestalten.

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