Sonntag, April 20

Ob im Metaversum oder bei Apples Facetime-Anrufen – Avatare sehen noch immer verblüffend schlecht aus. Das Startup Meshcapade arbeitet an Avataren, die uns nicht nur ähneln, sondern sich auch so bewegen wie wir.

Vielleicht erklärt sich ihr Erfolg damit, dass sie vieles anders machen, als man es von einem Startup erwartet. Die Firma Meshcapade sitzt nicht im Silicon Valley, in London oder Berlin, sondern im deutschen Uni-Städtchen Tübingen am Neckar. CEO ist kein Mann, sondern eine Frau: Naureen Mahmood, Mitgründerin des Startups, 40 Jahre, Kopftuch, ursprünglich aus Pakistan. Und statt sich mit dem Kapital von externen Investoren am Leben zu halten, schreibt die Jungfirma seit der ersten Stunde schwarze Zahlen.

Meshcapade hat sich einem Problem verschrieben, an dem Technologiekonzerne ebenso knabbern wie Bekleidungsfirmen, Videospielentwickler und die Gesundheitsforschung: Menschen in virtuellen Welten möglichst realistisch abzubilden, mit all ihren Eigenheiten in Mimik und Gestik.

Bislang ist es überraschend schwierig, im digitalen Raum wiederzugeben, wie ein jeder von uns aussieht und sich bewegt, von der Stirnfalte bis zum schwabbelnden Bauch. Stattdessen fehlen dem Avatar bei Meta die Beine, bei Apple gar der ganze Körper, die Gesichter sehen meist aus wie grossflächig mit Botox geglättet.

Das 2018 gegründete Startup Meshcapade hat nun ein Computermodell gebaut, mit dem jeder im Handumdrehen seinen persönlichen Avatar in 3-D erstellen kann. Dazu muss man nur ein Foto oder Video von sich auf einer Plattform hochladen oder ein paar Fragen zu Grösse, Gewicht und Körperform beantworten.

Das so erstellte Ebenbild kann man mit jedem beliebigen Bewegungsmuster versehen – ein origineller Hip-Hop-Tanz, den man auf Youtube entdeckt hat, oder eine komplexe Gymnastik-Choreografie. Oder man kleidet das virtuelle Ich in Outfits von Online-Händlern. Auch Mediziner nutzen die Technologie des Startups bereits, um bei Kleinkindern auffällige Bewegungsmuster aufzuspüren, welche erste Hinweise auf eine zerebrale Bewegungsstörung sein könnten.

Ihre Technologie könne jeden Einzelnen bis hin zum Faltenwurf der Kleider erfassen, erklärt Mahmood im Gespräch am Rande einer grossen Videospielmesse in San Francisco. Die Gaming-Industrie zählt ebenfalls zu Meshcapades Kunden: Entwickler von Computerspielen können so menschliche Bewegungsmuster auf virtuelle Charaktere übertragen. Am Messestand erklären Mahmood und ihre Kollegen interessierten Besuchern, wie ihr Modell funktioniert und wie es die Spieleindustrie verändern soll.

Computer schlagen uns im Schach – aber scheitern bei «Schere, Stein, Papier»

«Es geht uns darum, Computern beizubringen, wie Menschen aussehen – und auch, wie man mit ihnen interagiert», sagt Mahmood, eine vielleicht 1 Meter 60 grosse Frau mit herzlichem Lachen. Doch beim Interagieren mit Menschen seien Computer noch überraschend schlecht: Im Schach würden sie Menschen zwar seit Jahren besiegen, aber einfachste interaktive Spiele wie «Schere, Stein, Papier» kann man mit den Systemen bis heute nicht spielen.

Meshcapade ist das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit. Am Max-Planck-Institut für intelligente Systeme in Tübingen arbeiteten Mahmood, ihre Mitgründer und andere Wissenschafter über Jahre hinweg an dem sogenannten SMPL-Modell (Skinned Multi-Person Linear Model), welches auf möglichst einfache Weise ein gutes und noch dazu dreidimensionales Ebenbild des menschlichen Körpers erstellen sollte.

Das Institut zählt zu den weltbesten Forschungsstätten für diese Form der Computer-Vision. Auch das war ein Grund dafür, dass die Computerspezialistin Mahmood nach ihren Studien in der pakistanischen Stadt Lahore und Texas nach Tübingen zog. Gemeinsam mit dem Institutsgründer und Informatiker Michael Black und anderen Kollegen trainierte Mahmood das Simulationsmodell mit mehr als einer Million 3-D- und 4-D-Aufnahmen menschlicher Körper.

Inzwischen hat sich SMPL zum Standard etabliert für jeden, der Menschen dreidimensional abbilden will. Das Modell stellten sie anderen Wissenschaftern zunächst gratis zur Verfügung, doch Anfragen aus der Industrie häuften sich, etwa von Bekleidungsfirmen. 2018 gründeten Mahmood, der Institutsleiter Black und ihr Kollege Talha Zaman deswegen Meshcapade als Spin-off des Max-Planck-Instituts.

Investorengelder nicht aus Europa, sondern aus dem Silicon Valley

Von der ersten Stunde an verdiente das Startup Geld, indem es Firmenkunden eine Lizenzgebühr für die Nutzung des Modells berechnete. «Wir konnten so aus eigener Kraft wachsen und uns ganz auf das Bauen der Plattform konzentrieren», erzählt Mahmood.

Nachdem die Plattform vergangenes Jahr online gegangen war, begab sich die Firma erstmals auf die Suche nach Investorengeldern, um künftig schneller wachsen zu können. Diese fand es nicht etwa in Deutschland oder in Europa, sondern im weit entfernten Silicon Valley.

Im amerikanischen Technologiemekka funktioniere die Startup-Finanzierung viel besser als in Europa, findet Mahmood. «Investoren in Europa verstehen einfach wenig von unserer Arbeitsweise und unserer Industrie.» Die kalifornische Wagniskapitalfirma Matrix investierte 6 Millionen Dollar in Meshcapade.

Alternativ hätten Mahmood und ihre Mitgründer ihre Firma auch an einen Tech-Konzern verkaufen können. Sie erhielten jeden Monat Übernahmeangebote von Big Tech. Doch in einer Konzernstruktur eingebunden, könnten sie nicht so frei an ihrer aller Ziel arbeiten, glaubt die CEO: «Wir wollen eine Zukunft, in der wir alle unsere eigenen digitalen Ebenbilder haben, die mit uns und auch miteinander interagieren.»

Steht das Metaversum denn aus ihrer Sicht unmittelbar bevor? «In den nächsten paar Jahren werden wir enorme technologische Fortschritte sehen, die grundlegend verändern werden, wie wir Technologie nutzen und was sie jedermann ermöglicht.»

Und um diese Zukunft mitzugestalten und den Fortschritt wirklich voranzutreiben, müsse man ein Startup sein und könne nicht den Zwängen eines Konzerns unterliegen, glaubt Mahmood; Open AI habe das gerade im Bereich künstliche Intelligenz vorgemacht.

Wenn ein Umzug, dann lieber in die Schweiz als ins Silicon Valley

Heute hat Meshcapade 26 Angestellte weltweit, von der Schweiz über Indien bis China. Etwa ein Drittel davon sind Frauen. Mahmood selbst hat als Geschäftsführerin immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen. Auf Konferenzen oder Messen wie zurzeit in San Francisco passiere es ständig, dass jemand sie nach dem CEO der Firma frage. «Praktisch jeder ist erst einmal verdutzt, wenn ich antworte, dass ich das bin», sagt sie. Doch wenn man sie danach mit Respekt behandle, störe sie das Ganze nicht – vielmehr sei es inzwischen ein Running Gag unter den Mitarbeitern.

Und wieso sitzt Meshcapade nach wie vor im Neckarstädtchen Tübingen – und nicht an einem Startup-Hub wie Berlin oder dem Silicon Valley? Die Nähe zum Max-Planck-Institut und der Universität Tübingen sei ihnen sehr wichtig, beide zählten zu den Top-Zentren in ihrem Forschungsbereich der Computer-Vision. Auch Zürich sei ein Hub, «wenn wir umziehen, dann eher in die Schweiz als nach Kalifornien». Tübingen biete jedoch ein beschauliches, einfaches Leben, sagt Mahmood und lacht. «Es gibt nicht viel Ablenkung, und das ist gut für unsere Arbeit.»

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