Dienstag, Oktober 1

Intelligente, weniger intelligente, lernbehinderte Kinder und notorische Quälgeister zusammen in einer Klasse: Das schöne Konzept bringt Lehrer und Schülerinnen an ihre Grenzen. So geht es nicht weiter. Eine Volksinitiative will das ändern.

Die Wahrheit an Schulen tut weh. Und zu dieser Wahrheit gehört, dass das Ideal des integrativen Unterrichts gescheitert ist. Offen zugeben will das zwar niemand. Auch die Urheber der kürzlich eingereichten Förderklassen-Initiative in Zürich wollen den Grundsatz nicht infrage stellen, nach dem die Volksschule seit Jahren mehr schlecht als recht funktioniert: Intelligente, weniger intelligente, lernschwache, lernbehinderte, verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche und solche mit weiteren Sonderbedürfnissen sollen möglichst gemeinsam in gewöhnlichen Klassen unterrichtet werden.

Die Idee dahinter ist gut gemeint: Langsame Schülerinnen, Quälgeister, Kinder mit leichten Behinderungen oder einem gestörten Sozialverhalten sollen vom Regelunterricht profitieren. Sondersettings sollen vermieden werden, ordentliche Klassen gelten als Schlüssel zum Schulerfolg. Denn so fühlen sich beeinträchtigte Kinder und Jugendliche nicht abgehängt. Sie können sich an anderen Schülern orientieren, und sie werden von Lehrern und Heilpädagoginnen sur place unterstützt im Unterricht.

Studien belegen den positiven Effekt, den die integrative Förderung auf diese Gruppen haben kann. Solche Untersuchungen werden oft bemüht, um die Argumente von Kritikern vom Tisch zu wischen. Die Volksschule ist schliesslich für alle da. «Gleiche Chancen für alle» klingt doch gut. Wer kann da schon dagegen sein?

Dauerkrise

Doch die Realität sieht in vielen Klassen anders aus. Starke und schwache Schüler geben so schon genug zu tun – etwa wenn Primarlehrer in der sechsten Klasse jede Woche einen Aufsatz schreiben lassen und diesen innert Tagen korrigieren und bewerten. Üben, üben, üben: Nur so lernt man, Texte zu verfassen. Die harte Schule des Wochenaufsatzes war eine der wichtigsten Lektionen überhaupt, damals, in den frühen neunziger Jahren, in der Primarschule am linken Zürichseeufer.

Das Schreibregime stammt aus einer anderen Zeit. Jede Woche bis zu 25 Aufsätze korrigieren und womöglich noch besprechen mit den Kindern? Und nebenbei den Zappelphilipp im Zaun halten, das traumatisierte Flüchtlingskind eingewöhnen, den Legasthenikern in der Klasse eine separate Aufgabe zuweisen und ihnen gleichzeitig versichern, dass sie trotzdem dazugehören?

Da können auch die engagiertesten Pädagogen nur müde lächeln. Das ist nicht realistisch. Zu gross der Aufwand für Betreuung und Koordination, den heterogene Klassen heutzutage mit sich bringen.

Zu gross auch die Personallücken, mit denen viele Schulen zu kämpfen haben. In Zürich und auch in anderen Kantonen herrscht nicht nur Lehrermangel, es gibt auch zu wenig Heilpädagoginnen. Diese Dauerkrise hat dazu geführt, dass immer mehr Lehrerinnen aus der Not eine Tugend zu machen versuchen und sich selber zu Heilpädagoginnen weiterbilden lassen. Viele arbeiten bereits im heilpädagogischen Bereich, ohne über eine entsprechende Ausbildung zu verfügen.

Die beiden Berufe konkurrenzieren sich gegenseitig. Das wird den Fachkräftemangel in den Klassenzimmern nicht entschärfen, im Gegenteil. Integrative Förderung braucht beides: guten Unterricht für alle und sonderpädagogische Unterstützung für jene, die sie nötig haben. Doch die Volksschule ist immer weniger in der Lage, beide Aufgaben zu erfüllen. Und das ist keine Frage des Geldes, auch wenn Lehrerverbände dies immer wieder postulieren.

Die Probleme liegen tiefer. Integrativer Unterricht ist nicht attraktiv: für überlastete Lehrer nicht, die deswegen ihr Pensum reduzieren. Für Schüler nicht, die von ihren schwierigen Klassenkameraden gestört werden. Und für lernschwache Kinder und Jugendliche auch nicht, da sie zumindest in einigen Klassen zu spüren bekommen, dass sie nicht wirklich dazugehören. Wie auch, wenn sie von der Heilpädagogin immer wieder vor die Tür gebeten werden, um ihre Spezialaufgaben in aller Ruhe machen zu können?

Zürcher wollen Kleinklassen

Die Förderklassen-Initiative der Zürcher Bildungspolitikerin Yasmine Bourgeois (FDP) und von Vertretern von SVP und GLP bietet hier eine Alternative: Verhaltensauffällige Schüler und solche mit einer Lernschwäche sollen bei Bedarf in heilpädagogisch geführte Förderklassen eingeteilt werden können. Dies semesterweise und vorübergehend, wie die Initianten betonen. Idealerweise befinden sich diese Lerngruppen im gleichen Schulhaus wie die Regelklassen, aus der die Kinder kommen und in die sie bei guter Entwicklung auch wieder zurückkehren sollen.

Das Konzept klingt schlüssig: Lehrpersonen werden entlastet, der Unterricht in den ordentlichen Klassen beruhigt sich, und laut den Initianten des Volksbegehrens sollen keine weiteren Kosten entstehen. Das würde wohl darauf hinauslaufen, dass Heilpädagoginnen aus Regelklassen abgezogen werden und stattdessen eine Förderklasse übernehmen. Eine Volksinitiative in Basel-Stadt verlangt ähnliche Massnahmen.

Das dürfte auch vielen Eltern gefallen. Laut einer NZZ-Umfrage aus dem vergangenen Jahr befürworten zwei von drei Zürcher Befragten die Wiedereinführung von sonderpädagogischen Kleinklassen, die bis zum integrativen Ansatz an vielen Schulen üblich waren.

Kritik am heutigen System gibt es nicht nur von bürgerlicher Seite. Viele Anhänger der Sozialdemokraten (54 Prozent) und der Grünen (49 Prozent) können sich Kleinklassen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ebenfalls vorstellen.

Insofern ist klar: Integrativer Unterricht ist nicht mehr sakrosankt, zufrieden sind die wenigsten. So geht es nicht weiter. Die Förderklassen-Initiative ist ein berechtigtes Anliegen. Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner (Mitte) hat bereits darauf reagiert. Sie will sogenannte Schulinseln für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ermöglichen. Förderklassen im Mini-Format sozusagen, die schnelle Abhilfe versprechen.

Es tut sich etwas im Schulwesen – endlich.

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