Samstag, April 19

Türkinnen und Türken wurden in den vergangenen Jahrzehnten zu den unterschiedlichsten Boykotten aufgerufen. Die meisten verpufften wirkungslos. Ein Historiker erklärt, warum es im Rahmen der Proteste gegen Erdogan anders sein könnte.

Die türkische Opposition setzt auf die Macht der Konsumenten. Der Boykott regierungsnaher Unternehmen ist zu einem festen Bestandteil des Protests gegen die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu geworden.

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Medienkonzerne, welche die Proteste totschweigen, stehen auf der Liste, aber auch eine Kaffeehauskette mit Verbindungen zur Präsidentenfamilie und ein landesweit tätiger Musik- und Buchhändler. Als einziges ausländisches Unternehmen ist zurzeit die Volkswagen-Gruppe im Visier der Boykotteure. Grund dafür ist der regierungsnahe Vertriebspartner des Wolfsburger Konzerns in der Türkei.

Hinzu kam der Aufruf der Studenten von vergangener Woche. Während 24 Stunden waren alle Regierungsgegner angehalten, auf jegliche Form des Konsums zu verzichten.

Pasta, Rinder, Smartphones

Das kommt nicht von ungefähr. Boykotte haben eine lange Tradition in der politischen Kultur der Türkei, besonders bei internationalen Spannungen. Als sich der Gründer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans Abdullah Öcalan 1998 zwei Monate lang in Italien aufhielt, rief die Regierung in Ankara die Bevölkerung dazu auf, keine italienische Pasta mehr zu kaufen.

Später erkannte auch Recep Tayyip Erdogan, dass sich die öffentliche Empörung mit Boykottaktionen zur politischen Mobilisierung nutzen lässt. Besonders Staaten, die ohnehin latent als Feindbilder dienen – die USA, Israel, Frankreich oder die Niederlande –, wurden in der Folge mit Boykottaufrufen belegt.

Dabei kam es teilweise zu recht kuriosen Vorfällen. Im Zollstreit mit den USA 2019 zertrümmerten zornige Bürger vor laufender Kamera ihre iPhones, andere zündeten Dollarnoten an. Im Jahr davor hatten Bauern wegen des Streits um die Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder in den Niederlanden 40 Holstein-Kühe aus Anatolien zurück in ihre niederländische Heimat geschickt.

Scheinheilige Empörung Erdogans

Selber das Ziel von Boykotten zu sein, ist für Erdogan und seine Entourage jedoch eine neue Erfahrung. Entsprechend empört ist die Reaktion. Von Sabotage ist die Rede und einem Putsch gegen die türkische Wirtschaft. Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen wegen «Spaltung der Nation» und «Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit» ein. Es gab bereits erste Festnahmen.

Allerdings hatte auch Erdogan früher türkische Produzenten ins Visier genommen. Anfang des Jahres erklärte der Präsident, ein wirksames Mittel gegen die Inflation sei es, Produkte zu boykottieren, deren Preise besonders stark gestiegen seien. Dazu gehören unter anderem lokal produzierte Lebensmittel.

Als das türkische Parlament während des jüngsten Gaza-Krieges wegen einer nicht weiter begründeten Nähe der beiden Hersteller zu Israel von einem Tag auf den anderen Coca-Cola und Nescafé aus der Kantine verbannte, traf man ebenfalls türkische Arbeiter. Nestlé ist seit mehr als hundert Jahren in der Türkei präsent und stellt die im Land verkauften Produkte fast ausschliesslich vor Ort her.

Ein Hut gegen Österreich

Doch woher stammt die türkische Affinität für Boykottbewegungen? «Die Ursprünge liegen in der Spätphase des Osmanischen Reiches», sagt Dogan Cetinkaya. Der Historiker forscht an der Universität Istanbul zur osmanischen Sozialgeschichte und hat ein Buch über den grossen Boykott gegen das Habsburgerreich von 1908 geschrieben.

In jenem Jahr verleibte sich Österreich das bis dahin osmanische Bosnien-Herzegowina ein. Gleichzeitig erklärte Bulgarien mit russischer Unterstützung seine Unabhängigkeit von der Hohen Pforte. Diese hatte der Erniedrigung militärisch nichts entgegenzusetzen.

Die Regierung der sogenannten Jungtürken, die im selben Jahr an die Macht gekommen war, orchestrierte deshalb eine Boykottkampagne gegen Österreich. Besondere Bedeutung erlangte dabei der Fes, die damals übliche Kopfbedeckung für Männer. Obwohl der rote Hut ursprünglich aus Marokko stammt, befanden sich die wichtigsten Produktionsstätten im Habsburgerreich, vor allem in der südböhmischen Stadt Strakonice.

Der Fes oder vielmehr der Verzicht darauf wurde zu einem Symbol der antihabsburgischen Bewegung und damit zu einem wichtigen Mittel der Mobilisierung. Es gab sogar feierliche Verbrennungen des roten Hutes. Als der Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk anderthalb Jahrzehnte später das Tragen des Fes als Zeichen der Rückständigkeit per Gesetz verbat, baute er auf dieser Ächtung auf.

Gründungsmythos der Republik

Der sogenannte Fes-Boykott von 1908 umfasste aber nicht nur Hüte, sondern alle habsburgischen Importe. Österreichische Schiffe, die osmanische Häfen anliefen, wurden nicht mehr gelöscht. Bemerkenswert ist laut dem Historiker Cetinkaya dabei, dass alle Bevölkerungsgruppen des damals noch sehr heterogenen Reichs den Aufruf unterstützten.

Als wenige Jahre später Kreta vom Osmanischen Reich zum Königreich Griechenland geschlagen wurde, formierte sich erneut eine Boykottbewegung. Diese richtete sich jedoch auch nach innen, gegen die griechische Bevölkerung im Reich. Die ökonomische Marginalisierung der Minderheit, die zuvor vielerorts den Handel dominiert hatte, führte laut Cetinkaya zu ersten Fluchtbewegungen der osmanischen Griechen.

«Die Phase der türkischen Geschichte, in der sich ein Nationalbewusstsein herausbildete und der Wandel zum Nationalstaat einsetzte, wurde von Boykottbewegungen begleitet», sagt Cetinkaya. «Diese gehören deshalb zum Gründungsmythos der Republik.» All das schwinge mit, wenn heute in der Türkei zu Boykotten aufgerufen werde.

Breite Abstützung führt zum Erfolg

Ausserdem war der Fes-Boykott erfolgreich. Die wirtschaftlichen Ausfälle Österreichs waren so gross, dass sich Wien nach einigen Monaten als Gegenleistung für die Annexion Bosniens zu einer Kompensationszahlung an das Osmanische Reich bereit erklärte.

«Ein Boykott hat vor allem dann Aussichten auf Erfolg, wenn er in eine grössere gesellschaftliche Bewegung eingebettet ist», sagt der Forscher Cetinkaya. Zur Zeit des nationalen Erwachens unter den Jungtürken sei das gegeben gewesen, danach nicht mehr.

Tatsächlich verpufften die symbolhaften Aktionen gegen italienische Pasta, niederländische Kühe oder amerikanische Smartphones nach kurzer Zeit wirkungslos. Trotz aller zur Schau gestellten Empörung haben weder die türkische Regierung noch die Bevölkerung die Partnerschaft mit diesen Staaten je ernsthaft infrage gestellt.

Und wie bewertet der Historiker die gegenwärtigen Ereignisse? «Der Boykott gegen regierungsnahe Firmen stützt sich auf eine breite Empörung über Erdogan und das von ihm geschaffene System», sagt Cetinkaya. Dies mache die Bewegung zu einer der stärksten der letzten Jahrzehnte. «Das Potenzial für einen Erfolg ist da.»

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