Samstag, Oktober 5

Er war Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses. Heute erklärt Harald Kujat den russischen Krieg in der Ukraine und bedient dabei öffentlich immer wieder Narrative des Kremls. Eine Begegnung mit einem überraschenden Verlauf.

Theodor Fontane sitzt als Statue auf einer Bank, neben ihm Hut und Gehstock, hinter ihm das «Resort Mark Brandenburg», in dem bis zu ihrem Ausscheiden die kroatische Fussball-Nationalmannschaft ihr EM-Quartier hatte. Vor dem Dichter liegt der Ruppiner See und auf dem Wasser der Ausflugsdampfer MS «Fontane». Sanfte Wellen schmatzen leise gegen den Bug. «Wir kennen uns nie ganz, und über Nacht sind wir andere geworden, besser oder schlechter», prangt ein Zitat des berühmtesten Sohns der Stadt Neuruppin vom Sockel.

Harald Kujat hat den idyllischen Ort für ein Gespräch über ihn vorgeschlagen, er lebt in der Nähe. Als Neuruppin noch zur DDR gehörte, starteten vom unweit gelegenen Flugplatz russische Kampfjets. Kujat stand damals auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs in der westdeutschen Luftwaffe, seinerzeit noch als «einfacher Soldat». Mit dieser Selbstverzwergung kokettierte er auch später noch, als er zum höchsten Offizier nicht nur der Bundeswehr, sondern der gesamten Nato aufgestiegen war.

Vom Ruf, den er sich in diesen Ämtern erwarb, lebt er heute noch. Er sitzt in Talkshows, gibt Interviews und erweckt den Eindruck eines allzu verständlichen Russland-Erklärers, der es mit Fakten und Details mitunter nicht so genau nimmt. Man muss ihn nicht gleich einen «Sowjet-General» titulieren, wie es der ehemalige US-Botschafter in Berlin, John Kornblum, vor acht Jahren tat. Doch durch seine Aussagen zum Krieg des Putin-Regimes in der Ukraine polarisiert Kujat so sehr, dass es manchmal wirkt, als bediene er bewusst Kreml-Narrative.

In dem Gespräch in Neuruppin soll er Gelegenheit haben, sich dazu zu erklären. Die Liste der Fragen ist lang. Am Anfang geht es um den Vorwurf, Kujat sei für den kremlnahen, von einem mutmasslichen früheren russischen Geheimdienstler 2016 in Berlin gegründeten Think-Tank «Dialog der Zivilisationen» tätig gewesen. Das berichteten etwa «Bild»-Zeitung und Deutschlandfunk. Der 82-Jährige dementiert das im Gespräch, aber im Gunde dürfte dieser Satz der Ansicht von Kujat gemäss hier gar nicht mehr stehen.

Kujat bricht das Gespräch ab

Das Gespräch kommt auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und auf Kujats wiederholte Äusserung, der Westen habe im Frühjahr 2022 einen Friedensschluss zwischen Wladimir Putin und Wolodimir Selenski verhindert. Auf den Verweis darauf, dass es Belege gibt, die diese Theorie widerlegen, bricht Kujat wutentbrannt und unvermittelt das Gespräch ab und geht, nicht ohne noch deutlich zu machen, dass über das Gespräch nicht berichtet werden soll.

Damit ist das Treffen beendet. Vielleicht steht das Zitat von Fontane auf dem Sockel sinnbildlich für das, was auf der Terrasse des noblen Hotels gerade passiert ist: «Wir kennen uns nie ganz, und über Nacht sind wir andere geworden, besser oder schlechter.»

Man kann diesen Eklat bedauern. Kujat wird von vielen militärischen Begleitern als hochintelligenter, fähiger Mann beschrieben. Mitunter wirke er zwar wie jemand, der seine Gedanken nicht mehr ganz zusammenbekomme, heisst es. Aber das sei Täuschung. Der 82-Jährige wisse genau, was er sage.

Das Gespräch mit ihm hätte also spannend werden können. Man hätte mit ihm zum Beispiel darüber reden können, wie er die Russen nach der Annexion in zahlreichen Talkshow-Auftritten, Interviews und Beiträgen verteidigt hat. Man hätte ihn auch fragen können, warum er selbst jetzt das Land verteidigt, wo Putin einen verbrecherischen Angriffskrieg führt und seine imperialen Ziele klargemacht hat.

Eines der prägnantesten Beispiele der jüngeren Zeit dafür ist ein Interview in der Schweizer «Weltwoche» Anfang Juni. Darin vermittelt Kujat den Eindruck, die Ukraine sei an ihrer Lage selbst schuld. Wenn sie nur endlich aufgebe, werde nichts Schlimmeres daraus. Das sehen etwa die Länder im Baltikum ganz anders. Sie haben Sorge, dass Putin mit seinem Vorgehen Erfolg hat. Und sich dann nicht nur die ganze Ukraine, sondern auch andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion einverleibt.

Westliche Narrative contra Kreml-Narrative

Für Kujat gibt es dafür offenbar keine Beweise. Es existiere bis anhin kein Beleg dafür, dass das politische Ziel der «militärischen Spezialoperation» die Eroberung und Besetzung der gesamten Ukraine sei und Russland danach einen Angriff auf Nato-Staaten plane, schrieb er im Vorjahr in einem «Verhandlungsvorschlag zur Beendigung des Ukraine-Krieges». Er hat das Pamphlet unter anderem mit Horst Teltschik, dem ehemaligen Berater des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl, verfasst. Es wurde in verschiedenen Medien veröffentlicht, etwa in der «Berliner Zeitung» und auf der Schweizer Online-Plattform «Zeitgeschehen im Fokus».

Das Papier enthält viele Kreml-Narrative, der Euphemismus «militärische Spezialoperation» anstelle des Wortes «Krieg» ist nur eines davon. Und natürlich gibt es Belege dafür, dass Putin die gesamte Ukraine einnehmen will. Sie finden sich nicht nur in den vielfachen strategischen Äusserungen über die Kriegsziele von ihm selbst und seinem engeren Umfeld, sondern sind schon dadurch belegt, dass sich der Angriff seiner Truppen im Februar 2022 auf Kiew richtete und nicht nur den Donbass.

Zudem müsste Kujat die Sorgen und Ängste osteuropäischer Staaten vor Russland gut kennen. Er war von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses in Brüssel und damit der ranghöchste Soldat des Bündnisses. In diese Zeit fiel die zweite Phase der Osterweiterung der Allianz. Damals traten neben Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Slowenien auch Lettland, Litauen und Estland der Nato bei. Für diese Staaten hatte die Mitgliedschaft existenzielle Bedeutung. Erst von diesem Augenblick an fühlten sie sich vor den schon damals wieder aufkeimenden imperialen russischen Ansprüchen einigermassen sicher.

Als Vorsitzender des Militärausschusses sass Kujat nicht nur mit den Streitkräftechefs der Länder oder ihrer Vertreter in Brüssel zusammen, sondern auch an einem Tisch mit den Staats- und Regierungschefs. Das Gremium ist die oberste militärische Instanz der Nato und berät die zivile Führung der Allianz in militärischen Angelegenheiten.

Die NZZ hat mit mehreren ebenso ranghohen früheren Generalen gesprochen, die Kujat aus dieser Zeit kennen. Die Gespräche mit ihnen ergaben ein widersprüchliches Bild. Sie zeichnen Kujat als Menschen, der in seiner Dienstzeit einerseits ein durchsetzungsstarker, intellektueller, sehr politischer Offizier gewesen sei, ausgestattet mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein und ausserordentlichem Ehrgeiz. Andererseits skizzieren sie ihn als durchtriebenen, mitunter arroganten und rücksichtslosen General. Schon früh habe er seinen Platz in nichts Geringerem als dem Posten des ranghöchsten Nato-Soldaten gesehen und darauf systematisch hingearbeitet.

«Gezielte Indiskretionen»

Dabei soll er vor «gezielten Indiskretionen» nicht zurückgeschreckt sein, wie die «Welt» im Mai 2000 schrieb. Damals war Kujat vom sozialdemokratischen Verteidigungsminister Rudolf Scharping zum obersten Soldaten der Bundeswehr berufen worden. Um dies zu erreichen, habe er seinem Vorgänger im Amt, so insinuierte die «Welt», öffentlich geschadet.

Das damit gemeinte Verhalten Kujats gegenüber dem früheren Generalinspekteur Hans-Peter von Kirchbach haben auch einige der Gesprächspartner der NZZ angesprochen. Mit gezielten Gerüchten über sein Privatleben sei von Kirchbach, so hiess es, «aus dem Umfeld Kujats weichgekocht» worden. Nach anderthalb Jahren im Amt habe er entnervt von den Intrigen seinen Rücktritt eingereicht. Die NZZ hätte Kujat gern zu diesem Vorwurf und anderen wenig schmeichelhaften Anekdoten über ihn befragt. Aber da hatte er das Hotel in Neuruppin schon verlassen.

So liess sich mit ihm auch nicht über sein Interview mit der Schweizer «Weltwoche» reden. Neben der Aussage, die Ukraine werde ihre strategischen Ziele nicht mehr verwirklichen können, fällt darin vor allem eines auf: Er lässt nahezu jegliche Verurteilung des russischen Kriegs vermissen. Es findet sich kaum Empathie, kaum Mitgefühl für die Ukrainer. Stattdessen gibt Kujat einseitige, auslassende und ungenaue Antworten.

Ähnlich äussert sich Erhard Bühler, einst ebenfalls hoher Nato-Offizier. Er hat Kujats Interview im Podcast «Was tun, Herr General?» analysiert. Die Sendung wird regelmässig vom Mitteldeutschen Rundfunk ausgestrahlt. Hinter Kujats Aussagen zu den strategischen Zielen der Ukraine steckten Meinungsstärke und manchmal auch eine selektive Auswahl der Fakten, sagte Bühler. «Das muss man schon wissen, und das sehe ich schon auch.» Es gebe aber eben auch Realitäten, die für die Ukraine sprächen und «eigentlich bei so einem Urteil eines Fachmanns, dass die Ukraine den Krieg nicht mehr gewinnen kann, eine Rolle spielen müssten».

Fachleute kritisieren Kujats Aussagen

Bühler ist fair. Er kritisiert nicht etwa Kujat selbst, sondern seine Aussagen. Als Beispiel, das für die Ukraine spricht, führt er etwa an, dass sie den Russen inzwischen die operative Nutzung des Schwarzen Meeres und teilweise des Asowschen Meeres verwehre (weil ihre Angriffe dort wirken). Oder dass die Russen auf der Krim kaum mehr sicher seien (weil sie von den Ukrainern wirksam mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen bekämpft werden). Oder dass der Angriff bei Charkiw nahezu gescheitert und die dort agierende Division «nach unseren Massstäben» zerschlagen sei.

Man muss wissen, dass Bühler als Adjutant von Verteidigungsminister Scharping diente, als Kujat Generalinspekteur war. Die beiden kennen sich. Das gilt auch im Fall von Klaus Naumann, ebenfalls ehemaliger Vier-Sterne-General, Generalinspekteur und Vorvorgänger Kujats als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses. Der heute 85-Jährige zählt noch immer zu den angesehensten Ex-Offizieren in Deutschland. Auch er kennt Kujat gut und wollte sich von allen ehemaligen Generalen, mit denen die NZZ sprach, als einziger auch zitieren lassen.

Kujats Verhältnis zu Russland, sagt Naumann, sei vermutlich in der Zeit entstanden, «als wir alle hofften, ein kooperatives Verhältnis zu Russland aufbauen zu können». Scharping hatte Kujat Ende der 1990er Jahre wegen des Kosovo-Krieges zu heiklen Mittler-Missionen nach Moskau geschickt. Später, als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, stand Kujat auch dem Nato-Russland-Rat vor. Dieses Gremium sollte dazu dienen, dass sich frühere Feinde annähern können. Kujat, so berichten es Begleiter, habe sich dort intensiv und aus tiefer Überzeugung von der Sinnhaftigkeit einer Freundschaft mit Russland eingebracht. Für ihn sei ein dauerhafter Frieden in Europa nicht gegen Russland möglich gewesen.

Wenn man die Entwicklung Russlands unter Putin seitdem betrachte und dazu Kujats Äusserungen stelle, dann, so sagt Klaus Naumann, wirke es so, als habe Kujat «diese Entwicklungen nicht vollzogen». Putin habe eindeutig Verträge gebrochen und unprovoziert einen verbotenen Angriffskrieg begonnen. Es sei absurd, dem Westen die Schuld daran zu geben, und ungeheuerlich, ohne Beleg und Stellungnahme der Regierung in London zu behaupten, der damalige britische Premierminister Boris Johnson habe 2022 einen Friedensvertrag zwischen Russland und der Ukraine verhindert.

Ministerium soll Kujat «einen Hinweis geben»

Er ärgere sich, dass die Führung des Verteidigungsministeriums manche der Äusserungen Kujats unkommentiert hinnehme, sagt Naumann. Man müsse einem ehemaligen General schon einmal einen Hinweis geben, wenn er belegbar Falsches sage und damit Russland im laufenden Kampf um die Deutungshoheit helfe. Damit zielt Naumann wohl auch auf die Verpflichtung ehemaliger hoher Offiziere in Deutschland ab, sich auch nach ihrer Pensionierung öffentlich eher mässigend zu äussern.

Kujat soll sich gut mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder verstanden haben. Beide teilten eine Vorliebe für teure Zigarren, die sie gelegentlich gemeinsam geraucht hätten, während sie über die Bundeswehr sprachen. Auch zum Verhältnis Kujats mit dem Putin-Freund Schröder hätte die NZZ gern mehr gewusst. Es muss nun ebenso ungeklärt bleiben wie sein Verhältnis zur Linkspartei, bei der er mehrfach in den vergangenen Jahren zu Gast war, und zu Sahra Wagenknecht, die sich mitunter bei ihren Einschätzungen zum russischen Krieg in der Ukraine auf Kujat bezieht.

Dabei kann man nicht sagen, dass Kujat mit jeder Äusserung falsch liegt. Im «Weltwoche»-Interview kritisierte er etwa den Angriff der Ukrainer auf zwei Radargeräte Ende Mai, die Teil der strategischen nuklearen Verteidigung Russlands sind. Selenski, der diese Attacken befehle, sei ein «politischer Hasardeur», der es darauf anlege, den Westen in den Krieg zu ziehen, sagte Kujat.

Nicht alle Äusserungen sind falsch

Richtig ist, dass auch angesehene Militärfachleute wie Erhard Bühler oder der österreichische Oberst und Kriegsanalyst Markus Reisner nach den Angriffen einen vorsichtigeren Umgang mit den Risiken dieses Krieges betonten. Der Verlust von Frühwarnradaren könnte Russland zu Vergeltungsmassnahmen provozieren, die eine unkalkulierbare Eskalation zur Folge haben könnten, argumentierten sie.

Richtig ist auch, dass eines der beiden Radare im Süden Russlands liegt und für die Ukraine keine Gefahr darstellte. Dieses Ziel müsse gemieden werden, sagt auch Erhard Bühler. Das andere Radar in Krasnodar aber sei, anders als es Kujat dargestellt habe, ein legitimes Ziel der Ukrainer. Damit würden auch Luftangriffe auf ukrainische Städte geführt.

Harald Kujat war einmal ein geachteter und erfolgreicher General, der Deutschland in höchster Position bei der Nato vertreten hat. Doch mit oftmals einseitigen Schuldzuweisungen, Ungenauigkeiten und Falschinformationen zum russischen Vorgehen in der Ukraine (oder in Syrien) hat er inzwischen seinen Ruf beschädigt. Keiner der früheren Generale, mit denen die NZZ sprach, hat nach eigener Aussage noch Kontakt zu ihm. Für ihn, sagt einer der Ex-Generale, sei es schlicht unerklärlich, was mit Kujat seit seiner Pensionierung geschehen sei.

Transparenzhinweis: Der Autor hat von Januar 2020 bis August 2022 für die Firma Heckler & Koch gearbeitet, wo Harald Kujat von Juli 2019 bis August 2020 Vorsitzender des Aufsichtsrats war.

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