Mittwoch, Oktober 9

Eine kleine Geschichte der parlamentarischen Immunität.

Im Wahlkampf des vergangenen Jahres machte die SVP aus Kriminalmeldungen eine Kampagne. Über Schlagzeilen wie «Rumäne begeht Telefonbetrug» oder «Araber raubt Frau aus» stand jeweils: «Neue Normalität?» Darauf gab es Strafanzeigen. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, ob die Kampagne gegen die Antidiskriminierungsnorm verstossen habe. Um strafrechtlich gegen Marco Chiesa (damals SVP-Präsident und Ständerat) und Peter Keller (damals SVP-Generalsekretär und Nationalrat) vorgehen zu können, will sie deren Immunität aufheben lassen.

Denn wer im Parlament sitzt, ist gegen Strafverfolgung geschützt oder zumindest absolut immun, was Äusserungen im Parlament oder in Kommissionen betrifft, und relativ immun, was Handlungen «im unmittelbaren Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit und Stellung» angeht. Die Immunität ist eine Art parlamentarisches Recht auf Provokation und Polemik – gewährt in dem Verständnis, dass Politikerinnen und Politiker im Zweifel nicht juristisch, sondern politisch bekämpft werden sollen.

Im Fall von Marco Chiesa hat die zuständige Kommission des Ständerats nun entschieden, die Immunität nicht aufzuheben: Es gebe einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen seinen politischen Ämtern und dem Wahlkampf, und «die freie Meinungsäusserung» sei dabei «von herausragender Bedeutung».

Es entspricht der politischen Logik in der Schweiz – dass die Immunität aufgehoben wird, ist höchst selten.

Lange Liste

Der letzte spektakuläre Immunitätsfall betraf den damaligen SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel, der im Jahr 2022 in seiner Youtube-Show über geheimdienstlich beschlagnahmte Uhren in Moskau berichtete – «weitestgehend deckungsgleich» mit Informationen aus vertraulichen Unterlagen der Aussenpolitischen Kommission, in der Köppel damals sass. So sah es die Bundesanwaltschaft, die seine Immunität aufheben lassen wollte. Köppel erklärte, er habe sich die Informationen schon früher als Journalist beschafft, aber man könne seine Immunität gerne aufheben. Die zuständige Kommission des Nationalrats wollte das zuerst auch, bis sie sich im weiteren politischen Prozess aber umentschied.

So ist es regelmässig zu beobachten: Wird irgendwoher gefordert, die Immunität von Nationalrat oder Ständerätin X aufzuheben, entstehen früher oder später parlamentarische Gegenkräfte – wenn nicht aus prinzipiellen, dann aus politischen oder persönlichen Gründen.

Die Liste der Immungebliebenen ist lang, sie reicht von Toni Brunner (SVP) über Christa Markwalder (FDP) bis zuletzt zu Katharina Prelicz-Huber (Grüne). Selbst für Rudolf Keller von den Schweizer Demokraten, der in den 1990er Jahren zu einem Boykott von «amerikanischen und jüdischen Waren, Restaurants und Ferienangeboten» aufgerufen hatte, galt die Immunität.

Nächstens stellt sich die Frage, ob auch die Handgreiflichkeiten der SVP-Nationalräte Thomas Aeschi und Michael Graber durch die Immunität geschützt sind. In den vergangenen Jahren verlor einzig der frühere SVP-Nationalrat Christian Miesch seine Immunität. Er wurde verdächtigt, er habe sich für einen parlamentarischen Vorstoss bezahlen lassen. Die Ermittlungen wurden später eingestellt.

Ziegler für Blocher

Einer der grössten Kämpfer für eine allumfassende Immunität war der langjährige SP-Nationalrat und Soziologieprofessor Jean Ziegler – wohl deshalb, weil er das prominenteste Opfer einer Aufhebung ist: In den 1990er Jahren schützte das Parlament ihn nicht, nachdem sein Buch «Die Schweiz wäscht weisser» wie gewohnt eher eine Polemik geworden war und mehrere der Angegriffenen («Geier», «Spekulant») gegen ihn geklagt hatten. «Ziegler will mit dem Güllenwagen über den Spannteppich im Wohnzimmer fahren und sich dann vor den Reinigungskosten drücken», hiess es im Parlament. Als er nicht mehr immun war, musste sich Ziegler in neun Prozessen gegen eine Klagesumme von 6,6 Millionen Franken wehren. Er wurde mehrfach verurteilt, irgendwann wurden selbst seine Möbel gepfändet. Er sollte es sich merken.

Im Jahr 2012 diskutierte das Parlament über die Schlüsselrolle von Christoph Blocher in der sogenannten Affäre Hildebrand: Hatte er – eben wieder in den Nationalrat gewählt, aber noch nicht vereidigt – diese als Nationalrat oder als Bürger gespielt? Die zuständigen Kommissionen sollten schliesslich entscheiden, es sei der Bürger Blocher gewesen. In einem Interview wehrte sich aber ein unerwarteter Helfer für Blocher: «Die Immunität ist sein Recht.» Es war Jean Ziegler.

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