Die Geschichte von Lee Miller fristete lange ein Schattendasein. Ein neuer Film leuchtet nun die dunkelsten Jahre der Fotografin und Kriegsreporterin aus. Wer war sie, die ihre Karriere als Model für die «Vogue» begann?
Vieles war in Kartonschachteln gelagert, auf denen «Heinz Baked Beans» stand, hoch im Estrich eines englischen Landhauses. Es hätte besseres verdient gehabt, das Vermächtnis von Lee Miller: Model, Surrealistin, Kriegsfotografin. Doch gegen Ende ihres Lebens wollte Miller wenig mit dieser Vergangenheit zu tun haben. Also wurden die Zeugnisse davon – Manuskripte, Fotodrucke, 60 000 Negative – in Boxen für das einfachste aller britischen Nationalgerichte verstaut, fein säuberlich mit Schnur zugebunden. Schachteln für ein verschachteltes Leben.
Nun ist es genau diese Vergangenheit, die neu ausgeleuchtet wird. Mit dem Spielfilm «Lee» von Regisseurin Ellen Kuras mit Kate Winslet in der Titelrolle (Deutschschweizer Kinostart: 17. Oktober 2024) erhält sie ihre bisher grösste Bühne. Das, nachdem Millers Sohn Antony Penrose nach dem Tod seiner Mutter 1977 ihr Leben mithilfe der wiederentdeckten Boxen zu erforschen begann. Dank dem daraus entstandenen Archiv gibt es immer wieder Ausstellungen, Biografien, Dokumentarfilme, Musicals und Artikel in Modezeitschriften, die Miller einzufangen versuchen.
So einfach ist das nicht. «Für Lee war das Reisen immer wichtiger als das Ankommen», schreibt Penrose in seinem 1985 publizierten Buch «The Lives of Lee Miller» über seine komplexe, passionierte, ständig suchende Mutter. Dass ihr Name nie so zum Kanon wie die von Zeitgenossen und Kollaborateuren wie Man Ray oder Jean Cocteau gehörte, das ändert sich allmählich trotzdem. Oder gerade deswegen.
Die Kamera als Konstante
Fast die einzige Konstante in Millers Leben war die Kamera. Zuerst war es die ihres Vaters Theodore Miller, der seine 1907 geborene Tochter Elizabeth – später Lee – zu seinem liebsten Subjekt erkor. Während sie auf einer Farm nahe Poughkeepsie im amerikanischen Gliedstaat New York aufwuchs, fotografierte er sie: auf Stühlen posierend, nackt in der Badewanne, mit krausen Haaren wie ein Heiligenschein auf dem Familienporträt. Eine Reise nach Paris als Teenager beeindruckte Lee so sehr, dass die Stadt zu ihrem erklärten Ziel wurde. Die Nachkriegsgeneration stellte dort gerade alles auf den Kopf. Dank einer Zufallsbegegnung mit dem Verleger Condé Nast nahm ihre Karriere als professionelles Model für die «Vogue» ihren Lauf. Die grossgewachsene, blonde Miller mit den starken Gesichtszügen verkörperte die Schönheitsideale der zwanziger Jahre. Und sie zog ihre Betrachter unweigerlich in den Bann.
Es war eine Stärke, die sie gekonnt ausnutzte. Zurück in Paris stellte sie sich dem surrealistischen Fotografen Man Ray als seine neue Schülerin vor, obwohl er so etwas wie Schüler eigentlich nicht kannte. Sie würde recht behalten. Mit Man Ray schärfte sie ihr Auge, perfektionierte ihre Techniken und erfand neue. Sie fotografierte Freunde und Zeitgenossinnen wie Meret Oppenheim und Tanja Ramm, unter Glasglocken oder durch Solarisation stark verfremdet. Gleichzeitig war sie Man Rays Muse und seine Geliebte, zumindest eine Zeitlang. Sesshaftigkeit war ihr fremd. Kontrollversuche von anderen bedeuteten den sicheren Ausriss.
Mehr als Muse
Also baute Lee Miller in New York City ein Fotostudio auf. Sie folgte ihrem ersten Ehemann nach Kairo und langweilte sich dort. Sie gab die Fotografie erst auf und begann dann allmählich wieder damit, machte Exkursionen in die Wüste, und verliebte sich schliesslich 1937 in den wohlhabenden Künstler und Historiker Roland Penrose (hier setzt die Handlung von «Lee» ein). Als sie später zu ihm nach England zog, war der Zweite Weltkrieg keine drohende Katastrophe mehr, sondern Realität. Penrose unterrichtete, während Miller der Chefredaktorin der «British Vogue», Audrey Withers, ihre Dienste anbot.
Hatten Modemagazine wie ihres damals nicht ihre Daseinsberechtigung verloren? Eskapismus konnte schliesslich nur so weit gehen. Doch sie erhielten neue Aufgaben. Wenn die Regierung etwas an Frauen kommunizieren wollte, waren Modemagazine wegen ihrer grossen weiblichen Leserschaft eine beliebte Wahl. Ihre rationierten Seiten zelebrierten die Philosophie des «make do and mend»: Man arbeitete mit dem, was man hatte, reparierte es, nähte es um. Man lernte, seine für die Arbeit praktisch kurz geschnittenen Haare «chic» zu tragen.
Mode in Zeiten des Kriegs
Die Wirkung der Mode in Krisenzeiten war also nicht zu unterschätzen. Aber sie war begrenzt, und Lee Miller wollte mehr. Erst porträtierte sie für die «Vogue» Models, die in Schutzvisieren nach feindlichem Feuer Ausschau zu halten schienen, und dann Frauen, die in Fabriken arbeiteten. Es war der Beginn ihrer Wandlung hin zur Fotojournalistin. Als amerikanische Bürgerin konnte sie sich als Kriegsreporterin akkreditieren lassen. Sie liess an der Savile Row eine Uniform anfertigen: «War Correspondent», war über der Brusttasche eingestickt. Bald zog sie selbst an die Front in Frankreich, wo sie Krankenschwestern und einen unerlaubten Napalm-Angriff fotografierte.
Lee Millers Bilder wurden düsterer. Ihren ganz eigenen, surrealistisch geprägten Blick verloren sie aber auch im Krieg nie. Vielmehr schlich sich die Schönheit über sie wie ein eiskalter Nebel, der bis in die Knochen des Betrachters vordrang und das Schreckliche unterstrich.
Ihre wichtigsten Fotografien sandte sie im April 1945 aus den eben befreiten Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald an Audrey Withers, zusammen mit der dringlichen Bitte, diese auch wirklich in den Seiten der «Vogue» zu publizieren. Es waren Leichenberge und leere Augen. «Normalerweise fotografiere ich keine Schreckensbilder», schrieb sie, «aber glaube nicht, dass es nicht in jeder Stadt und in jedem Gebiet reichlich davon gibt.» Withers liess nur eines klein abdrucken. Sie schäme sich für diese Entscheidung, sagte sie Jahrzehnte später.
Nach Kriegsende reiste Miller weiter. Nach Österreich, Dänemark, Bulgarien. Doch es liess sie nicht los, was sie in und um den Krieg gesehen und mit ihrer Kamera festgehalten hatte. Schlaftabletten und Alkohol sollten es abtöten oder zumindest schwächen. So richtig funktionierte das bis an ihr Lebensende nicht. Als Lee Miller nach England zurückkehrte, wurde sie schwanger, heiratete Penrose, widmete sich dem Kochen von erfinderischen Gourmet-Gerichten und ab und an wieder der Modefotografie. Oder, wie es ihre Enkelin Ami Bouhassane in einem Dokumentarfilm aus 2020 nennt: «hats and handbags».