In 14 Jahren an der Macht haben die Konservativen ihren ganzen Kredit verspielt. Vor der Unterhauswahl weckt allerdings auch Labour kaum Hoffnungen – und dürfte doch die nächste Regierung stellen.

Steuern, Migration, Transgender – es gibt kaum ein Thema, zu dem sich der konservative Premierminister Rishi Sunak und sein Labour-Herausforderer Keir Starmer bei der BBC-Debatte vor der Unterhauswahl nicht duellieren. Doch es ist eine Frage aus dem Publikum, die im Studio am meisten Applaus erntet. «Herr Sunak, Sie waren ein ordentlicher Schatzkanzler, aber Sie sind ein mittelmässiger Premierminister», beginnt der Wähler und wirft im nächsten Atemzug Starmer vor, er sei eine Marionette wichtiger Labour-Parteimitglieder. «Sind Sie», richtet er die Frage an beide, «wirklich die beste Auswahl, um der nächste Premierminister unseres grossen Landes zu werden?»

Sunak wie Starmer bleiben die Antwort schuldig. So hallt die Zuschauerfrage nach wie das Leitmotiv eines Wahlkampfs, der die wenigsten der 66 Millionen Britinnen und Briten inspiriert zu haben scheint.

Vor der Unterhauswahl vom Donnerstag wirkt das Land erschöpft und voller Zweifel. Erschöpft von den steigenden Lebenskosten und den Turbulenzen unter einer Konservativen Partei, die in vierzehn Jahren an der Macht fünf Premierminister verbrauchte und 2022 unter Liz Truss eine Krise an den Finanzmärkten provozierte. Und voller Zweifel darüber, dass der Labour-Chef Starmer dem Land den nötigen Auftrieb verleihen kann, wenn er, wie allgemein erwartet, am Freitag in den Regierungssitz an der Downing Street Nummer 10 einzieht.

Resignation hat sich breitgemacht

Der Tod von Königin Elizabeth II. im Jahr 2022 war eine Zäsur. Nun steht das Land auch vor einer politischen Zeitenwende. Doch wer in diesen Tagen durch Grossbritannien reist, stösst auf Resignation statt Zuversicht. Erschreckend viele Wählerinnen und Wähler halten Politiker generell für Lügner und geben an, sie würden sich diesmal nicht an der Wahl beteiligen.

Man kann die Suche nach den Gründen dafür beim moralischen Versagen der Konservativen Partei beginnen. Sexskandale und Lobbying-Affären verfestigten das Bild einer selbstgerechten politischen Klasse. Die Spitze des Eisbergs war die Affäre um illegale Partys an Boris Johnsons Amtssitz zu einer Zeit, als die Regierung den normalsterblichen Briten einen drakonischen Corona-Lockdown aufgezwungen hatte.

Im Wahlkampf sorgte eine Wett-Affäre für Schlagzeilen. Mitarbeiter Sunaks hatten womöglich mit Insiderwissen Geld auf den Zeitpunkt der Unterhauswahl gesetzt. Erneut entstand der Eindruck, die Regierenden in Westminster seien eher auf ihren eigenen Vorteil bedacht als auf das Wohl des Landes.

¨Enttäuschung über den Brexit

Wie steht es um die politische Bilanz der Konservativen? Die Frage geht an David Cameron, der kurz vor der Wahl in einem Londoner Klub vor ausländischen Journalisten auftritt. Cameron leitete mit seinem Wahlsieg 2010 gegen Gordon Brown die konservative Ära ein, trat nach der verlorenen Brexit-Abstimmung von 2016 zurück und kehrte unlängst als Aussenminister zurück.

Der 57-Jährige wirkt weniger dynamisch als früher, doch Selbstzweifel plagen ihn noch heute nicht. Er betont, die Konservative Partei habe Jobs geschaffen, und im Durchschnitt sei die Wirtschaft schneller gewachsen als in vielen kontinentaleuropäischen Ländern. Dass sich das Land heute mit Wohlstandsverlusten sowie rekordhohen Schulden und Steuern herumschlägt, begründet er mit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine.

Den Brexit erwähnt Cameron in seiner Bilanz nicht. Inzwischen sind 70 Prozent der Britinnen und Briten der Ansicht, Grossbritannien stehe wegen des EU-Austritts wirtschaftlich schlechter da. 2019 hatte noch fast die Hälfte der Bevölkerung geglaubt, der Brexit bringe Vorteile oder werde sich zumindest als Nullsummenspiel herausstellen.

Nicht nur die wirtschaftlichen Verheissungen lassen auf sich warten. Im Referendumskampf tourte ein Brexit-Bus mit der eingängigen Botschaft durchs Land, statt 350 Millionen Pfund pro Woche nach Brüssel zu schicken, werde das Geld künftig in den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) fliessen. Heute ist das staatliche Gesundheitswesen ineffizienter denn je, und eine Rekordzahl von Patienten wartet monatelang auf Behandlungen.

Auch das Versprechen, dank dem Ende der EU-Personenfreizügigkeit die Migration zu begrenzen, haben die Tories nicht erfüllt. Anstelle von Polen, Rumänen und Spaniern sind Inder, Nigerianer und Filipinos gekommen. Die reguläre Migration von Arbeitskräften hat sich seit dem Brexit etwa verdoppelt, wobei namentlich das ohnehin überlastete Gesundheitswesen ohne Zuwanderer kaum funktionsfähig wäre.

Im Wahlkampf fordern zwar fast alle Parteien eine Reduktion der Migration. Doch der Brexit ist nur am Rand ein Thema. Die Konservativen können kaum Vorteile des EU-Austritts präsentieren. Labour hat Angst vor einer Neuauflage der Europa-Debatte und will mit der EU bloss Nebensächlichkeiten wie ein Veterinärabkommen aushandeln.

Nur die Schotten und der Rechtsaussen Farage stören die Ruhe

Das Schweigen stören nur die Scottish National Party, die den Brexit als Desaster bezeichnet, sowie die aufstrebende Rechtspartei Reform UK von Nigel Farage. Farage sieht das Heil in einem noch radikaleren Bruch mit Europa: Er will Sunaks Windsor-Abkommen zur Beilegung des Nordirland-Streits kündigen, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten und die Einwanderung drastisch reduzieren.

Die Wähler in den strukturschwachen Gebieten in Mittel- und Nordengland hatten sich vom Brexit Investitionen in die marode Infrastruktur erhofft. Doch in einem Regionalzug in der Nähe von Nottingham erzählt eine Pendlerin, es vergehe kaum ein Tag ohne Verspätungen. Die Schule ihres Sohnes habe zu wenig Geld, um Klebstifte zu kaufen, beim Hausarzt bekomme man kaum noch einen Termin, und die Strasse in ihrer Wohngegend gleiche einem Feld von Schlaglöchern. «Es scheint, dass in unserem Land nichts mehr funktioniert wie früher.»

Aus dem optimistischen «Cool Britannia» der neunziger Jahre ist «Broken Britain» geworden. Starmer prangert den schlechten Zustand der Infrastruktur an. Doch verschweigen sowohl Labour wie auch die Konservativen, dass das Geld für die nötigen Investitionen fehlt und stattdessen wohl ein Sparprogramm erforderlich sein wird. Die Denkfabrik Institute for Fiscal Studies spricht von einem «Komplott des Schweigens».

Stabilität als Trumpf?

Vierzehn Jahre nach Camerons Wahlsieg hat die Konservative Partei ihren Kredit verspielt, weshalb sich die Wähler links und rechts nach Alternativen umsehen. Damit präsentiert sich das Vereinigte Königreich mit seinem altmodischen Mehrheitswahlrecht und seinem traditionsreichen Parlamentssystem als lebendige Demokratie.

Selbst wenn Farages Reform UK markant zulegen dürfte, steht als Erbe der Konservativen der nüchterne Zentrist Starmer bereit. Er hat mit dem Linkspopulismus seines Vorgängers Jeremy Corbyn gebrochen. Bereits hofft Labour, die Aussicht auf politische Vernunft und Stabilität werde Grossbritanniens Standortattraktivität erhöhen, während in Frankreich und anderen EU-Ländern der Aufstieg der Rechtsnationalen für Unsicherheit sorgt.

Starmer und Sunak mögen dem britischen Volk nicht die inspirierendste Auswahl geboten haben. Und doch standen sich bei der BBC-Debatte zwei integre und fähige Politiker gegenüber. Sie kämpften mit harten Bandagen, aber immerhin traute man ihnen eine Regierungsführung im Interesse des Gemeinwohls zu. Als einen Tag später die zwei Bewerber um das amerikanische Präsidentenamt auf CNN die Klingen kreuzten, erschien Grossbritannien plötzlich als heile Welt.

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