Viele EU-Zuwanderer verlassen die Schweiz nach erstaunlich kurzer Zeit wieder. Was bedeutet das für die AHV, den Wohnungsmarkt und das Zusammenleben?
Die Schweiz hadert mit dem hohen Bevölkerungswachstum. Im vergangenen Jahr hat die Wohnbevölkerung so stark zugenommen wie seit den 1960er Jahren nicht mehr. Es wird wieder über Dichtestress und eine Überlastung des Landes diskutiert, die SVP will mit einer Volksinitiative eine 10-Millionen-Schweiz verhindern.
Der Hauptgrund für das starke Bevölkerungswachstum ist die Nettozuwanderung. Seit Beginn der Personenfreizügigkeit mit der EU im Jahr 2002 sind netto rund 1,5 Millionen Ausländer in die Schweiz gekommen.
Verborgene Dynamik bei der Zuwanderung
Netto – das heisst Zuwanderung minus Abwanderung. Um die Nettozuwanderung geht es, wenn über volle Autobahnen, überfüllte Züge oder steigende Mieten geklagt wird.
Doch wenn man nur auf die Nettomigration blickt, bleibt die grosse Dynamik hinter dieser Zahl verborgen. Die NZZ hat jüngst in einer Analyse gezeigt, dass in der Schweiz ein reges Kommen und Gehen herrscht. Seit Beginn der Personenfreizügigkeit mit der EU sind über 3 Millionen Ausländer in die Schweiz gekommen. Aber rund 1,6 Millionen Ausländer sind auch wieder ausgewandert. Das populäre Bild, dass für immer in der Schweiz bleibt, wer einmal hier ist, stimmt nicht.
Viele Zuwanderer bleiben erstaunlich kurz in der Schweiz. Das zeigen Berechnungen des Bundesamtes für Statistik: Die Hälfte der EU-Zuwanderer verlässt das Land innerhalb von drei Jahren wieder. Nur ein Drittel lässt sich langfristig nieder.
Was bedeutet diese Rückwanderung für die Schweiz? Ändert sich durch sie die Einschätzung, ob die Personenfreizügigkeit für das Land eine gute oder eine schlechte Sache ist?
Für die AHV ist es einerlei
Die Auslegeordnung beginnt mit der AHV, dem wichtigsten Schweizer Sozialwerk. Grundsätzlich ist die Zuwanderung für die Rentenkasse ein gutes Geschäft. Dies haben die Ökonomen Reto Föllmi (Universität St. Gallen), Sandro Favre und Josef Zweimüller (Universität Zürich) in einer Studie für den Bund gezeigt.
Die Zuwanderung führt zu einer Verjüngung der Bevölkerung. Zudem sind die Arbeitskräfte aus der EU gute Beitragszahler. Laut einer weiteren Studie der Autoren verdienen die Zuwanderer bereits im zweiten Jahr nach ihrer Ankunft im Durchschnitt höhere Einkommen als die hier geborene Bevölkerung. Das gilt sowohl für Männer (weil sie höhere Löhne haben) als auch für Frauen (weil sie mehr arbeiten).
Die starke Zuwanderung stabilisiert also die Finanzlage der AHV. Das ist ein Vorteil für die ansässige Bevölkerung. Macht es einen Unterschied, wenn Zuwanderer nach einigen Jahren wieder gehen und die Pension im Heimatland verbringen?
«Das Ausmass der Rückwanderung spielt für die AHV keine Rolle», sagt der St. Galler Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi. Der Grund dafür ist, dass AHV-Renten auch ins Ausland ausbezahlt werden.
Wenn beispielsweise ein deutscher Arzt fünf Jahre in der Schweiz arbeitet und dann nach Deutschland zurückkehrt, hat er Anspruch auf den entsprechenden Anteil an einer AHV-Vollrente (5 von 44 Beitragsjahren). Zwar mögen manche Rückwanderer vergessen, die Rente später zu beantragen. Aber im Grossen und Ganzen scheint dies nicht der Fall zu sein: Jede dritte AHV-Rente wird bereits ins Ausland ausbezahlt.
Die Krankenversicherung profitiert
Dennoch sagt Föllmi: «Für die Sozialversicherungen ist es durchaus ein Vorteil, wenn Zuwanderer vor der Pensionierung in die Heimat zurückgehen.»
Im Gegensatz zur AHV gibt es nämlich manche Leistungen, die Rückwanderer im Ausland nicht beziehen können. So zahlt der Staat AHV-Ergänzungsleistungen nur an Personen aus, die in der Schweiz leben. Auch eine Invalidenrente kann man nur beantragen, wenn man den Wohnsitz in der Schweiz hat.
Die Zuwanderer tragen also zur Finanzierung von Leistungen bei, die sie nach Verlassen der Schweiz nicht in Anspruch nehmen können. Dieser Faktor ist besonders wichtig bei der obligatorischen Krankenversicherung. Wer als Zuwanderer in der Schweiz arbeitet, muss Prämien für die Krankenkasse bezahlen. Doch im Krankheitsfall Leistungen beziehen kann jemand nur, solange er in der Schweiz lebt.
Dies fällt ins Gewicht, weil es in der Krankenversicherung eine starke Umverteilung von Jung zu Alt gibt. Während ihres Erwerbslebens bezahlen die meisten Menschen vor allem Prämien und beziehen wenige Leistungen. Hingegen fällt der grösste Teil der Gesundheitskosten im hohen Alter an. Temporäre Migranten sind deshalb ein Vorteil für die obligatorische Krankenversicherung. Sie zahlen Beiträge, verursachen im Alter aber keine Kosten in der Schweiz.
Grundsätzlich gilt für die Sozialversicherungen – und allgemein den Staat – eine zentrale Einsicht aus der ökonomischen Forschung: «Temporäre Migranten verbringen ihre produktivsten Jahre im Gastland, während sie die teuren Jahre der Kindheit und der Pension in der Heimat verbringen.» Dies stellt die wichtigste wissenschaftliche Überblicksarbeit zu dem Thema fest.
Das trifft auch für die Schweiz zu. Temporäre Migranten kommen bereits ausgebildet ins Land; der Staat muss dafür keine Steuergelder aufwenden. Im hohen Alter fallen zwar AHV-Zahlungen an, aber keine Kosten etwa für die Gesundheitsversorgung oder für die Sozialhilfe. Die temporären Migranten dürften deshalb Nettozahler des Schweizer Staates sein.
Mehr Dynamik auf dem Wohnungsmarkt
Kaum freie Wohnungen, steigende Mieten – die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird häufig mit der starken Zuwanderung in Verbindung gebracht. Tatsächlich zeigt wissenschaftliche Evidenz, dass die Nettomigration in den vergangenen Jahrzehnten zum Anstieg von Mieten und Immobilienpreisen beigetragen hat, wenn auch nur in geringem Ausmass.
Ändert sich die Perspektive, wenn man berücksichtigt, dass viele Zuwanderer nur wenige Jahre in der Schweiz bleiben?
Ein Vorteil der Rückwanderung ist, dass sie Dynamik in den Wohnungsmarkt bringt. Viele Mieter in der Schweiz haben einen Anreiz, möglichst lange in ihren Wohnungen zu bleiben. Wenn man einmal eingezogen ist, kann die Miete nur in einem gesetzlich eng begrenzten Umfang steigen. Hingegen müssten Mieter bei einem Umzug oft höhere Mieten für ein ähnliches Objekt bezahlen, weil dann die Mietpreise frei festgelegt werden können.
Diese Regulierung führt zu einer Austrocknung des Wohnungsmarktes an begehrten Orten wie den Städten. Die Rückwanderer sorgen jedoch für einen gegenläufigen Effekt: Sie geben Wohnungen nach einigen Jahren wieder frei. Das bewirkt mehr Wohnungswechsel und mehr Liquidität auf dem Wohnungsmarkt.
Eher Nachteile für das Zusammenleben
Der wohl grösste Nachteil temporärer Migration ist, dass die Menschen wenig Interesse haben, lokale Netzwerke zu knüpfen und allenfalls auch die Landessprache zu erlernen. Das Phänomen ist vor allem von Expat-Blasen bekannt, die es beispielsweise in der Stadt Zürich gibt. Wenn man weiss, dass man nur wenige Jahre bleibt, investiert man wenig in Freundschaften mit Einheimischen oder ins Lernen von Schweizerdeutsch. Ein Problem ist allerdings auch, dass die Schweizer als reserviert gegenüber Zuwanderern gelten. Manche Migranten gehen wieder, weil sie sich in der Schweiz nicht wohlfühlen.
Die Situation dürfte für beide Seiten Nachteile haben. Die temporären Zuwanderer integrieren sich nicht richtig. Umgekehrt kann für die Einheimischen das Gefühl entstehen, fremd im eigenen Land zu sein. Zudem haben die Kurzzeitzuwanderer wenig Anreiz, sich für gut funktionierende Institutionen in der Schweiz einzusetzen – vom lokalen Verein bis zur nationalen Politik. Das dürfte sich erst ändern, wenn jemand langfristig im Land bleibt und sich später einbürgern lässt.
Allerdings hat es nicht nur Nachteile, wenn temporäre Migranten wenig in lokale Netzwerke investieren. Sie dürften stattdessen engere Kontakte ins Heimatland behalten. Dies kann für den Austausch zwischen Ländern förderlich sein. So zeigt eine Studie für die USA, dass der Handel mit Ländern zugenommen hat, aus denen viele temporäre Migranten in die Vereinigten Staaten kommen.
Insgesamt hat temporäre Migration sowohl Vorteile wie Nachteile für das Gastland. Die Analyse zu Sozialversicherungen, Wohnungsmarkt und Integrationsverhalten legt nahe, dass für die Schweiz die Vorteile überwiegen.