Der Zementriese Holcim wird aufgespalten. Der neue Chef Miljan Gutovic ist ehrgeizig und weiss genau, was er mit dem europäischen Teil vorhat – und warum Recycling und die Schweiz dafür zentral sind.

Manchmal erbitten sich neue Konzernchefs am Anfang Ruhe, um sich Ziele für das Unternehmen zu überlegen. Nicht so Miljan Gutovic. Der Australier ist seit Anfang Mai CEO des Zementriesen Holcim. Für Gutovic war von Beginn an klar, was das Jahr 2024 werden muss: ein Rekordjahr für Holcim. Der Konzern steht vor dem grössten Einschnitt seiner Geschichte – und muss sich vorher in jeder Hinsicht gut präsentieren.

Voraussichtlich im Frühjahr 2025 wird der Gigant mit zuletzt 27 Milliarden Franken Umsatz und weltweit über 63 000 Mitarbeitern zweigeteilt. Das Nordamerika-Geschäft soll vollständig abgespalten und in den USA an die Börse gebracht werden. So könne es sich besser entwickeln, glaubt Jan Jenisch, der Holcim zuletzt im Doppelmandat gelenkt hatte und nun als Verwaltungsratspräsident die Aufteilung plant.

Immer höhere Margen sind Pflicht

Das operative Geschäft liegt neu bei dem 44 Jahre jungen Gutovic. Bei einem Ortstermin in einem Holcim-Recycling-Center demonstriert er grossen Optimismus. «Es gibt nach oben keine Grenzen», sagt Gutovic mit Blick auf die Profitabilität. Holcim erzielte vergangenes Jahr eine Marge beim Betriebsgewinn (Ebit) von 17,6 Prozent, eine deutliche Steigerung gegenüber 2022. Dieses Jahr sollen es 18 Prozent werden. «Warum sollten es in einigen Jahren nicht 20 Prozent sein?», fragt der CEO rhetorisch. Jedes Jahr die Marge zu steigern, das sei Pflicht.

Dass dieses Treffen in Niederstetten am Rande des Kantons St. Gallen stattfindet, ist kein Zufall. Bald muss Gutovic auf das Nordamerika-Geschäft und damit knapp 40 Prozent des Umsatzes verzichten. Bei dem, was der neuen Holcim bleibt, spielt die Schweizer Heimat eine zentrale Rolle: «Die Schweiz ist nicht der grösste Markt für Holcim, aber sie ist und bleibt unser Innovationsmotor», sagt Gutovic.

Diese Innovationen kommen mitunter rustikal daher. In dem im Frühjahr 2023 eröffneten Recycling-Center werden 200 000 Tonnen Abbruchmaterial, Aushub und verschmutzter Gleisschotter pro Jahr angeliefert. Meistens per Zug, aber auch per Lastwagen. Das Material wird durch einen Zerkleinerer geschickt und dann in vielen Stationen gewaschen, gesiebt und getrennt. Durch die fünf Stockwerke hohe Verarbeitungshalle zieht sich ein Gewirr von Förderbändern und Röhren. Es dröhnt, rüttelt und kracht.

Am Ende spuckt das lärmende Labyrinth verschiedene Granulate, Sand, Kies und Schotter aus – sauber und wie neu. In den meisten Fällen verwendet Holcim die Produkte selbst weiter, also für Zement und die Gesteinskörnung, die zusammen Beton ergeben. In der Schweiz hat der Konzern 2018 den weltweit ersten Zement entwickelt, der zu einem Fünftel aus rezykliertem Bauschutt besteht. Inzwischen wird er in vielen EU-Ländern verkauft.

Die Baunormen stehen im Weg

Entscheidend für den Einsatz sind die Baunormen, die bestimmen, wie hoch der Anteil von Recycling-Zement am verbauten Zement in einem Gebäude sein darf. Europa und insbesondere die Schweiz sind schon relativ offen für die Baustoffe. Aber laut Gutovic nicht offen genug. Ausserdem müssten mehr Städte Vorschriften übernehmen, wie sie bereits in Zürich gälten, und einen Anteil von rezykliertem Material bei öffentlichen Bauvorhaben verlangen.

Rein vom Bauvolumen her entstehe auf der Welt jeden Monat eine Stadt der Grösse New Yorks, argumentiert der Holcim-Chef. Es sei nicht nachhaltig, diesen Bedarf aus neu erzeugtem Material zu decken – und ebenso wenig, mit dem Abbruchmaterial Deponien zu füllen. Die Deponiegebühren seien oft noch niedrig, sie stiegen aber aus Platzmangel an. Das macht es attraktiver, den Bauschutt zum Recycling zurückzugeben.

Die aufbereiteten Stoffe schonen nicht nur Ressourcen, sie sind auch ein Geschäft: Trotz dem Aufwand kann Holcim sie zu einem Preis anbieten, der gleich hoch oder sogar niedriger ist als für neue Baustoffe. «Wir haben wieder und wieder bewiesen, dass nachhaltiges Bauen mit rezykliertem Material ebenso wie die Dekarbonisierung Wachstumstreiber für unser Unternehmen sind», sagt Gutovic.

Die Produktion von Zement ist ein Klimakiller, sowohl wegen der benötigten Brennstoffe wie auch durch den Herstellungsprozess, bei dem Gestein gespalten und CO2 freigesetzt wird. Holcim hat Zement und Beton im Angebot, bei denen die angefallenen Emissionen durch den Brennstoffmix und die verwendeten Rohstoffe reduziert wurden – unter anderem durch den Recyclinganteil.

Traditioneller Zement hat schon eine gute Marge, aber klimafreundlicher Zement ist noch rentabler. Holcim spart den Kauf gewisser Emissionsrechte, weil weniger CO2 entsteht. Und viele Kunden zahlen gern einen grünen Aufpreis für einen klimafreundlicheren Baustoff. «Vor fünf Jahren bereitete das ganze CO2-Thema unserer Branche starke Kopfschmerzen», sagt Gutovic. «Heute halte ich es für die grösste Chance für Holcim.»

Wer schneller grüner ist, kann mehr Geld verlangen

Zement war früher ein homogenes Gut: austauschbar, das Geschäft kam mit der Masse. Durch die bessere Rentabilität von höherwertigen Produkten sind die verkauften Volumen weniger wichtig. Das hat Holcim zuletzt über die Schwäche der Baukonjunktur in grossen Märkten wie Deutschland hinweggeholfen. Im ersten Quartal 2024 machten der klimafreundlichere Zement und Beton weltweit bereits rund einen Viertel aller Verkäufe ihres Segments aus. Vor einem Jahr waren es 16 Prozent.

Holcim müsse am schnellsten und effizientesten von allen Zementherstellern klimaneutral werden, sagt der Konzernchef. Stolz merkt er an, dass von den zehn Pilotprojekten, welche die EU zum Auffangen und Speichern von CO2 fördert, sechs von Holcim stammen. Zwei hat der deutsche Konkurrent Heidelberg Materials aufgegleist. Mit diesen Vorhaben soll jener CO2-Ausstoss, der sich bei der Herstellung nicht verhindern lässt, in einigen Jahren aufgefangen und gespeichert werden.

In Europa werde sich für Holcim künftig alles um Kreislaufwirtschaft, nachhaltiges und klimafreundlicheres Bauen drehen, sagt Gutovic. Das ist auch deshalb wichtig, weil sich das Nordamerika-Geschäft, auf das er bald verzichten muss, beim Produktmix unterscheidet: In den USA hat der Konzern sein Portfolio zuletzt durch Zukäufe stark erweitert, vor allem für Dachelemente.

Mit Dachmaterial erwirtschaftete Holcim in den USA zuletzt 3 Milliarden der knapp 8 Milliarden Franken Umsatz pro Jahr. Im Rest der Welt ist Holcim noch stärker von Zement und Beton abhängig. Europa kommt dabei eine Schlüsselrolle zu – immerhin erwirtschaftete die «Rest-Holcim» zuletzt 53 Prozent ihres Umsatzes auf dem alten Kontinent.

Rückenwind für die Aktien

Bisher kann die Aufspaltung am Aktienmarkt überzeugen. Seit Bekanntgabe der Pläne haben die Holcim-Titel um rund 20 Prozent auf knapp 80 Franken zugelegt. Sie haben sich auch von jenen des Konkurrenten Heidelberg Materials abgekoppelt, dessen Chef die Aufteilung kritisch kommentierte. Heidelbergs Papiere sind gemessen am erwarteten Gewinn deutlich günstiger bewertet. Allerdings werden auch Holcim-Aktien mit einem Abschlag gehandelt.

Analysten gefällt, dass Gutovic die Rentabilität stetig verbessern und viele Übernahmen tätigen will. Dieser Ehrgeiz erinnert an Jan Jenisch, Holcims Übervater. Auch die Karrierewege der beiden Manager sind ähnlich: Gutovic verbrachte 12 Jahre beim Bauchemiekonzern Sika – darunter jene Zeit, als Jenisch von 2012 bis 2017 CEO von Sika war. Ein Jahr nachdem Jenisch zu Holcim gewechselt war, folgte Gutovic und fing zunächst als Regionenchef für den Nahen Osten an, bevor er die Aufsicht über Europa übernahm.

Jenisch habe ihn nicht mitgenommen, nicht angerufen und auch nicht zum Wechsel aufgefordert, beteuert Gutovic. Er habe in seiner Sika-Zeit auch nie an Jenisch berichtet. Vielmehr habe er schon immer für Holcim arbeiten wollen; das sei die natürliche Fortsetzung seiner Karriere, erklärt der promovierte Bauingenieur. Geboren in Sarajevo, wanderte er mit seinen Eltern im Jahr 1995 nach Australien aus, wo er studierte und seinen ersten Job bei Sika fand.

Im Jahr 2018 führte Gutovic die Arbeit für Holcim das erste Mal in die Schweiz. Nun lebt er mit seiner Ehefrau und drei Kindern in Baar, wo er sich sehr wohl fühle. Vor sechs Jahren hätte er kein Geld darauf gewettet, einmal auf dem CEO-Sessel zu landen, sagt er. «Aber ich bin ambitioniert.» Jan Jenisch wird das bemerkt haben.

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