Das erste Viertel des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich fundamental von den vorangehenden Epochen. Gedanken zur Identität unserer Zeit.

1979 brachte Jean-François Lyotard den Begriff der «Postmoderne» in Umlauf. Seine Initiative, einen Begriff für die eigene Epoche zu finden, begründete er damit, dass alle Ansätze des philosophischen Denkens auf eine «Symptomatologie der jeweiligen Gegenwart» zulaufen müssen. Sollte er damit recht haben, so stellt sich die Frage: Was sind die Grundzüge unserer Zeit? Also jene des ersten Viertels des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Und lassen sich diese symptomatologisch auf die Zukunft hochrechnen?

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Als Ausgangspunkt für die Identifikation der Gegenwart könnten sich Themen der «meistgelesenen» Beiträge in Tageszeitungen eignen, und als Kontrasthintergrund stehen uns Bilder und Interpretationen des vorigen Jahrhunderts zur Verfügung.

Doch zu solchen Reflexionen kommt es derzeit erstaunlich selten. Die als meistgelesen ausgezeichneten Themen haben neben jeweils lokalen Ereignissen Tag für Tag beinahe ausschliesslich mit Donald Trump zu tun, und das «Phänomen Trump» scheint sich gegen ernsthafte historische Analysen zu sperren. Unter Gegnern löst der US-Präsident eine Entrüstung aus, die nicht weiter als zu pauschalen Kritiken unserer Zeit als Dekadenz-Epoche führt, während bei seinen Anhängern das «Make America great again»-Motiv Sehnsucht nach einer besseren amerikanischen Vergangenheit weckt, deren Profil vage, wenn nicht beliebig bleibt.

1. Vor uns liegt die Katastrophe

Gerade in diesem Desinteresse an einer historischen Identität der Gegenwart und in der Oberflächlichkeit einschlägiger Meinungen kommt paradoxerweise ein übergreifendes Symptom für die Signatur des einundzwanzigsten Jahrhunderts zum Vorschein. Bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts dominierte das «historische Weltbild», das den Menschen die Überzeugung gab, dass die Summe aller Veränderungen einem historischen Gesetz folgte, welches auf ein in der Zukunft liegendes Ziel hinstrebte und das Schicksal der gesamten Menschheit prägte. Diese Grundstruktur artikulierte sich in den gegensätzlichen Konzeptionen von Sozialismus und Kapitalismus, welche die Welt bis zum Ende des Kalten Krieges bestimmten.

Die neue Zeitlichkeit dagegen hat die früher zur Verwirklichung von Menschheitsprojekten offen gehaltene Zukunft durch ein Panorama vielfältiger auf uns zukommender Bedrohungen ersetzt – von ökologischen Krisen bis zur Versklavung durch künstliche Intelligenz. Statt wie im historischen Weltbild als Phase einer Entwicklung zu erscheinen, dehnen sich die vor der angesagten Katastrophenzukunft liegende Gegenwart und die Vergangenheit zu einer ebenso komplexen wie verwirrenden Sphäre zentrifugaler Impulse und Initiativen aus. In diesem Weltbild unter der vor uns liegenden Bedrohung ist jede Vergangenheit wiederholbar, wie es Trumps Maga-Bewegung verspricht, während für positive Zukunftsvisionen kein Raum mehr bleibt.

Wenn Ereignisse oder Handlungen aber nicht mehr als Teil von Entwicklungen aufgefasst werden, dann verlieren die übergeordneten Zielvorstellungen ihren Status als motivierende Projekte und Normen. Seit der Aufklärung hatte zum Beispiel die parlamentarische Demokratie mit der zu ihr gehörenden Gewaltenteilung als entscheidende Orientierung zukünftiger Wirklichkeit gegolten.

2. Alles ist verhandelbar

Weil die richtungslos zentrifugale Gegenwart nun jegliche Alternative aufnimmt, werden alle überkommenen Normvorstellungen verhandelbar. Darin liegt nach der Umstellung der Zeitlichkeit ein zweites Symptom unserer Gegenwart. Nicht zufällig ist das Wort «negotiable» zum verbalen Emblem der Trump-Regierung geworden, welche als Exekutive die Unabhängigkeit der Parlamente wie der rechtlichen Institutionen ignoriert und damit das Prinzip der Gewaltenteilung zum Gegenstand interner Verhandlungen degradiert. Auch aussenpolitisch sollen die immer neuen Ankündigungen amerikanischer Zölle andere Regierungen zu Verhandlungen zwingen, ohne dass das Weisse Haus klar umschriebene Ziele verfolgt.

Der Primat des Verhandelns nimmt nicht nur Prinzipien und zu Ideologien verhärteten Wertpositionen ihren Status bedingungsloser Geltung, sondern unterläuft auch auf ihnen beruhende transnationale Allianzen wie die Nato oder die Europäische Union. An ihre Stelle kehren meist bilaterale Verhandlungen zwischen Nationen zurück, aus denen Bündnisse eines anderen Typs entstehen wie die 2006 von Brasilien, Russland, Indien und der Volksrepublik China gegründete Brics-Gruppe. Selbst Kriege werden heute wieder zwischen Nationen und nicht mehr zwischen ideologischen Lagern geführt.

3. Künstliche Intelligenz überholt uns

Während sich genaue Gründe für die Umstellungen in der Zeitlichkeit und in den Formen der Weltgestaltung nur schwer ausmachen lassen, hängt ein neues Selbstbild der Menschen als drittes Gegenwartssymptom deutlich von technologischen Innovationen ab. Mit der Einführung elektronischer Suchmaschinen um 1995 hatte individuell erworbenes, bewahrtes und beständig erweitertes Wissen seine sprichwörtlich gewordene Macht verloren. Bald entlasteten funktional ausgerichtete Programme die Menschen auch weitgehend vom Gebrauch ihres Wissens und lösten damit eine bis heute unbewältigte Krise der überkommenen Bildungsinstitutionen aus.

Schliesslich wurde um 2012 zum ersten Mal «deep learning» beobachtet, das heisst eine von menschlichen Interventionen unabhängige Selbstoptimierung der Programme durch Algorithmen. Dadurch ist künstliche Intelligenz zu einer einschüchternden Konkurrenz für den menschlichen Geist geworden, der nach kompetenten Prognosen während des nächsten Jahrzehnts vom Rechner überholt werden wird. Damit muss der von Descartes’ kanonischem Satz «cogito ergo sum» (ich denke, also bin ich) vorausgesetzte Anspruch, dass allein der Mensch autonom denken kann, trotz aller Sehnsucht nach Ausflüchten und Beschönigungen seine Gültigkeit verlieren.

4. Körperkult statt körperliche Arbeit

Schon bevor die Computer zu einer Dimension unseres Alltags wurden, hatten Technologien des Industriezeitalters Arbeit fortschreitend von physischer Anstrengung entlastet. Eine massive gesellschaftliche Reaktion auf diesen Prozess und ein viertes Symptom des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat sich als ein Wandel im Status der Körper von Instrumenten der Produktion zu Gegenständen ästhetischer Freude vollzogen.

Er erklärt den Triumphzug von praktiziertem Sport und Zuschauersport, die wachsende Aufmerksamkeit und die ansteigenden Ausgaben für elaborierte Formen des Essens, bei denen Kalorienaufnahme zur Nebensache wird, die nicht mehr klassen- oder berufsspezifische Faszination von Kleidung im Wechsel ihrer Moden und die chirurgische Verfahren einschliessende Vielfalt von Massnahmen zur Gestaltung individueller Körper.

An diese Verschiebung im menschlichen Selbstbild vom Denken hin zum Körper als primärem existenziellem Wert scheinen sich die Inhalte der global registrierten Zukunftsdrohungen angepasst zu haben. Schon um die Jahrtausendwende dominierten ökologische Katastrophenszenarien einer anstehenden Unbewohnbarkeit des Planeten Erde. Inzwischen sind als Folge beschleunigter Fortschritte der Medizin demografische Aspekte zentral geworden: Wie sollen angesichts steigender Lebenserwartungen die älteren, nicht mehr wirtschaftlich produktiven Generationen versorgt, aber auch intellektuell und kulturell beschäftigt werden?

5. Kinderlose Gesellschaft

Erst während der letzten Monate hat sich angesichts überraschend schnell fallender Geburtenraten die seit dem achtzehnten Jahrhundert bestehende Furcht vor einem unaufhaltsamen Anwachsen der Menschheit in eine Angst vor den Konsequenzen einer abnehmenden Weltbevölkerung verkehrt.

Ausgerechnet Elon Musk gehört mit seinen Warnungen in apokalyptischem Ton – und auch mit dem Ehrgeiz, zu möglichst vielen Schwangerschaften beizutragen – zu den noch wenigen Zeitgenossen, die auf diese Situation reagiert haben. Die Konvergenz von steigendem durchschnittlichem Lebensalter und fallenden Geburtenzahlen ist zum fünften Symptom der Gegenwart geworden.

Aus dem Blick auf unsere Gegenwart des nicht mehr frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, in dem wir vor Eindrücken des Menschheitsendes die Formen der Welt täglich verhandeln lassen und uns als Individuen die breite Zeit mit Konzentration auf den Körper vertreiben, ergibt sich ein dramatischer Kontrast zu der Zeit von 1925, als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Ideologien des Kommunismus und des Faschismus mit doppelter Energie und Zuversicht in einen kollektiven Kampf um die utopische Gestaltung der Zukunft eintraten.

Doch dieser Gegensatz sollte weder Niedergeschlagenheit angesichts geschwundener Energien noch Erleichterung über geschmolzene Ideologien veranlassen. Denn historische Vergleiche gehören zu einem Repertoire des Denkens, das längst hinter uns liegt. So kommt auch die Frage nach der Identität des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu spät, was ihren intellektuellen Charme ausmachen könnte.

Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Albert-Guérard-Professor für Literatur an der Stanford University und Distinguished Emeritus Professor an der Universität Bonn.

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