Sonntag, September 29

«Rückkehr in die Zukunft» heisst der autobiografische Bericht, den die Nobelpreisträgerin Sigrid Undset 1942 in den USA vorlegte. Sowohl Hitlers NS-Staat als auch Stalins UdSSR werden darin gnadenlos durchschaut. In Norwegen konnte das Buch erst 1949 erscheinen.

Die norwegische Schriftstellerin Sigrid Undset (1882–1949) debütierte 1907 mit dem Roman «Frau Marta Oulie», der mit dem Satz beginnt: «Ich habe meinen Mann betrogen.» 1928 erhielt sie für ihre «imposanten Schilderungen des Lebens im nordischen Mittelalter» den Literaturnobelpreis. «Kristin Lavranstochter», ihr bekanntestes Werk, wirft religiöse Fragen auf, ist aber auch Frauen- und Liebesroman.

In der «Schweizerischen Rundschau» schrieb Heinrich Federer, die Trilogie wimmle «von unehelichen Kindern, Konkubinaten und Zügellosigkeiten des Blutes», die aber, anders als im Roman «Jenny», «nirgends gewollte Lüsternheit» erregten. Nachdem Undset sich von ihrem Mann hatte scheiden lassen, konvertierte sie zum Katholizismus. Vergeblich versuchte sie, auf der mittelalterlichen Klosterinsel Selja ein Grundstück zu erwerben. Die lutherische Staatskirche befürchtete katholische Missionierung.

Klare Positionierung

Als Ausgeburt neuen Heidentums kritisierte Sigrid Undset den Nationalsozialismus. 1935 trat sie als Gegenspielerin Knut Hamsuns auf, nachdem dieser die Kampagne, die dem KZ-Insassen Carl von Ossietzky zum Friedensnobelpreis verhelfen sollte, mit Hohn und Spott bedacht hatte. In Deutschland, wo allein «Kristin Lavranstochter» 250 000 Mal verkauft worden war, wurde Undset zur Unperson. Dafür interessierte sich Hollywood für den Roman, doch die Dichterin misstraute der Filmindustrie und lehnte ab.

Als im April 1940 die Wehrmacht das neutrale Norwegen überfiel, floh Undset über Schweden, Moskau, Wladiwostok und Japan in die USA. Den Bericht «Rückkehr in die Zukunft», Reportage und Essay, Reisebericht und politisches Testament zugleich, schrieb sie im Sommer und Herbst 1941 in New York, als der Ausgang des Krieges noch im Ungewissen lag. Die beiden Diktatoren waren bis zum Juni 1941, als Hitler die Sowjetunion überfiel, Bündnispartner.

In Schweden erfuhr sie, dass ihr älterer Sohn im Kampf gefallen war. In ihrem Buch kritisiert sie Deutschland und die Deutschen scharf. Wenn Hitler verlange, «wie ein göttliches Wesen verehrt zu werden», erfülle er «eine uralte deutsche Forderung», die bereits in der Dichtung über die Nibelungen das Leitmotiv bilde, die «bedingungslose Unterwerfung unter einen Herrn», die jedes Verbrechen rechtfertige. Daran schloss sich 1947 eine Kontroverse mit dem Philosophen Karl Jaspers an.

In der Sowjetunion vertraut sie ihren Augen – und ihrem Geruchssinn. Sie nimmt den süsslichen Geruch von immer wieder gewaschenem Baumwollstoff wahr, den Geruch von ungepflegtem Frauenhaar. Die Ausdünstungen von mit schmutzigen Betten vollgestellten Schlafkammern dringen aus offenen Fenstern nach aussen. Aus Hinterhöfen steigt Undset der strenge Geruch von Urin und Exkrementen in die Nase, der Geruch von Schimmel und von pilzbefallenem Holz, während der Tran, mit dem die Soldaten ihre Stiefel einfetten, nach fauligem Öl riecht. In einer Kirche folgt sie dem Verwesungsgeruch und findet eine Kinderleiche.

Marodes Arbeiterparadies

Überall Abfall, ein übler, fauler, durchdringender Gestank auf Schritt und Tritt, betäubend in den Wartesälen der Transsibirischen Eisenbahn, wo Stalin im Grossformat an den Wänden prangt. Unmöglich, in dem Gestank zu schlafen, den in Wladiwostok die Bettwäsche abgibt. Das Hotel der pure Zoo: Kopfläuse, Körperläuse, Kleiderläuse, Flöhe, Wanzen. Und ein Arbeiter, der fragt, ob auch in Europa die Elektrizität bekannt sei, die Lenin erfunden habe, um dem Proletariat zu helfen. Undset gibt dem Sowjetregime noch zwei Generationen bis zum Zusammenbruch.

1942 erschien «Return to the Future» in den USA, 1944 auf Deutsch bei Oprecht in Zürich. In Norwegen wurde das Buch zwar 1945 gedruckt. Doch verhinderte die sowjetische Botschaft die Auslieferung. Sie wertete die Schrift als «unfreundliche Handlung» gegen einen Kriegsalliierten. Erst 1949, nach Undsets Tod, erschien die norwegische Ausgabe mit der Jahreszahl 1945 auf dem Titelblatt. Der Kalte Krieg hatte inzwischen begonnen. Norwegen gehörte 1949 zu den Gründungsmitgliedern der Nato.

Übrigens: Das Nobelpreisgeld verwandelte Undset in Stiftungen für geistig behinderte Kinder, für die Ausbildung von Kindern armer katholischer Familien und für bedürftige Schriftsteller. Gerade einmal tausend Kronen zweigte sie für sich selber ab. Schliesslich musste sie sich für die Zeremonie in Stockholm eine Festrobe schneidern lassen.

Sigrid Undset: Rückkehr in die Zukunft. Autobiografische Erzählung. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Kröner-Verlag, Stuttgart 2024. 240 S., Fr. 37.90.

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