Nach einer parteipolitisch motivierten Blockade kann die neue EU-Kommission loslegen. Doch im Parlament ist bei fast allen Fraktionen Unmut spürbar – die Zustimmung war so tief wie noch nie.
Nein, eine Zitterpartie war das nicht – und doch war das Resultat knapper als in den vorherigen Legislaturen. Mit 370 gegen 282 Stimmen hat das Europäische Parlament am Mittwoch für die neue EU-Kommission gestimmt, 36 Abgeordnete haben sich enthalten. Damit kann das Team am 1. Dezember, knapp sechs Monate nach den Europawahlen, die Arbeit aufnehmen.
Es ist dies ein Erfolg für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Wie bereits letzte Woche klar war, hat das Parlament keinen der 26 von den Mitgliedstaaten nominierten Kandidaten zurückgewiesen – was seit der Jahrtausendwende nicht mehr geschehen ist. «Heute ist ein guter Tag für Europa», sagte die Deutsche nach vollzogener Wahl.
Von der Leyen, die im Juli für ihr zweites Mandat bestätigt worden ist, hat ihr Team derart fein austariert, dass sich von den grossen, proeuropäischen Fraktionen alle eine Scheibe abschneiden konnten. Gleichzeitig hat sie interne Widersacher, allen voran den ehemaligen Binnenmarktkommissar Thierry Breton, rechtzeitig kaltgestellt.
Die Bestätigung des Gesamtgremiums war nicht mehr viel mehr als eine Formalität. Anders als bei der Wahl der einzelnen Kommissare genügte eine einfache Mehrheit – und die Abstimmung fand namentlich statt, was potenziellen Abweichlern bekanntlich die Flügel stutzt.
41 Prozent sagten Nein
Dennoch muss von der Leyen das Resultat zu denken geben: Die Zustimmung zu ihrer Kommission ist mit 54 Prozent so tief wie nie, seit das EU-Parlament 1993 das Wahlrecht erhalten hat. In den vergangenen Legislaturen lag der Ja-Anteil stets über 60, zumeist gar über 70 Prozent. Und vor allem lehnten noch nie annähernd so viele Parlamentarier das Führungsteam ab wie dieses Jahr, da 41 Prozent den Nein-Knopf drückten. Dafür gab es diesmal vergleichsweise wenig Enthaltungen.
Das Ergebnis ist insbesondere mit dem Erstarken der rechten, europaskeptischen Kräfte bei den Wahlen vom Juni zu erklären. Gleichzeitig zeigte die Debatte im Plenum von Strassburg, dass es auch in den Mehrheitsfraktionen durchaus ernstzunehmende Vorbehalte gibt. Von der Leyen hatte allen Zugeständnisse gemacht, aber eben auch niemanden so richtig zufriedengestellt – mit Ausnahme ihrer eigenen Fraktion, der Europäischen Volkspartei (EVP).
Doch sogar dort gab es gewissen internen Widerstand: Die spanische Delegation stimmte aus Protest, weil von der Leyen der spanischen Ministerin Teresa Ribera einen der bedeutsamsten Posten zugeteilt hatte, gegen die neue Kommission. Die Slowenen wollten «ihre» Kommissarin Marta Kos nicht akzeptieren.
Gespaltene Linke
Mehr Groll gab es freilich auf linker Seite: Die Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion hatte vergangene Woche zwar ein unverbindliches Abkommen mit den Liberalen und der EVP geschlossen, sich intern jedoch nur bedingt abgesichert. Mehrere Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion bestätigten bei Gesprächen in Strassburg, dass sie zum Zeitpunkt des Abschlusses nicht im Detail gewusst hätten, was auf dem zweiseitigen Dokument gestanden habe. Entsprechend gespalten war die zweitstärkste Fraktion – eine Minderheit, vor allem aus Frankreich, stimmte gegen die neue Kommission. Die deutsche Delegation enthielt sich mehrheitlich der Stimme.
Bei den Grünen, die im Juli von der Leyen noch unterstützt hatten, danach aber nicht zu den Drei-Fraktionen-Gesprächen eingeladen waren, unterstützte nur eine knappe Mehrheit die neue Führungsequipe. Die rechtskonservative Fraktion der «Konservativen und Reformer», denen notabene die Fratelli d’Italia angehören, war ebenfalls gespalten. Dass ein Teil von ihnen für die Kommission gestimmt hat, lag vor allem daran, dass ihr Spitzenvertreter Raffaele Fitto mit einem Vizepräsidentenposten bekleidet worden war. Die äusserste Rechte und die äusserste Linke sind ohnehin gegen von der Leyen, wie es sich bei zahlreichen Voten manifestierte. Mehrmals gab es wegen harscher verbaler Angriffe Buhrufe der jeweiligen Gegenseite.
Neben Kommissionspräsidentin von der Leyen hat der Auswahlprozess einen Sieger hervorgebracht, der zumindest in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt ist, obwohl er zu den einflussreichsten Politikern des Kontinents gehört: EVP-Präsident Manfred Weber. Er war es, der in den vergangenen Wochen die Allianzen geschmiedet hat, die von der Leyens Equipe nun ins Amt gehievt haben. Wie er es im Hintergrund geschafft hat, die Ratslinke zur Aufgabe ihrer zentralen Forderung – kein Vizepräsidiums-Posten für Fitto – zu bewegen und sie dennoch mehrheitlich vom Ja zur neuen Kommission zu überzeugen, war ein Meisterstück politischen Taktierens. «Er hat geblufft – und er hat gewonnen», sagt der französische Sozialdemokrat Christophe Clergeau, der gegen die Kommission gestimmt hat.
Macrons Machtwort
Dabei war nicht selbstverständlich, dass Weber zum einflussreichsten EU-Parlamentarier würde. Der Bayer wollte einst selbst Kommissionspräsident werden, im November 2018 nominierte ihn seine Partei mit grosser Mehrheit. Doch die Staats- und Regierungschefs, allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron, bevorzugten Ursula von der Leyen. Weber sah das Unheil kommen und nahm sich selbst aus dem Rennen – eine Schmach.
Doch davon scheint er sich längst erholt zu haben. Der 52-Jährige ist in Brüssel und Strassburg derzeit omnipräsent – und er wird es voraussichtlich auch bleiben. Weil das Parlament die Gesetzesvorschläge der Kommission, zusammen mit dem EU-Rat, verabschieden muss, haben die 188 Mitglieder der EVP-Fraktion massgeblichen Einfluss. Erst recht, weil die Mehrheitsparteien im EU-Parlament weniger «regierungstreu» zu agieren haben als auf nationaler Ebene. Dass die Christlichdemokraten je nach Thema auch mit Rechtsaussenparteien zu koalieren bereit sind, haben sie – zum grossen Unmut der Ratslinken – mehrmals unter Beweis gestellt.
Mit dem Schlussstrich vom Mittwoch hat der langwierige Anhörungsprozess nun doch ein schnelleres Ende gefunden, als man zeitweilig befürchten musste. Für die gewählten Kommissare beginnt das Mandat schon in wenigen Tagen.