Mittwoch, Oktober 30

Ein Feierabendbier und Rotwein zum Essen: Alkohol ist aus unserem Alltag kaum wegzudenken. Die WHO aber warnt vor den Gesundheitsrisiken. So gelingt der Balanceakt zwischen Genuss und Gefahr.

Verzicht. Maria Brehmer mag dieses Wort nicht. Zwar trinkt sie seit drei Jahren keinen Alkohol mehr. «Aber seitdem habe ich eindeutig mehr gewonnen als verloren», sagt die 38-Jährige.

Sie fühlt sich fitter und freier, schläft besser, hat mehr Zeit und Energie, mehr Raum für Ideen und Gedanken, hat ein neues Verständnis von Spass und Selbstfürsorge entwickelt und sich beruflich verändert. «Manchmal bin ich selbst überrascht, wie viel Fülle und Zufriedenheit diese Entscheidung in mein Leben gebracht hat.»

Dabei gehörte Alkohol für sie lange Zeit einfach dazu – zum Ausgehen, zum Essen, zum Feierabend, zum Lebensstil. «Trinken hat gut zu meinem Selbstbild einer geselligen, lustigen und selbstbewussten Frau gepasst.» Erst nach und nach realisieret Maria Brehmer, dass ihr Trinkverhalten problematisch war.

«Meine Gedanken kreisten viel um Alkohol, bei jedem Kater habe ich mich gefragt, was das nun mit meinem Körper macht, und mir danach vorgenommen, weniger oder nach strikten Regeln zu trinken: nur kleine Biere bestellen, immer ein Glas Wasser zum Wein, nichts Hochprozentiges. Geklappt hat das aber fast nie.»

Wenn sie über diese Zeit spricht, fällt oft der Begriff Grauzonentrinken. Dieses Wort mag sie gerne. Weil es gut auf den Punkt bringt, wie viele Menschen mit Alkohol umgehen. Weil es unterstreicht, dass es dabei nicht nur Weiss oder Schwarz gibt, volle Kontrolle oder totalen Absturz, sondern eben auch viele Grautöne dazwischen.

Die Gefahren von Alkohol werden unterschätzt

«Alkohol ist in unserer Kultur und Gesellschaft derart akzeptiert, dass die Gefahren dieser Substanz völlig unterschätzt werden», sagt die Wiener Suchtpsychologin Barbara Schreder-Gegenhuber. Das zeigt sich auch an den konsumierten Mengen, die im deutschsprachigen Raum durchweg sehr hoch sind.

In Deutschland beispielsweise sind es durchschnittlich etwa 10 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahr, in Österreich 11,4 Liter und in der Schweiz 8,5 Liter. Letztere Menge entspricht etwa 60 Litern Bier, 37 Litern Wein und knapp 4 Litern Spirituosen. «Der unkritische Umgang mit Alkohol führt dazu, dass viele Menschen deutlich mehr trinken als die als risikoarm geltenden Mengen», sagt Schreder-Gegenhuber.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen etwa empfiehlt, 12 Gramm Alkohol pro Tag für Frauen und 24 Gramm für Männer nicht zu überschreiten und auf mindestens zwei alkoholfreie Tage pro Woche zu achten.

Zur Veranschaulichung: 12 Gramm reiner Alkohol, also Ethanol, entsprechen ungefähr einem kleinen Glas Bier, einem Achtelliter Wein oder einem Glas Sekt. Dass es unterschiedliche Grenzwerte für Frauen und für Männer gibt, liegt daran, dass Frauen bei gleicher Trinkmenge eine höhere Blutalkoholkonzentration aufweisen.

«Frauen haben in der Regel eine geringere Körpergrösse und einen niedrigeren Wasseranteil, auf den sich der Alkohol im Körper verteilen kann. Dazu kommt, dass die weibliche Leber Alkohol langsamer abbaut», erklärt Schreder-Gegenhuber.

Alkohol ist ein Zellgift, das Organe und Nervenzellen schädigt

Darf man diese Menge wirklich trinken, ohne seine Gesundheit zu gefährden? «Rein medizinisch ist das schnell beantwortet», sagt Helmut Seitz, Mediziner und Alkoholforscher an der Universität Heidelberg. «Alkohol ist toxisch, psychoaktiv und karzinogen, verursacht also Krebs – am besten sollte man von einer solchen Substanz die Finger lassen.»

Zumal Alkohol schnell und nahezu vollständig vom Körper aufgenommen wird: Über die Schleimhäute des Darms gelangt er ins Blut und damit in alle Gewebe, wo er als Zellgift Organen und Nervenzellen zusetzt.

Auch beim Abbau im Körper richtet Alkohol Schäden an: Dabei entstehen freie Radikale und schädliche Stoffe wie Acetaldehyd, die das Erbgut schädigen können. Bei Frauen kommt hinzu, dass Alkohol selbst bei mässigem Konsum den Östrogenspiegel deutlich erhöht.

«Alkoholkonsum steht mit über zweihundert Erkrankungen in Verbindung. Darunter Diabetes, Leberschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Bauchspeicheldrüsenentzündungen und Schlaganfälle», erklärt Seitz. Vieles davon ist allgemein bekannt.

Trotzdem werden Bedenken oft zusammen mit dem Glas Wein oder Bier einfach hinuntergespült, manchmal mit dem Verweis auf Mythen wie «Rotwein ist gut fürs Herz» oder «Schnaps bringt die Verdauung in Schwung». «Beides ist übrigens Nonsens», sagt Seitz.

Ein Krebsverursacher der höchsten Risikostufe

Weniger verbreitet ist hingegen das Wissen, dass Alkohol krebserregend ist. «Insbesondere das Risiko für Tumore in Brust, Dick- und Enddarm, Leber, Mund, Rachen, Kehlkopf und Speiseröhre steigt durch den Konsum nachweislich deutlich an», sagt Seitz.

Auch bei Magen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs wird ein Zusammenhang vermutet. Das Internationale Krebsforschungszentrum stuft Alkohol als Karzinogen der höchsten Risikostufe ein – zusammen mit Tabak, Asbest und Strahlung.

Es gilt: «Je mehr Alkohol, desto grösser das Risiko. Kommen noch weitere Faktoren wie Rauchen, Übergewicht, ein Folsäuremangel, Vorerkrankungen oder eine bestimmte genetische Ausstattung dazu, steigt es weiter», so Seitz.

In den vergangenen Jahren hat sich auf dem Gebiet der Alkoholforschung viel getan, grosse neue Studien wurden durchgeführt, bestehende in Metastudien zusammengefasst und methodische Mängel bei älteren Arbeiten thematisiert.

Die Forschung weiss heute: Jedes Glas schadet

Dabei wurde klar: «Die bisherigen Empfehlungen entsprechen nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft. Es gibt keine gesundheitlich unbedenklichen Mengen, jedwede Menge an Alkohol geht mit einem Gesundheitsrisiko einher», sagt Seitz.

Auch die WHO hat auf die veränderte Datenlage reagiert und ihre Empfehlungen zum Alkoholkonsum Anfang 2023 angepasst. Sie lauten nun: null.

Carina Ferreira-Borges vom WHO-Regionalbüro für Europa fasst das in einem Statement der Organisation so zusammen: «Das Risiko für die Gesundheit beginnt schon beim ersten Tropfen jedes alkoholischen Getränks. Das Einzige, was wir mit Sicherheit sagen können, ist: Je mehr man trinkt, desto schädlicher ist die Wirkung.»

Neue Studiendaten deuten zudem darauf hin, dass die Hälfte der alkoholassoziierten Krebsfälle in Europa durch leichten bis moderaten Konsum verursacht werden – also durch weniger als 1,5 Liter Wein oder 3,5 Liter Bier pro Woche. Darunter auch viele Fälle von Brustkrebs.

«Abstinenz ist letztlich der einzig sichere Umgang mit Alkohol», so Seitz.

Ein soziales Schmiermittel

Aber die Realität ist komplizierter. «Alkohol ist ein soziales Schmiermittel, kann die Stimmung auflockern und hat als Genussmittel einen gewissen Wohlfühl- und Entspannungsfaktor», sagt die Psychologin Schreder-Gegenhuber. Davor sind selbst Fachleute nicht gefeit.

Sowohl die Wiener Psychologin als auch der Heidelberger Mediziner trinken gelegentlich ein Gläschen, vor allem zu feierlichen Anlässen. «Niemand muss zum Heiligen werden, aber ungesunde Gewohnheiten sollte man kritisch unter die Lupe nehmen», sagt die Psychologin.

«Wer einen gesunden Lebensstil pflegt, kein Übergewicht und keine Vorerkrankungen hat, kann schon ab und zu halbwegs gefahrlos ein Glas trinken», sagt Seitz.

Wie sehr Alkohol schadet, bestimmen auch die Gene

Allerdings gibt es einen Faktor, auf den man keinen Einfluss hat: die Gene. Sie spielen eine grosse Rolle in Sachen Alkoholempfindlichkeit. So haben manche Menschen genetisch bedingt eine hohe Aktivität des Enzyms Alkoholdehydrogenase (ADH), das Ethanol schnell in reichlich giftiges Ethanal umwandelt. Andere weisen ein Defizit des Enzyms Aldehyddehydrogenase (ALDH) in den Genen vor, wodurch schädliches Ethanal nicht genügend entgiftet werden kann.

Wieder andere Gene spielen bei der Entstehung von Lebererkrankungen eine grosse Rolle. Der Alkoholstoffwechsel eines jeden Menschen ist also individuell – und fabriziert je nach Genen mehr oder weniger gesundheitsschädliche oder gar krebserregende Stoffe.

«Ob man genetisch zu einer Risikogruppe zählt oder nicht, weiss man aber leider nicht», sagt Seitz. Andere Risikogruppen hingegen sind bekannt: etwa Kinder und Jugendliche, Schwangere, ältere Menschen. Und auch Frauen, die körperlich insgesamt deutlich empfindlicher auf Alkohol reagieren als Männer.

Mit der Abstinenz kommt der Rechtfertigungsdruck

Maria Brehmer trinkt nicht mehr. Nach einigen Abstürzen Ende 2020 zog sie die Notbremse. Was als zähneknirschendes Experiment begann, schlug in einen echten Lebenswandel um. Schnell spürte sie körperliche und psychische Verbesserungen – und auch ihre Haltung änderte sich.

Während sie zu Beginn oft noch Ausreden und Notlügen für ihre Abstinenz erfand, geht sie heute offen damit um. «Man hat ja gesellschaftlich kein Problem, solange man trinkt. Das hat man erst, wenn man aufhört», sagt sie.

Der ständige Rechtfertigungsdruck könne nerven. Andererseits hat sie das Gefühl, dass ein gesellschaftlicher Wandel im Gange ist. Heute kann man vom Discounter bis zum Sternelokal überall auf schicke alkoholfreie Alternativen zurückgreifen, es gibt Aktionen wie den «Dry January» oder die Bewegung «Sober Curiosity», die in den sozialen Netzwerken angesagt ist.

Dabei experimentieren Menschen mit einem alkoholfreien Lebensstil und dem bewussten Umgang mit Alkohol, teilen ihre Erfahrungen und motivieren andere zum Mitmachen. Auch Maria Brehmer berät mittlerweile als Coach Menschen, die ihr Trinkverhalten in den Griff bekommen wollen. «Für mich funktioniert kompletter Verzicht besser, als massvoll zu trinken. Das ist aber sicherlich nicht der einzige Weg», sagt sie.

Hilfe für Grauzonentrinker

Ihre Geschichte, die sie in den Medien und im Internet teilt, scheint einen Nerv getroffen zu haben: «Während es für Süchtige viele Angebote gibt, gibt es für Grauzonentrinker so gut wie keine. Diese Lücke versuche ich zu füllen.» Zu ihren Kundinnen zählen vor allem Frauen ab Ende vierzig, die unter der Mehrfachbelastung von Beruf, Familie, Haus- und Care-Arbeit leiden.

Die Psychologin Schreder-Gegenhuber, die auf suchtkranke Frauen spezialisiert ist und in Österreich die erste Suchthilfe nur für Frauen aufgebaut hat, wundert das nicht: «Alkohol ist für viele Frauen ein Ventil, mit dem sie emotionale Belastungen kompensieren. Dabei sind die Grenzen zwischen problematischem Trinkverhalten, Missbrauch und Sucht fliessend.»

Warnzeichen für Frauen und Männer sind heimliches oder einsames Trinken, häufiges Rauschtrinken und negative Emotionen. Wer oft aus Stress, Ärger oder Wut heraus trinkt, sollte stutzig werden.

Und vielleicht irgendwann wie Maria Brehmer einfach sagen: «Nein danke, ich trinke nicht.»

Über Ihre Erfahrungen spricht Maria Brehmer auch im Podcast «NZZ Megahertz».

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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