Samstag, Oktober 5

Guyana baut eine Strasse durch den Amazonas-Regenwald, den Venezuela beansprucht. Doch nicht das aggressive Regime in Caracas ist die grösste Gefahr für die Region. Die Strasse könnte eine ökologische Katastrophe auslösen.

Immer wieder gibt Delroy Gas, schaltet mehrmals zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgang hin und her. Der Motor heult auf. Dann bewegt sich nichts mehr. Der Kleinbus steckt bis zu den Achsen im Lehm. Es ist zwei Uhr nachts, irgendwo auf der Landstrasse zwischen Lethem und Georgetown.

Lethem, das ist ein Dorf in Guyana an der Grenze zu Brasilien. 550 Kilometer sind es von dort nach Georgetown, der Hauptstadt Guyanas an der Karibikküste. Mit der Propellermaschine dauert das eine Stunde. Dreimal täglich gibt es eine Verbindung. Doch die Plätze der Trans Guyana Airways sind auf Wochen ausgebucht. «Brasilianische Goldgräber kaufen die Tickets im Voraus», sagt der Pilot, der neben der staubigen Landebahn auf die Maschine des amerikanischen Flugzeugherstellers Beechcraft wartet. Sie könnten es sich leisten. Der Goldpreis stehe gut.

Im Kleinbus sind noch Plätze frei. Wie lange die Reise dauert, darüber gibt es nur vage Angaben. 28 Stunden, zwei Tage. Es ist Regenzeit. Manchmal stecke man tagelang fest.

Über diese Schlammpiste soll Venezuelas Militär angreifen?

So wie der Bus jetzt. Delroy, der Fahrer, zieht Gummistiefel an. Er dreht die Reggaeton-Musik leiser, die seit der Abfahrt vor fünf Stunden auf voller Lautstärke lief. So laut, wie die Klimaanlage kalt ist. Fahrer und Beifahrer haben die ganze Zeit Energydrinks in sich hineingeschüttet und übertönten bald die Musik mit ihrer euphorischen Unterhaltung. Im Schritttempo ging es voran. Von einem Schlammloch zum nächsten.

Doch jetzt ist Ruhe. Als alle aussteigen, fallen die Moskitos über die Passagiere her. Unter ihnen sind auch sechs brasilianische Goldgräber. Mit Baseballmütze, Fussballtrikot, Goldkette, Shorts und Flip-Flops sind sie leicht zu erkennen. Ihre Rucksäcke halten sie fest umklammert. Die Verständigung mit den anderen fünf Mitreisenden ist schwierig. Es sind alles Afro-Guyaner. Sie sprechen das englische Kreolisch von Guyana.

Der eine, ein Geschäftsmann, sagt, er habe eine Arzneimittelfabrik in der Hauptstadt, und fragt, ob es in der Schweiz Lieferanten für Schlankheitsspritzen gebe. Natasha, die evangelikale Studentin, will in der Hauptstadt ihr Examen als Tierärztin machen. Am Montag. Das klingt optimistisch. Inzwischen ist Samstagmorgen. Und der Bus ist schätzungsweise keine 80 Kilometer weit gekommen.

Genau auf dieser Schlammpiste müsste Venezuela mit einem Militärschlag seinen Anspruch auf ein Drittel des Staatsgebietes von Guyana durchsetzen. Der Machthaber Nicolás Maduro hatte Ende vergangenen Jahres nach einem umstrittenen Referendum den guyanischen Landesteil Essequibo per Gesetz zu einer Provinz Venezuelas erklärt.

Der Streit ist kompliziert. Er ist ein Überbleibsel der britischen Kolonialherrschaft in Guyana. Die hat nicht nur Englisch als Amtssprache, sondern auch umstrittene Grenzen hinterlassen.

Die USA haben nach Drohungen des Regimes in Venezuela zur Abschreckung Kampfflugzeuge über Georgetown fliegen lassen. Brasilien hat Militäreinheiten und gepanzerte Fahrzeuge an die Grenze zu Venezuela und Guyana verlegt. Der einzige passierbare Landweg zwischen Guyana und Venezuela führt über brasilianisches Territorium. Die Hauptstadt Boa Vista in Roraima, dem nördlichsten Gliedstaat Brasiliens, gleicht heute einer grossen Garnison.

Regenwald mit der höchsten Biodiversität weltweit

Dabei müssten die venezolanischen Panzer und Pioniere auf dem Weg nach Georgetown durch dieselben Lehmlöcher im Essequibo-Gebiet vorrücken wie der Fahrer Delroy. Dieser kramt gerade ein Seil aus seinem Minibus. Sein Beifahrer verteilt hingebungsvoll Mückenschutzcrème auf den Beinen der drei weiblichen Fahrgäste.

Die eine Hälfte der Passagiere soll ziehen, die andere schieben. Die hinteren werden vollgespritzt.

Gepäck und Benzinkanister müssen vom Dach geholt werden, um das Fahrzeug leichter zu machen. Irgendwann setzt sich der Bus in Bewegung. Praktisch, dass es überall Bäche gibt, um den Lehm abzuwaschen.

Die Fahrt geht im Schritttempo mit Reggaeton als Soundkulisse weiter. Irgendwann wird die Piste steinig. Schlangen schlängeln sich im Scheinwerferlicht durch die Büsche. Eine Herde halbwilder Pferde prescht davon. Weisse Nelore-Rinder stehen auf der Strasse. Im Morgengrauen fährt der Bus durch dichten Regenwald.

Es ist einer der artenreichsten Regenwälder der Welt. Und fast völlig intakt. Nur 0,04 Prozent der Regenwaldfläche Guyanas wurden bisher gerodet. Das liege an den strengen Regeln für die Holzwirtschaft, heisst es. Viele Gebiete stehen unter der Kontrolle indigener Gemeinschaften.

Chuvika Harilal, die Landesdirektorin der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt in Guyana, wird wenige Tage später in der Hauptstadt bestätigen, dass Guyanas Entwicklungsstrategie für den Regenwald vorbildlich ist. Guyana habe die grosse Chance, die Fehler der Nachbarländer zu vermeiden und das Beste aus seinen Waldressourcen zu machen.

Die Regierung von Präsident Irfaan Ali will international als führende Regenwaldschützerin auftreten. Guyana plant, die globale Allianz für Biodiversität anzuführen. Das Land hat sich zum Netto-Null-Emissionsziel verpflichtet. Das ist vor allem deshalb möglich, weil der Regenwald mehr Kohlendioxid bindet, als das Land ausstösst. Nun sollen bis 2030 auch 30 Prozent der Landesfläche vor Abholzung geschützt werden. Dazu sollen die Reservatsflächen verdoppelt werden. «Das ist sehr ambitioniert», sagt Harilal.

Guyana kann seine Klimaziele nur mit einem Trick erreichen. Denn das Land, fünfmal so gross wie die Schweiz, aber mit einer Einwohnerzahl wie Luxemburg, gehört zu den Staaten, die ihre Ölproduktion weltweit am schnellsten steigern. Bald wird es so viel fördern wie heute Katar. Doch die 800 000 Einwohner verbrauchen nur einen Bruchteil davon. Auch verarbeitet es das Rohöl bis jetzt nicht selber. Die Emissionen entstehen in den Verbraucherländern und werden dort in den Treibhausgasbilanzen angerechnet.

Der Wald ist geschützt, solange er nicht zu erreichen ist

Es gibt auch eine andere Erklärung für den vorbildlichen Schutz des Regenwaldes in Guyana. Das Land konnte seinen Wald bisher so effizient schützen, weil 90 Prozent seiner Fläche schwer zugänglich sind und es dort keinerlei Infrastruktur gibt. Dort wird auch bis heute kein Soja angebaut, es werden keine Sägewerke oder Schlachthöfe betrieben. Es gibt einfach keine Strassen, um Sojabohnen, Holz oder Rinderhälften an die Küste zu transportieren.

Am Wegrand stecken jetzt immer wieder riesige Lastwagen mit Baumstämmen im Schlamm fest. Manche liegen wie verletzte Dinosaurier auf der Seite. Drei Lastwagen mit Bier warten mitten auf der Piste. Seit zehn Tagen warten die Fahrer darauf, dass die Strasse abtrocknet. Sie haben Hängematten aufgespannt. Vorbeifahrende Busse versorgen sie mit Lebensmitteln. Es gibt keine Tankstellen, keine Dörfer, keine Restaurants. Ab und zu bleibt der Bus stecken. Tagsüber helfen ihm vorbeifahrende Pick-ups aus dem Schlamm.

Langeweile macht sich breit. Die beiden älteren Goldgräber überbieten sich gegenseitig mit Geschichten über ihre Funde. Immer wieder erzählen sie in ihrem Portugiesisch aus dem armen Nordosten Brasiliens von «fofocas» (Gerüchten), wo in Guyana gerade besonders viel Gold oder Diamanten gefunden würden. Die Jungen hören mit leuchtenden Augen zu.

Guyana sei für sie sichereres Terrain als Brasilien, erklären sie. Garimpos, also Claims, können hier als Lizenz angemeldet werden. Die Goldsuche ist legal. Man müsse sich nicht wie in Brasilien vor der Polizei verstecken, sagt einer, der sich Tom nennt und mit Sonnenbrille und Polohemd wie ein Student aussieht. Er hat eine Guyanerin geheiratet, «mit guten Kontakten in die Gesellschaft», sagt er. In guten Monaten verdiene er auf seinem Claim mit vier Arbeitern und einer Pumpe, die den Schlamm absaugt, 5000 Dollar. «Es waren aber auch schon 100 000 Dollar in einem Monat», sagt er und blickt verträumt vor sich hin. So richtig glaubt ihm das niemand.

Bis jetzt ist die Suche nach Gold der Hauptgrund für illegalen Holzschlag im Regenwald Guyanas. Seit zehn Jahren steigt der Goldpreis kontinuierlich. Der Druck der Goldgräber auf den Regenwald dürfte bald noch deutlich zunehmen. Denn die Urwaldpiste von Brasilien an die Karibik soll zu einem mehrspurigen Highway ausgebaut werden.

Durch den Strassenbau ändert sich die Landschaft sofort

Ab dem Essequibo-Fluss, der mit einer Fähre überquert werden muss, sieht man die Bauarbeiten deutlich. Die Landschaft ändert sich schlagartig. Beiderseits der Strasse ist der Regenwald abgeholzt. Baumriesen liegen kreuz und quer am Rand des Trassees. Dieses ist so breit wie ein Fussballfeld. Die alten Holzbrücken wurden durch Betonbrücken ersetzt. Immer wieder stehen Dutzende von Baumaschinen in Reih und Glied am Strassenrand. Es ist Samstag, niemand arbeitet.

Jetzt tauchen erstmals kleine Siedlungen aus Holzhäusern und Tankstellen auf. In ihrer Umgebung sammelt sich Müll, Schrottautos stehen verlassen herum. An einer Tankstelle amüsiert ein angeketteter Affe die Goldsucher. Er nimmt ihre fast leere Cola-Flasche, schraubt den Deckel ab und trinkt daraus.

Brasilien wird die Strasse von der Grenze bis zum Essequibo-Fluss finanzieren. Die britische Regierung und Guyana selbst übernehmen die Asphaltierung von dort bis Georgetown. Eine Win-win-Situation, erklärt die Regierung: Die Brasilianer wollen Soja, Mais, Fleisch und Elektroartikel aus der Freihandelszone der Amazonas-Metropole Manaus nach Guyana bringen. Für den lokalen Markt, vor allem aber für den Tiefseehafen, der dort gebaut wird. Es gibt sonst keine Landverbindung aus Brasilien nach Norden.

Und die Karibik braucht Lebensmittel. Sie ist kein Selbstversorger. Die Regierung von Guyana hofft auf bessere Versorgung und niedrigere Preise in den Supermärkten. Zudem hat sie mit Brasilien Joint Ventures im Agrarbereich geschlossen. Brasilien ist weit fortgeschritten auf dem Gebiet der tropischen Landwirtschaft.

Ausserdem hofft Guyanas Regierung, das dünnbesiedelte Landesinnere zu entwickeln. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt an der Küste. Die Städte dort liegen zum Teil nur knapp über dem Meeresspiegel. Die Weltbank zählt Guyana zu den Ländern, die weltweit am stärksten von tropischem Starkregen und dem Anstieg des Meeresspiegels bedroht sind. Die Regierung will eine neue Stadt im Landesinneren bauen und die Menschen umsiedeln. Silica City soll sie heissen, in Anlehnung an das Silicon Valley.

Die Strasse durch den Regenwald erinnert an Brasiliens Transamazônica vor 50 Jahren. Damals wurden Bäume für Hunderte von Kilometern Fernstrassen durch den Regenwald geschlagen. Die brasilianische Militärregierung wollte das Landesinnere und den Regenwald erschliessen. Doch damit begann die Zerstörung des Amazonas-Urwaldes und der Savannen. Sie konnte nie mehr gestoppt werden. Denn mit den Strassen kamen die Goldgräber, dann die Holzfäller, später die Rinderzüchter und die Sojafarmer und zuletzt die Drogenschmuggler.

«Wie ein Laster mit Ziegelsteinen, der auf einen zurast»

In Georgetown sagt ein Diplomat, dass die Strasse Lethem–Georgetown möglicherweise die gleichen schrecklichen Folgen haben werde. Er sieht das Dilemma: Man könne Guyanas Regierung verstehen, dass sie eine Strasse bauen wolle, um ihre Ressourcen zu nutzen. Aber es sei schwierig, sich auf etwas vorzubereiten, das man nicht kenne. «Es ist, als ob ein Laster mit Ziegelsteinen auf einen zurast.»

An der Peripherie Georgetowns steigen die Goldgräber aus. Für Delroy und die anderen ist die Reise nach 28 Stunden im Zentrum der Hauptstadt zu Ende. Er hat keine Minute geschlafen. Er wirkt immer noch hellwach. Er holt eine Packung brasilianische Grillwürste und einen Pack Dosenbier unter dem Fahrersitz hervor und verabschiedet sich in die heisse Tropennacht.

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