Dienstag, Januar 21

Seit Jahrtausenden wird Kuhmilch getrunken. Dann kam die Idee, alles andere zu «melken»: Hafer, Soja, Erbsen. Und nun trinkt man plötzlich Rohmilch aus Kanistern, Milch wird zum Duft, und Nicole Kidman wird gefeiert, weil sie das Glas hebt – voll Milch statt Champagner. Was ist da los?

«Sieht aus wie Milch, ist aber für Menschen gemacht», so warb Oatly, der schwedische Hersteller von trendigem Milchersatz auf Haferbasis, schon vor rund zehn Jahren. Er gehört zu den Pionieren in Sachen Pflanzendrinks – und traf damit den Zeitgeist. Nicht nur Veganerinnen und Veganer sprangen auf den Zug auf; auch eine wachsende Gruppe von Flexitariern begann, ihren Kaffee mit Haferdrink weiss und tierleidlos zu machen. Der Oatly-Slogan ging um die Welt, die Marke verzeichnete ein Traumwachstum im immer angesagteren Plant-based-Markt.

Auch der Aspekt der Nachhaltigkeit zog bei einer Generation, die sich der Auswirkungen des Klimawandels immer bewusster wurde – schliesslich ist die Kuh eine Klimasünderin. Sie setzt massenhaft Methan frei, die Futterproduktion verursacht zusätzliche Treibhausgase. Das zeigen auch die Zahlen aus der Schweiz: Die Landwirtschaft ist für rund 16 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich – knapp die Hälfte davon geht auf die Milchproduktion zurück, wie die NZZ schreibt. Kühe rülpsen und furzen nun einmal, Hafer nicht.

Die Café-Kultur trieb den Boom der Pflanzendrinks voran. Die Wahl der Milchalternative wurde da zum Statement: Der Haferdrink im Flat White signalisierte Umweltbewusstsein, dass man ein moralisch integrer Mensch ist und sich dazu noch um die eigene Gesundheit sorgt. Es war eine Demonstration; man steht auf der richtigen Seite der Geschichte.

Bei Quark und Gruyère zeigte sich die moralische Strenge aber erstaunlich elastisch. Wie sonst lässt sich die Tatsache erklären, dass der Pro-Kopf-Konsum in der Schweiz seit Jahren auf hohem Niveau recht stabil bleibt, wie Christa Brügger, Mediensprecherin der Dachorganisation aller Schweizer Milchproduzenten, auf Anfrage meint – «wenn auch mit bedeutenden Verschiebungen innerhalb der Produktsegmente, sprich: weniger Trinkmilch, dafür mehr Quark, Käse oder Proteindrinks»?

Milch wird zur Ansage

In der Welt, die sich an Hafer- und Mandeldrinks gewöhnte, begann sich jedoch langsam eine Gegenbewegung zu formieren. Die Autorin Emily Sundberg erklärte schon 2021 in einem vielzitierten Artikel auf «Grub Street», der Plattform des «New York Magazine», Vollmilch als «zurück». Sie beobachtete als eine der Ersten, dass «hot girls» in Cafés nach Milch verlangten und sich bewusst gegen den Haferdrink entschieden. Die Kuhmilch als Provokation – rebellisch, unkonventionell und irgendwie cool. Sundberg sollte recht behalten.

2024 war das Jahr der Kuhmilch. «Warum ich wieder Vollmilch trinke»-Videos machten die Runde, Mukbang-Influencer (sie essen und trinken vor einem Online-Publikum) kippten literweise Milch vor laufender Kamera. Im Milchmädchen-Dress träumten sich Modebegeisterte in eine romantisch-verklärte Epoche, während Tradwives (Kurzform für Traditional Wives) auf Instagram und Tiktok Kühe und Schafe melkten. Die Rohmilch verarbeiteten sie zu Mozzarella, Glace und Teig, oder sie verkauften sie, wie die Amerikanerin Hannah Neeleman, die mit insgesamt knapp zwanzig Millionen Followern als bekannteste Tradwive gilt.

Das neue Interesse an Kuhmilch hat auch mit der Angst vor ultraverarbeiteten Lebensmitteln zu tun, einem der grossen Gesprächsthemen der letzten Jahre. Kuhmilch ist natürlich – im Gegensatz zu Pflanzendrinks, denen viele Hersteller Nährstoffe, Verdickungsmittel, pflanzliche Öle, Süssungsmittel oder Aromen zufügen. Die Meinung zu diesen fing an zu gerinnen wie die Sojamilch im Kaffee.

Diese Sehnsucht nach Ursprünglichkeit hat vorerst Rohmilch in einen Mainstream-Wellness-Trend verwandelt. Was früher grüner Saft war, ist für viele Wellness-Influencer heute Milch, direkt von der Kuh.

Rohmilch vereint Traditionalisten und Gwyneth Paltrow

Rohmilch, die weder erhitzt noch pasteurisiert wird, gilt in gewissen Kreisen als Wundermittel: besser verträglich, gut für den Darm, stärkend fürs Immunsystem, und sie soll ein Geheimtipp für strahlende Haut und Gewichtsabnahme sein. Dass Kuhmilch nährstoffreich ist, lässt sich nicht leugnen – schliesslich soll sie Kälber zu stattlichen Rindern heranwachsen lassen. Rohmilch birgt, wie andere nicht erhitzte Lebensmittel, jedoch ein gewisses Risiko – insbesondere für bakterielle Infektionen. Erst Ende 2024 wurden in den USA aktive Vogelgrippeviren in Rohmilch entdeckt.

Doch das schreckt die Fans nicht ab. Von Robert F. Kennedy Jr., Impfskeptiker und Donald Trumps Wahl zum US-Gesundheitsminister, der auf X die strengen staatlichen Beschränkungen für Rohmilch kritisiert, über Hannah Neeleman, die mit ländlichem Leben und Grossfamilie eine konservative Lebensweise propagiert, und Gwyneth Paltrow, die im beliebten Podcast «The Skinny Confidential» verraten hat, dass sie jeden Morgen Rohmilch in ihren Kaffee gibt, zu Menschen, die sich nach unverfälschter Kost sehnen oder dem nächsten Superfood nachjagen: Rohmilch eint sie alle.

Auch in der Schweiz ist man auf die Rohmilch gekommen; bei John Baker etwa, der Zürcher Trendbäckerei, stehen für Flat White und Caffè Latte ausschliesslich Rohmilch oder Hafermilch zur Auswahl.

Wer von den gesundheitlichen Vorteilen von Milch profitieren will, muss nicht gleich zur Rohmilch greifen. Auch pasteurisierte Milch ist um einiges gesünder als ihre pflanzlichen Verwandten, wie die Forschenden des Kompetenzzentrums Agroscope herausgefunden haben. Keiner der 27 pflanzenbasierte Drinks kommt an Milch heran; diese hat mehr Vitamine und Mineralstoffe, mehr Eiweiss und Energie, hochwertigeres Eiweiss und ist ein wichtiger Kalzium-Lieferant – passt doch zum aktuellen Gesundheitstrend.

Der Effekt einer Tasse warmer Milch

Wer Kuhmilch trinkt, will Natürlichkeit. Ein Bedürfnis, das auch die Beauty-Industrie erkannt hat. Laut dem Branchenportal «The Business of Fashion» sind Produkte mit «Milch» im Namen regelrecht aus den Regalen geschossen; allen voran der Milk Toner, der zu den «Top-Beauty-Trends, die Sie 2025 im Auge behalten sollten», gehört. Auch wenn sich die Bezeichnung «Milk» in der Mehrzahl der Produkte eher auf die Konsistenz – zwischen einem flüssigen Toner und einem Serum – und weniger auf den Inhalt bezieht, scheint die Idee von Milch zur Hautbehandlung viele Jahrhunderte nachdem Kleopatra in Milch badete wieder populär.

Auch die Welt der Düfte hat die weisse, fettige Flüssigkeit für sich entdeckt. Selbstverständlich spritzt man sich nicht mit Milch ein – das würde nach ein paar Stunden auf der warmen Haut nicht mehr angenehm riechen. Es ist die Interpretation des milchigen Duftes, der einen in die Kindheit zurückversetzt, als eine Tasse warme Milch noch den Ballast des Tages vergessen liess – in beunruhigenden Zeiten wie diesen tönt das sehr verlockend.

Milch drängt zurück ins Rampenlicht – buchstäblich

Doch ihre Symbolkraft reicht über gesundheitliche Vorteile, Nostalgie und die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit hinaus – Milch wird heute auch mit Wildem, fast Subversivem assoziiert. Auch Nicole Kidman und dem Erotikdrama «Babygirl» sei Dank.

Bei der Verleihung der National Board of Review Awards nämlich exte die Schauspielerin ein Glas Milch, als sie den Preis für ihre Rolle in «Babygirl» entgegennahm. Eine Anspielung auf eine Szene aus dem Film von Halina Reijn, der Ende Januar hierzulande in die Kinos kommt: Kidman spielt eine erfolgreiche CEO mit einem Hang zu unterwürfigen Phantasien. In einem Restaurant trinkt sie, auf wortlosen Befehl ihres jungen Liebhabers Samuel (gespielt von Harris Dickinson), ein Glas Milch – ein Vorbote einer riskanten Affäre.

Spätestens da wird klar: Milch hat den Platz auf der grossen Bühne zurückerobert.

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