Laut einer neuen Analyse der Regierung sind die Lieferketten der Schweizer Volkswirtschaft bei den meisten Importprodukten genügend diversifiziert. Doch der Bundesrat ortet 32 Problemfälle.
Man stelle sich vor, jeder Haushalt müsste alle von ihm gebrauchten Güter selber herstellen – Kleider, Teller, Möbel, Computer, Waschmaschine und vieles mehr. Das käme nicht gut. Deshalb ist der Handel mit der Nutzung von Spezialisierung und Massenproduktion ein solch starker Wohlstandsgenerator. Das Gleiche gilt im Prinzip auch für Gemeinden, Kantone und ganze Länder. Selbst die grössten Staaten profitieren stark vom internationalen Handel. Noch viel wichtiger ist dieser Handel für kleinere Länder wie die Schweiz.
Doch die Furcht vor Auslandsabhängigkeit ist in den letzten Jahren weltweit gestiegen. Zentrale Treiber waren die Pandemie, Russlands Krieg, Chinas Aggressionen und damit verbunden die Furcht vor einer verstärkten Blockbildung in der Weltwirtschaft (Demokratien gegen Diktaturen). Auch in der Schweiz ist die Besorgnis über Auslandsabhängigkeiten gestiegen, was zu diversen Vorstössen im Bundesparlament führte. Ein Ergebnis davon ist der vom Bundesrat am Mittwoch publizierte Bericht zu den Handelsabhängigkeiten der Schweiz. Im Fokus stehen vor allem die Importabhängigkeiten.
Diversifikation im Vordergrund
Das Streben nach möglichst grosser Eigenproduktion in «wichtigen» Industrien wäre für kleinere Volkswirtschaften wie die Schweiz sündhaft teuer und in vielen Bereichen ohnehin eine Illusion. Es würde das Land auch nicht unbedingt krisenfester machen. Modellschätzungen des Ländervereins OECD von 2021 im Kontext der Corona-Pandemie liessen mutmassen, dass Volkswirtschaften mit relativ schwachen internationalen Handelsbeziehungen weniger flexibel und damit in Krisen eher verletzlich sind als stark vernetzte Länder.
Im Vordergrund einer klugen Krisenvorsorge steht damit nicht die nationale Abschottung, sondern die Diversifikation in den Lieferketten, um starke Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten und Ländern zu vermeiden. Die Bundesanalyse zu den Abhängigkeiten beginnt mit der Eruierung der Konzentration der Importe bezüglich Bezugsland.
Der Bundesrat setzt im Einklang mit einer EU-Analyse zum gleichen Thema den Schwellenwert für eine hohe Importkonzentration auf 0,4 anhand des gängigen Konzentrationsindexes HHI (Herfindahl-Hirschman-Index). Würden zum Beispiel die gesamten Importe eines bestimmten Produkts nur aus zwei Ländern (zu je 50 Prozent) kommen, läge der Index bei 0,5. Bei vier Ländern à 25 Prozent wäre der Index bei 0,25. Beim Schwellenwert von 0,4 gibt es typischerweise zwei bis drei Hauptlieferanten.
Selbst bei einem hohen Indexwert entsteht noch keine Abhängigkeit, wenn in einer Krise Ersatz aus dem Inland oder einem anderen Staat möglich ist. Ist voraussichtlich kein genügender Ersatz möglich, spricht der Bund von Importabhängigkeit. Die Analyse auf Basis der Handelsstatistik erstreckte sich über 5300 Güter und die Periode von 2001 bis 2021.
Abhängig bei 195 Gütern
Der Bund identifizierte für die letzten Jahre der Untersuchungsperiode rund 230 Güter mit anhaltenden Importabhängigkeiten. Nach Ausklammerung von Kleinstposten waren es noch 195 Produkte. Die Importabhängigkeiten betreffen laut dem Bericht weniger als 2 Prozent der gesamten Warenimporte.
Wertmässig entfielen in den letzten Jahren rund 60 Prozent der Abhängigkeiten auf Produkte aus China; die grössten Einzelposten waren Laptops und Uhrengehäuse. Weitere 15 Prozent entfielen auf die Nachbarländer der Schweiz. In der Sektorbetrachtung betraf gut die Hälfte der Importabhängigkeiten den Sektor Maschinen. Andere oft identifizierte Produktkategorien waren Pflanzen (vor allem Blumen), Früchte und Uhren.
Manche Importabhängigkeiten sind allerdings aus einer gesamtstaatlichen Sicht kein spezielles Problem, wie der Bundesrat festhält. Dies gilt zum Beispiel für Tomatendosen aus Italien, Tulpenzwiebeln aus den Niederlanden, spezielle Regenschirme aus China und Ahornsirup aus Kanada. Als problematisch wertet der Bundesrat in erster Linie Abhängigkeiten, die in einer Krise hoheitliche Aufgaben beeinträchtigen wie die nationale Sicherheit, die öffentliche Gesundheit, die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern (wie Lebensmittel und Medikamente) sowie den Schutz der kritischen Infrastruktur.
32 Problemfälle?
Der Bundesrat wertet in seinem Bericht die Importabhängigkeiten bei 32 Gütern als «problematisch». 18 davon betreffen vom Landesversorgungsgesetz erfasste Güterkategorien. Zum Beispiel Haselnüsse aus der Türkei, entkoffeinierter Kaffee aus Spanien, Johannisbrot aus Marokko, Rizinusöl aus Indien, Ammoniak aus Frankreich sowie chemische Stoffe aus Belgien und Deutschland.
Doch die Regierung gibt hier gleich wieder Entwarnung. Nach Prüfung der identifizierten Abhängigkeiten habe die Organisation für die wirtschaftliche Landesversorgung festgestellt, dass kein Handlungsbedarf bestehe: «Selbst wenn die Produkte in eine Kategorie von lebenswichtigen Gütern wie Speiseöle oder Futtermittel fallen, sind sie innerhalb der Kategorie doch einfach substituierbar.»
Weitere 14 identifizierte Produkte mit möglicherweise problematischen Abhängigkeiten betreffen potenzielle Vorleistungen für kritische Infrastrukturen. Zum Beispiel Laptops und Leuchtdioden aus China, Aussenbordmotoren aus Japan, Flugkampfsimulatoren aus den USA, Stereomikroskope und Krane aus Deutschland, Stahlprofile aus Italien sowie Düngemittel aus Frankreich. Inwieweit bei den genannten Produkten tatsächlich kritische Infrastrukturen betroffen sind, soll nun im Rahmen der nationalen Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen von den zuständigen Behörden überprüft werden.
Bei politisch «besonders prominenten» Produkten wie Halbleitern, Solarzellen und Lithium-Batterien ortet die Analyse keine speziell starken Abhängigkeiten. Zu den Seltenerdmetallen soll aufgrund eines Parlamentsauftrags eine spezielle Analyse voraussichtlich Ende Jahr kommen. Auf der Exportseite ortete der Bund generell keine nennenswerten Abhängigkeiten.
Die Firmen wissen es besser
«Der Umgang mit Handelsabhängigkeiten ist primär eine Aufgabe der Privatwirtschaft», betont der Bundesrat. Die betroffenen Unternehmen haben zu ihren eigenen Lieferketten denn auch weit genauere Informationen als Beamte in Bern. Auch die neuste Bundesanalyse kann kein vollständiges Bild zeigen, wie die Regierung einräumt. Immerhin: Laut einer Umfrage von 2023 bei 650 Industriefirmen im Auftrag des Bundes hatten knapp 60 Prozent der Firmen in den drei vorangegangenen Jahren Massnahmen zur Reduktion der Abhängigkeiten getroffen. Die zwei meistgenannten Massnahmen betreffen die Diversifizierung in der Lieferkette und eine erhöhte Vorratshaltung.