Die Olympiasiegerin Nicola Spirig steht an der Spitze eines Programms, das gesponserten Athleten weit mehr bietet als Schuhe und Geld.
Sport ist ihr Leben. Wenn junge Frauen oder Männer in die Weltklasse vorstossen wollen, sich Medaillen an Titelkämpfen zum Ziel setzen, leben sie quasi mit Scheuklappen: nur die Karriere im Blick. Doch das Leben besteht nicht nur aus Sport. Nicola Spirig, 2012 Olympiasiegerin im Triathlon, leitet für die Sportartikelfirma On das neue Programm «360 Athlete Support». Sie hat selbst auf drastische Weise erlebt, wie Unerwartetes einen aus der Bahn zu werfen droht.
2020 war Spirig mit ihrer Trainingsgruppe auf dem Velo im Engadin unterwegs. Dabei kam es zu einem Massensturz, bei dem auch eine nicht zur Gruppe gehörende Velofahrerin verletzt wurde. Später stellte sich heraus, dass deren Heilungskosten nicht von einer Privathaftpflichtversicherung übernommen wurden. Kostenpunkt:
30 000 Franken.
Dieser Unfall legte ein Problem offen, das bis dahin kaum jemandem bewusst war: Für den Fall, dass ein Spitzenathlet im Training einen Schaden verursacht, also während des Ausübens seines Berufs, braucht er eine Berufshaftpflichtversicherung – und eine solche kann er nur abschliessen, wenn er eine eigene Firma hat. Auf Spirig traf das zu, aber nicht auf alle anderen in ihrer Gruppe.
Spirigs Beispiel zeigt, dass nicht nur Verletzungen sich gravierend auf eine Karriere auswirken können, sondern zum Beispiel auch die finanziellen Folgen eines Unfalls. Und dass es sich lohnt, manchmal die Scheuklappen abzulegen und sich um all die Dinge zu kümmern, die neben dem Sport auch noch wichtig sind im Leben.
Den weiten Blick hat Nicola Spirig nun von Berufes wegen. Nach ihrer aktiven Karriere wurde sie von der Sportbekleidungsfirma On in einem 40-Prozent-Pensum angestellt, um den «360 Athlete Support» zu entwickeln und zu leiten. Ihre Erfahrung aus dem oben beschriebenen Unfall hat sie bereits eingebracht: Athleten, die bei On unter Vertrag stehen, können über das Unternehmen eine Versicherung abschliessen.
Jederzeit Zugriff auf ein Netzwerk von Ärzten
Die Schweizer Firma geht mit dem «360»-Programm einen wohl einzigartigen Weg. Olivier Bernhard, Mitgründer von On und ehemaliger Triathlet der Weltklasse, sagt: «Wir reden intern nie von Sponsoring. Das tönt für mich wie Prostitution – ich zahle, du lieferst.» Athleten sollen bei On nicht einfach Material und Geld gegen Leistung bekommen, sie werden in diversen Bereichen ihres Lebens unterstützt.
Was aber brauchen sie genau? An den Anfang ihrer Arbeit stellte Spirig eine Umfrage bei allen knapp 200 Sportlerinnen und Sportlern, die bei On unter Vertrag stehen. Und in den Antworten hatte nicht etwa das Training erste Priorität, nur 20 Prozent wünschten sich hier Unterstützung. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass On hierfür bereits Strukturen geschaffen hat. Der On Athletics Club (OAC) umfasst derzeit Trainingsgruppen in Europa, den USA und Ozeanien, mit eigenen Coachs und professioneller Infrastruktur.
In St. Moritz zum Beispiel leben 13 Athletinnen und Athleten in einem On-Haus, trainiert werden sie von Thomas Dreissigacker, der früher deutscher Bundestrainer war. Er macht die Leute schnell. Doch genügt das? Laut Spirigs Umfrage wünschen sich 73 Prozent der On-Athleten Hilfe in den Bereichen Medizin und Erholung. Immerhin 50 Prozent sind der Meinung, dass sie in der mentalen Vorbereitung Defizite haben.
Letztgenanntes hat Spirig überrascht, denn Sportpsychologie und mentales Training sind heute im Spitzensport ein zentrales Thema. «Ich dachte, dass sich hier jeder das holt, was er braucht», sagt Spirig. Jetzt arbeitet On mit einem Sportpsychologen zusammen, der den Athleten ein Eins-zu-eins-Mentalcoaching anbietet. Spirig will diesen Bereich aber ausbauen, denn wenn es um die Psyche geht, muss auch die Beziehung zum Berater stimmen.
Die Olympiasiegerin von 2012 erklärt das an einem persönlichen Beispiel: Als sie erstmals zu einem Sportpsychologen ging, sprach dieser in einem Dialekt, der ihr überhaupt nicht behagte. «Er hätte noch so gut sein können, es hätte für mich einfach nicht gepasst.»
Auch wenn es um den Körper geht, spielt Vertrauen eine zentrale Rolle. Spirig sagt, sie habe bei jeder Verletzung eine Zweitmeinung eingeholt, bevor sie sich für eine Therapie entschieden habe. Für On hat sie deshalb ein Netzwerk von Ärzten aufgebaut, die alle auf Hochleistungssportler spezialisiert sind. Dazu gehört Patrik Noack, der frühere Chefarzt von Swiss Olympic. Er ist international hervorragend vernetzt und kann schnell kompetente Spezialisten vermitteln.
Zeit ist oft ein wichtiger Faktor. 2023 reiste ein On-Athlet mit einem unguten Gefühl von den WM zum Weltklasse-Meeting in Zürich. Für ihn konnte kurzfristig eine MRI-Untersuchung an der Universitätsklinik Balgrist organisiert werden. Für weniger drängende Fragen werden regelmässig Webinars organisiert, etwa über Jetlag und Schlaf oder zu spezifischen Tipps für Frauen im Sport.
Auch das Thema Ernährung wird angegangen. Wer will, kann sich von Joëlle Flück beraten lassen, der Präsidentin der Swiss Sports Nutrition Society. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass im «360 Athlete Support» wenn immer möglich individuell auf die Athletinnen zugeschnitten gearbeitet wird.
Psychologie, Medizin, Ernährung: All das hat direkte Auswirkungen auf die Leistung. Spirig sagt jedoch, dass jeder Teil des Lebens für den Sport relevant sei. Ziel ihres Programms sei es deshalb, die Athletinnen menschlich und sportlich weiterzubringen. Zum Beispiel mit einer Laufbahnberatung. In diesem Rahmen hat der HR-Experte Jörg Blunder bereits mit 50 Sportlerinnen und Sportlern Einzelgespräche geführt, er war sogar mit dem OAC in einem Trainingslager in Südafrika.
Der Österreicher Blunder, der einst auch für Coca-Cola arbeitete, lässt seine Klienten Tests zur Persönlichkeit und zu beruflichen Interessen ausfüllen. Dann sagt er zu Ihnen: «Stellt euch vor, wie euer Leben mit 40 Jahren aussieht!» Es sei wichtig, sich frühzeitig mit der Zeit nach der Karriere auseinanderzusetzen, sagt er. Das könne einem Ruhe und Sicherheit geben und damit auch den Trainingsalltag beeinflussen.
Die spanische Läuferin Marta Garcia hat das erlebt. Sie ist 26-jährig und hat bereits ein Medizinstudium absolviert. Nun setzt sie ganz auf den Sport, fragt sich aber, wie gut es um ihr Fachwissen stehen wird, wenn sie irgendwann von der Laufbahn in die Arztpraxis wechselt. In der Beratung mit Blunder hat sie gelernt, wie sie sich mit vernünftigem Aufwand medizinisch auf dem Laufenden halten kann.
Nicola Spirig hat im ersten Teil ihrer Karriere Jura studiert. Das habe sich für sie gleich mehrfach positiv ausgewirkt, sagt sie. Bei Verletzungen konnte sie das Studium forcieren und haderte nicht tagein, tagaus mit ihrem Schicksal. Sie definierte sich nicht ausschliesslich über den Sport und fand es gut, an der Uni einfach eine unter Tausenden zu sein. Und nach dem Abschluss konnte sie sich zwei Jahre voll auf die Olympischen Spiele 2012 konzentrieren, weil ihr das Diplom in der Tasche Sicherheit gab.
Alles ist freiwillig – ausser der Dopingprävention
Sicherheit hilft auch bei finanziellen Fragen. Wie erstelle ich ein Budget oder einen Finanzplan? Muss ich mit 25 Jahren bereits an meine Pensionierung denken? Was muss ich beim Ausfüllen des Steuerformulars wissen? Für all diese Fragen gibt es Ansprechpartner in der Finanzabteilung von On. Dem Firmengründer Bernhard ist es wichtig, dass man Unternehmen und Athleten nicht getrennt betrachtet, er sieht alles als eine grosse Familie.
Das mag romantisch tönen, aber mit den firmeneigenen Leichtathletikteams und der Rundumbetreuung der Sportlerinnen geht die Firma tatsächlich einen neuen Weg. Das gilt umso mehr, als alle Dienstleistungen nicht nur den Topathleten angeboten werden, sondern all jenen, die eine Vertrag mit On haben. Das sind derzeit 190 Personen, unter ihnen 15-jährige Nachwuchshoffnungen, Olympiasieger und Leute über 40, die kurz vor dem Ende ihrer Karriere stehen.
Das Programm «360» ist langfristig ausgerichtet und soll sukzessive ausgebaut werden. Bernhard hofft, dass er irgendwann eine Art Callcenter für alle möglichen Probleme einrichten kann: eine Telefonnummer, unter der es 24 Stunden am Tag Hilfe gibt. Flug verpasst? Hexenschuss? Fragen zur Quellensteuer auf das Preisgeld an einem Meeting? Wie reagieren bei Hass-Posts in den sozialen Netzwerken? Einfach anrufen.
All die von Nicola Spirig organisierten Angebote können freiwillig genutzt werden, es besteht für die Athletinnen keine Verpflichtung. Mit einer Ausnahme: Den Anti-Doping-Kurs auf der Athletenplattform von On müssen alle absolvieren. Die Firma arbeitet bei diesem Thema auch mit internationalen Institutionen zusammen. Denn eines ist allen klar: Wenig kann die Familienidylle so sehr trüben wie ein Dopingfall.