Donnerstag, September 19

In der Schweiz entweichen im europäischen Vergleich besonders viele Häftlinge aus dem Strafvollzug. Das könne man auch positiv sehen, sagt ein Kriminologieprofessor.

Mal wählte Walter Stürm den einfachen Weg. Er floh aus dem Hafturlaub, beim Transport ins Unispital für die Physiotherapie. Mal wählte er den beschwerlichen Weg, er überwand Gefängnismauern – und das sorgte für besonders viel Aufsehen. Wie etwa 1981: Damals entwich er aus einer Zelle der Strafanstalt Regensdorf und hinterliess nur einen Zettel. «Bin beim Ostereier suchen, Stürm.»

Als hätte er gewusst, dass sein Ausflug in Freiheit bald wieder enden würde. Fünf Monate später wurde er im französischen Valleiry, in der Nähe Genfs, festgenommen. Um wenig später wieder auszubrechen.

Walter Stürm ist einer der bekanntesten Straftäter der Schweiz. Er brach in Häuser ein und dann aus Gefängnissen wieder aus. Acht Mal gelang ihm in den 1960er bis 1990er Jahren die Flucht aus dem Strafvollzug.

Stürms lustvolles Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden hat ihn berühmt gemacht. In linken Kreisen wurde er als «Robin Hood» glorifiziert, als einer, der «nur» die Reichen bestehle und sich unmenschlichen Haftbedingungen widersetze. Seine Unterstützer ignorierten meist, dass Stürm apolitisch auftrat. Er wehrte sich zwar in Hunderten Beschwerden und Rekursen gegen seine Haftbedingungen und bekam teilweise recht. Doch bei seinen Einbrüchen verfolgte er klar materielle Ziele. Er stahl, um sich teure Autos leisten und seine weiblichen Bekanntschaften beschenken zu können, wie er immer wieder offen zugab.

Vor 25 Jahren flüchtete Stürm zum letzten Mal – in den Tod. Am 13. September 1999 nahm er sich in Isolationshaft das Leben. Doch seinen Titel nahm ihm keiner. Bis heute gilt er als der Schweizer Ausbrecherkönig.

Flucht ist nicht gleich Flucht

Stürm schaffte es mit handwerklichem Geschick und Raffinement, den Behörden immer wieder zu entwischen. Bis heute tun es ihm Häftlinge gleich. In Uitikon kam es innerhalb eines Jahres gleich zu drei Vorfällen, bei denen mehrere jugendliche Insassen flüchten konnten. Ihre Methoden waren so kreativ wie jene von Stürm: Er baute sich in der Gefängniswerkstatt heimlich eine Leiter, die jungen Männer nutzten Billardkugeln, um ein Fenster durchzuschlagen. Ist es zu einfach, aus Schweizer Anstalten zu entkommen?

Swissinfo, der Auslanddienst der SRG, bezeichnete die Schweiz vor wenigen Jahren als «Paradies für Ausbrecher». Und berief sich dabei auf den sogenannten Space-Report, der alljährlich Gefängnissysteme und die Flucht-Rate in mehr als 40 europäischen Ländern vergleicht. Der aktuelle Report, der Daten aus dem Jahr 2022 verwendet, weist der Schweiz die höchste Rate zu. Hierzulande sind in jenem Jahr 443,8 Häftlinge pro 10 000 Insassen aus der Haft entwichen. In anderen Ländern ist die Rate viel tiefer: In den Niederlanden liegt sie bei 310,8, in Schweden bei 222,3, in vielen Ländern gar im tiefen zweistelligen Bereich. Für Deutschland fehlen die Daten.

Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern, relativiert allerdings die Zahlen. Denn der Begriff der Flucht werde unterschiedlich ausgelegt. Die Schweizer Behörden verwendeten eine besonders weite Definition.

Neben Ausbrüchen und Fluchten aus dem Strafvollzug würden auch sogenannte «unerlaubte Abwesenheiten» in der Statistik aufgeführt. Zu dieser Kategorie gehören auch Fälle, bei denen sich Häftlinge nicht an zeitliche Vorgaben hielten, etwa wenn sie wenige Minuten zu spät von einem externen Termin zurückkehrten. Ein vorsätzlicher Fluchtversuch liege hier meistens nicht vor, sagt Weber.

Offener Strafvollzug fördert Reintegration nach Entlassung

Die Zahl der Ausbrüche aus geschlossenen Anstalten liegt in der Schweiz auf tiefem Niveau, schwankt jedoch stark. 2022 brachen 12 Häftlinge aus. Für 2023 hat das Bundesamt für Statistik (BfS) hingegen 22 Ausbrüche registriert. Für den verhältnismässig hohen Wert war auch die Ausbruchserie im Massnahmenzentrum Uitikon verantwortlich.

Die meisten Häftlinge flüchten in der Schweiz aus offenen Anstalten. 2022 sind 109 Häftlinge aus solchen Institutionen entwichen, 2023 waren es gar 149. Diese Zahl fällt im europäischen Vergleich hoch aus.

Der hohe Wert könne auch positiv gewertet werden, sagt Weber. Denn dieser hänge damit zusammen, dass die Schweiz häufig auf einen offenen und halboffenen Vollzug setze. «Der Strafvollzug hat das Ziel, die Insassen schrittweise auf die Freiheit vorzubereiten, nicht, sie möglichst effektiv wegzusperren.» Das erhöhe zwar das Risiko, dass Häftlinge flüchteten, sei jedoch für ihre spätere Reintegration in die Gesellschaft förderlich.

Zahlreiche empirische Studien zeigen: Wenn Häftlinge nach und nach auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet werden, ist das Risiko geringer, dass sie nach der Entlassung rückfällig werden. In der Schweiz lag die Rückfallquote bei Erwachsenen 2017 laut Daten des Bundes bei knapp 50 Prozent.

Flucht aus Gefängnissen wurde erschwert

Eine Flucht, wie sie Walter Stürm aus der Strafanstalt Regensdorf gelang, sei heute kaum mehr denkbar, sagt der Experte Jonas Weber. Denn die Sicherheitsvorkehrungen in den klassischen Gefängnissen wurden verschärft. Einerseits seien die technischen Möglichkeiten zur Überwachung der Häftlinge verbessert worden. Andererseits sei baulich aufgerüstet worden. Die Mauern seien heute doppelt so hoch wie früher. Zudem seien die meisten Gefängnisse gleich mit zwei Mauern gesichert. Wer flüchten wolle, müsse unter Strom stehende Drahtzäune überwinden, Bewegungsmelder und Videoüberwachung überlisten. Weber sagt: «Die Gefängnisse sind baulich kaum mehr mit jenen aus Stürms Zeiten zu vergleichen.»

Meistens ermögliche erst ein menschlicher Fehler die Flucht eines Häftlings aus einer geschlossenen Anstalt, sagt Weber. In Basel schafften es kürzlich zwei Gefängnisinsassen, einem Mitarbeiter den Badge zu stehlen. Dies verschaffte ihnen Zugang zum Innenhof, von wo die beiden über den Zaun türmten.

Selten verhelfen Mitarbeiter Insassen bewusst zur Flucht. 2016 liess eine Aufseherin in Dietikon einen Häftling freiwillig frei – und setzte sich mit ihm ab. Sie hatte sich in ihn verliebt. Das Liebesabenteuer endete nach wenigen Wochen in Italien mit der Festnahme. Die Frau wurde wegen Fluchthilfe verurteilt. Der Mann hingegen musste keine weitere Strafe befürchten. Denn die Flucht als solche ist in der Schweiz straffrei – ob man einmal ausbüxt oder, wie Walter Stürm, gleich achtmal.

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