Montag, November 18

Am 20. November 1974 stürzte Lufthansa-Flug 540 in Nairobi ab. Es war der erste Unfall einer Boeing 747, des damals grössten Flugzeugs der Welt. Dank Modifikationen wurde es auch zu einem der sichersten.

Es war ein holpriger Start für ein Flugzeug der Sonderklasse, das noch heute auf Langstreckenflügen eingesetzt wird. Pan Am hatte 1966 einen Grossauftrag erteilt und damit den Startschuss abgegeben, Boeing entwickelte daraufhin in Rekordzeit die alle bisherigen Massstäbe sprengende 747. Bereits im Januar 1970 feierte der Jumbo-Jet aus Seattle für über 400 Passagiere Weltpremiere auf der Route New York–Paris. Doch schon da verzögerte eine Triebwerkspanne den Start des Jungfernflugs und erzwang einen kurzfristigen Flugzeugwechsel.

Schnell war klar: Die grossen neuen Mantelstromtriebwerke des Typs Pratt & Whitney JT9D waren die Achillesferse der frühen Jumbos. Üblicherweise entstehen passende Triebwerke für eine neue Jet-Klasse zuerst und dann das Flugzeug. Hier war es umgekehrt mit dem Erfolg, dass sich die Pannen häuften. Pan Am hatte ständig mehrere ihrer anfangs 25 Boeing 747 ohne Triebwerke am Boden stehen, sie kam mit dem Austausch nicht nach, jeder zehnte Start fiel aus.

Bei Lufthansa sah es nicht viel besser aus, nachdem sie ab April 1970 als erste europäische Gesellschaft Jumbos in Dienst gestellt hatte. Swissair war weniger betroffen, ihre zunächst zwei Boeing 747 kamen erst 1971 schon mit verbesserten Triebwerken. Die frühesten 747-Betreiber allerdings mussten sich weiter mit anfälligen Antrieben herumschlagen.

«Die wurden behandelt wie rohe Eier – wenn sie einmal gelaufen sind, hat man sie am besten gar nicht mehr angefasst, das war unser Grundsatz», erzählt Hans Joachim Schacke. Der heute 85-Jährige aus der Nähe von Frankfurt war damals Erster Offizier auf der 747 bei Lufthansa und sass an jenem verhängnisvollen 20. November 1974 auf dem rechten Sitz im Cockpit von Flug LH540 von Frankfurt über Nairobi nach Johannesburg.

Trotz den vielen technischen Unregelmässigkeiten in der Anfangszeit waren schon 244 Jumbos bei 38 Fluggesellschaften in aller Welt im Einsatz. Und die Boeing 747 hatte in den ersten dreieinhalb Jahren bereits einen beachtlichen Sicherheitsrekord aufgestellt: In 2,5 Millionen Flugstunden waren mehr als 75 Millionen Passagiere unfallfrei unterwegs gewesen. Das sollte sich an diesem Novembermorgen vor 50 Jahren im kenyanischen Hochland bei Nairobi jäh ändern.

Es ist 7 Uhr 47 Ortszeit in Nairobi, kaum eine Stunde nach der Zwischenlandung der 747 aus Frankfurt, als Flug LH540 die Bremsklötze vor dem Bugfahrwerk weggezogen werden. An Bord ist es leer geworden – nur knapp die Hälfte der 361 Sitze sind besetzt, als das riesige Flugzeug mit Taufnamen «Hessen» startklar ist.

Das Anlassen der Triebwerke ist eine komplizierte und sensitive Prozedur, intern nennen Besatzungen bei Lufthansa die riesigen Turbinen «Pratt & Weissnicht», weil nie klar ist, wann wieder eine ausfällt. Um nur ja die Antriebe zu schonen, darf während des Hochlaufens keine Luft aus den Triebwerken abgeleitet werden. Auch die pneumatischen, also durch Druckluft betriebenen Systeme wie zum Beispiel die Vorflügelklappen können derweil nicht betätigt werden.

Diese Tatsache wird an diesem Tag noch von entscheidender Bedeutung sein. Die an den Tragflächenvorderkanten ausfahrenden Klappen sind nämlich für den nötigen Auftrieb in der dünnen Höhenluft des über 1600 Meter hoch gelegenen Flughafens entscheidend.

Die Economy-Klasse ist nur halb voll, die First ausgebucht

Für die knapp vier Stunden Flug nach Nairobi plus den späteren Rückflug ist die «Hessen» an diesem Morgen nur mit 61 Tonnen Kerosin betankt, die sich in den Flügeltanks befinden, während der im Rumpf eingebaute Tank leer bleibt. Unter den vorhandenen klimatischen Bedingungen in Nairobi würde die 747-100 heute mit bis zu 284 Tonnen Startgewicht abheben können, doch tatsächlich ist sie gut 30 Tonnen leichter.

Daher entscheiden die Piloten, mit reduzierter Triebwerksleistung zu starten, auch um ihre empfindlichen Motoren zu schonen. Nur 7 Passagiere steigen in Nairobi zu, denn zwischen Kenya und dem Apartheid-Staat Südafrika herrscht kaum Luftverkehr. Das politische Klima zwischen den beiden Staaten ist frostig. Genau wie die Wirtschaftsbeziehungen, nur eine Frachtsendung mit 480 Kilo kenyanischen Holz- und Elfenbeinschnitzereien für Swasiland wird eingeladen.

Die 28 Sessel der ersten Klasse sind auf diesem letzten Teilstück von LH540 alle besetzt, während sich in der jetzt halb leeren Economy-Kabine viele schläfrige Fluggäste nun sogar über ganze Sitzreihen ausgestreckt hinlegen können. Das Oberdeck mit der luxuriösen Bar-Lounge für die First-Gäste bleibt auf diesem Morgenflug leer.

Der Tower gibt der Besatzung freie Auswahl zwischen den beiden möglichen Startrichtungen. Diese entscheidet sich für Runway 24, weil dies sie auf dem kürzesten Weg an ihr Ziel Johannesburg bringt. Dafür ist die Rollzeit am Boden länger, weil der Pilot auf der Bahn wenden und ans andere Ende rollen muss.

Währenddessen arbeitet die Crew zunächst die After-Start-Checkliste ab, alle 18 Punkte. An elfter Stelle liest der Flugingenieur Rudi Hahn vor: «Bleed valve switches?», fragt also nach den Zapfluftventilen, die jetzt offen sein müssen, damit Druckluft unter anderem die Vorflügel ausfahren kann. Kommandant Christian Krack prüft die Anzeige und antwortet: «Open.» Die beiden Piloten sind zuvor bei der deutschen Luftwaffe geflogen. Der Flugingenieur Hahn ist seit den Anfängen der neuen Lufthansa 1955 an Bord, die Cockpitbesatzung ist somit sehr erfahren.

Um 7 Uhr 49 Lokalzeit erhält LH540 die Freigabe, um auf der Piste ans richtige Ende zu rollen. Jetzt ist die Checkliste für den Rollvorgang dran. «Flaps?» – Klappen, liest der Flugingenieur vor, einer der Piloten antwortet: «Ten ten, green.» Die beiden Rundinstrumente neben dem Fahrwerkshebel vorn am Instrumentenbrett zeigen also 10 Grad Klappenstellung auf beiden Seiten an den Hinterkanten der Tragflächen. Die im Cockpit darunter angeordneten rechteckigen Kontrollleuchten schimmern beide grün und signalisieren, dass auf beiden Seiten die Vorflügel ausgefahren sind.

Heute fliegt der Erste Offizier Hans Joachim Schacke den Jumbo, um 7 Uhr 51 erhält die Crew die Startfreigabe. Es folgen letzte Checks, um 7 Uhr 53 schiebt Schacke alle vier Schubhebel auf die gesetzte Startleistung. Jetzt sind es noch 83 Sekunden bis zur Katastrophe.

Direkt nach dem Abheben bemerken die Piloten, dass die Boeing 747 nicht richtig beschleunigt. Mehr als 146 Knoten (270 km/h), 2 Knoten unterhalb der sicheren Steiggeschwindigkeit, erreicht sie nicht. Die «Hessen» steigt auch kaum, ihre Geschwindigkeit sinkt sogar. Als der Crew bewusst, wird dass sie ein Problem hat, versuchen die Männer im Cockpit zu begreifen, was geschieht.

Ein Schwarm Bussarde hat während des Starts die Maschine umkreist. Kapitän Christian Krack fürchtet, Vögel seien in ein Triebwerk geraten, und befragt den hinter ihm sitzenden Flugingenieur Rudi Hahn nach den Leistungswerten. «Alle Triebwerke laufen gut», lautet die Antwort. Doch die «Hessen» vibriert weiter heftig, und der Co-Pilot Hans Joachim Schacke muss die Nase immer weiter herunternehmen, um auch nur die geringe Geschwindigkeit halten zu können. Der Boden ist mit nur 30 Metern bedrohlich nahe, und seine Möglichkeiten zu handeln sind begrenzt.

Die Crew probiert alles für mehr Auftrieb

Der Kapitän zieht ohne Absprache die mächtigen Räder ein in der Hoffnung, mit weniger Luftwiderstand der Maschine den nötigen Auftrieb zu geben. Die sich öffnenden riesigen Fahrwerkstore erhöhen den Widerstand zunächst. Doch noch während das Fahrwerk einfährt, merken die Piloten, dass die Maschine zu sinken beginnt.

12 Sekunden später, nur 33 Sekunden nach dem Abheben, schlägt sie mit dem Heck zuerst auf dem Boden auf und schlittert, die Nase nach oben gerichtet, über das nasse Gras, 114 Meter weit. Dann prallt sie mit dem Heck gegen einen knapp drei Meter hohen Erdwall und bricht hinter den Flügelansätzen auseinander.

Das Heckteil überschlägt sich, Passagiere werden hinausgeschleudert, dann zerbirst die Maschine. Kerosin ergiesst sich aus den Flügeltanks nach hinten und verschlingt Menschen und Trümmer in einem Flammenmeer. Es gibt kein Entrinnen aus der abgetrennten Hecksektion.

Der Hauptteil des Rumpfes rutscht noch 340 Meter weiter, verhakt sich mit der linken Tragfläche im weichen Boden, dreht sich um 180 Grad und schlägt krachend auf. Sofort steht die linke Tragfläche in Flammen. Einige Passagiere können sich aus dem zerstörten Wrack befreien und wegrennen.

Viele Insassen sind aber zwischen Trümmerteilen und Sitzen festgeklemmt, einige können Mitreisende und Besatzung befreien und nach draussen bringen. Besonders prekär ist die Lage für die drei Männer im Cockpit. Sie haben den Absturz beinahe unverletzt überlebt, nur jetzt ist das Entkommen schwierig. Sie sitzen ganz oben auf einem riesigen Trümmerhaufen, der Kabinenboden ist im Oberdeck sowie im Hauptdeck weggebrochen. Auch die Wendeltreppe ist nicht mehr da, die Notausstiegstür vor dem Cockpit blockiert.

«Kapitän und Flugingenieur sind panisch hinuntergesprungen», erinnert sich Schacke. Sie fallen fünf Meter tief bis in den Frachtraum durch, schaffen es trotzdem durch Löcher im Rumpf ins Freie. «Ich habe da hinuntergeschaut und gesagt: ‹Da springst du nicht runter.› Ich habe dann doch die Notluke im Cockpitdach aufbekommen und mich an den Rettungsseilen draussen über neun Meter nach unten abgeseilt», so beschreibt der damalige Erste Offizier seine kühne Selbstrettung.

Kaum ein Entkommen aus der Feuerfalle

Schon drei Minuten nach dem Absturz explodiert der übrig gebliebene Rest der linken Tragfläche, eine riesige Feuerwalze rollt über das Wrack. Wer jetzt nicht draussen ist, kann aus dem Inferno nicht mehr flüchten.

Als erste Helfer erreichen italienische Ingenieure der nahe gelegenen Flughafenbaustelle mit ihren Geländewagen die weitverstreuten Trümmerteile. Ihnen bietet sich ein Bild des Schreckens, eine mehrere hundert Meter lange Spur von Überresten des berstenden Jumbos. Das qualmende Wrack liegt 500 Meter weiter.

Die Ingenieure kümmern sich, so gut es geht, um die Verletzten, schaffen Bretter herbei für den Abtransport von Insassen mit Wirbelbrüchen. Bald sind auch Feuerwehr und Sanitäter am Absturzort, allerdings mischen sich schnell auch Plünderer unter die ersten Einsatzkräfte und stecken in dem Chaos ein, was sie finden, ehe Soldaten das Gelände absperren. Die traurige Bilanz: 59 Menschen kommen auf Flug 540 ums Leben, 98 überleben.

Schnell ist klar, was dazu geführt hat: Die Vorflügelklappen waren nicht ausgefahren, daher reichte in der Höhenluft der Auftrieb nicht, um das Flugzeug weiter in die Luft zu bekommen. Es wird nie restlos geklärt, warum sie nicht ausgefahren waren. Die Besatzung besteht darauf, alle grünen Kontrollleuchten gesehen zu haben, die das Ausfahren bestätigen, die Aufzeichnungen belegen das.

Die Lufthansa entlässt den Piloten und den Flugingenieur wegen «schwerer Bedienungsfehler», kommt damit aber vor dem Arbeitsgericht nicht durch. Der Prozess wird nur dem Flugingenieur gemacht, der 1981 freigesprochen wird. Er zerbricht am Trauma und sitzt nie wieder im Cockpit eines Linienflugzeugs.

Gleichzeitig kommt heraus, dass die Probleme in der Branche zuvor bekannt waren, es mehrere ähnliche Fälle gab, die glimpflich ausgingen. Nur kurz vorher war in Hongkong sogar das spätere Unglücksflugzeug mit fälschlicherweise eingefahrenen Vorflügeln gestartet. Lufthansa hatte nachweislich Kenntnis von diesen Fällen, unternahm aber lange nichts. Der zuständige Staatsanwalt sagt nach seiner Pensionierung aus, hätte er das damals gewusst, hätte er gegen Lufthansa ermittelt.

Die heutige Lufthansa will das damalige Geschehen und die Vorwürfe nicht weiter kommentieren. Die 747 wird dann so modifiziert, dass ein akustisches Warnsignal im Cockpit vor dem Start auch dann ertönt, wenn die Vorflügel nicht ausgefahren sind. Sie bleibt dadurch trotz dem Unglück von vor 50 Jahren ein sehr sicheres Flugzeug: Bis heute sind geschätzt sechs Milliarden Menschen mit Boeings Jumbo geflogen, der nach Ablieferung des letzten und 1574. Exemplars seit 2023 nicht mehr gebaut wird.

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