Donnerstag, Dezember 26

KMSKA – Königliches Museum der Schönen Künste Antwerpen

Als der belgische Maler James Ensor 1949 in hohem Alter starb, erhielt er sogar ein Staatsbegräbnis. Zum 75. Todesjahr wird der Pionier der Moderne mit Ausstellungen in Ostende, Antwerpen und Brüssel gefeiert.

Wer die wundersame Welt des James Ensor in einem Werk dingfest machen will, der betrachte «Das malende Skelett». In dem 1896 entstandenen Gemälde versetzt uns der belgische Künstler ins Atelier. Dessen Wände sind übersät mit Zeugnissen seiner Produktivität: Porträts, Karikaturen, Landschaften und Stillleben erkennt man dort.

Ensor, der sich mit Totenkopf präsentiert, steht an der Staffelei und arbeitet gerade an einem kleinen Bild. Zur makabren Atmosphäre tragen weitere Schädel bei. Morbide aber wirkt das Bild ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Dank der aufgehellten Palette und der munteren Maske, die unten gerade noch ins Bild gerutscht ist, geht von dem Gemälde vitaler Elan aus.

Dass Ensor den Sensenmann domestiziert, ihn sogar auf die Schippe nimmt, ist typisch für diesen Künstler, der auch ernste Themen mit einem Augenzwinkern behandelt hat. «Das malende Skelett» entstammt einem Repertoire des Grotesken und Satirischen. Bevölkert wird diese Palette von Masken und Dämonen, von Clowns und Possenreissern, von Charakteren, die den sieben Todsünden ohne Anflug eines schlechten Gewissens frönen.

Der belgischen Gesellschaft des Fin de Siècle hielt der Künstler den Spiegel vor. Zum Vorschein darin kommt die Maskerade der Bürgerlichkeit. Nicht zuletzt zieht sich die Selbstinszenierung als Leitmotiv durch Ensors Œuvre – und gipfelt in der Darstellung als verhöhnter, von den Kunstkritikern gekreuzigter Christus.

Vom Aussenseiter zum Staatskünstler

Im ausgehenden 19. Jahrhundert war James Ensor, dessen Bilder aus dem Rahmen der etablierten Salonmalerei fielen, ein Aussenseiter, unverstanden und isoliert – ähnlich wie der sieben Jahre ältere Vincent van Gogh. Doch anders als sein früh verstorbener niederländischer Antipode erlebte James Ensor den Aufstieg ins Establishment.

Der Künstler aus Ostende, der 1883 zu den Mitbegründern der belgischen Avantgarde-Gruppe Les XX gehört hatte, erfuhr ab dem frühen 20. Jahrhundert wachsende Anerkennung. 1929 ernannte ihn der belgische König Albert I. zum Baron. Albert Einstein, Erich Heckel, Emil Nolde und Stefan Zweig besuchten den berühmt gewordenen Maler in Ostende. Und als er 1949 im Alter von beinahe neunzig Jahren starb, bekam er sogar ein Staatsbegräbnis.

Zu seinem 75. Todestag wird Ensor in Belgien im grossen Stil mit Ausstellungen und Aktionen gefeiert – vor allem in Ostende und Antwerpen, aber auch in Brüssel. Nur sein Hauptwerk, «Der Einzug Christi in Brüssel», wird leider nicht zu sehen sein. Das grossformatige Gemälde, mehr als vier Meter breit, wurde 1987 vom J. Paul Getty Museum in Los Angeles erworben. Inzwischen ist es dem Leihverkehr entzogen.

Den furiosen Massenaufmarsch im «Einzug Christi in Brüssel» malte Ensor 1888. Karnevalsumzug, Militärparade und politische Demonstration gehen darin eine eigenartige Mischung ein. Zum Ausdruck gebracht wird dies im roten Banner mit der Aufschrift «Vive la Sociale». Den auf einem Esel in Brüssel einreitenden, mit einem Heiligenschein versehenen Christus – ihm gab Ensor seine eigenen Gesichtszüge – muss man suchen. In dem Wimmelbild geht er unter. «Gott ist tot», hatte Nietzsche sechs Jahre zuvor geschrieben. Ensor lässt den Gottessohn am Leben, degradiert ihn jedoch zur Staffagefigur.

Der Schwerpunkt des Ensor-Jahres liegt in Ostende. In der Hafenstadt, vor der weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein mondänes Seebad, verbrachte der Maler den Grossteil seines Lebens. Ensor gehört zur Kategorie jener bodenständigen Künstler, die lieber ihre Imagination auf Reisen schicken, als selbst die Koffer zu packen. Auf dem Dachboden seines Elternhauses richtete er sich ein ziemlich beengtes Atelier ein. Dessen grösster Vorzug war der Panoramablick auf die Nordsee: Seine Pleinair-Landschaften konnte Ensor von der heimischen Staffelei aus malen.

Seine Mutter Catharina und deren Schwester Mimi betrieben im Erdgeschoss des Wohnhauses von Ensors Onkel und Tante einen Laden. Dort gab es Souvenirs, Muscheln, Kuriositäten, Scherzartikel, Masken und Karnevalskostüme: eine visuelle Fundgrube für den kleinen James, der als «Maler der Masken» in die Kunstgeschichte eingehen sollte.

James Ensor: «Selbstporträt mit Blumenhut», 1883 (links); James Ensor: «Die Austernesserin», 1882.

Dieses Haus in der Vlaanderenstraat, das er 1917 erbte und wo er bis zu seinem Tod lebte, dient heute als Künstlermuseum. Den Andenkenladen kann man nach wie vor besichtigen – ebenso wie den gutbürgerlich-gediegenen Blauen Salon, den Ensor als Empfangsraum, Wohn- und Esszimmer sowie als Atelier nutzte.

Das Ensor-Haus bündelt in einer Sonderschau (März und April) die Selbstporträts des Malers: Zeitlebens hat er sich zeichnend und malend selbst befragt, hat unablässig Rollen ausprobiert, um die Facetten seiner Persönlichkeit auszuloten. Mehr als hundert Selbstporträts umfasst das Werk – selbst Rembrandt, von dem ‹nur› achtzig Selbstbildnisse überkommen sind, vermag in dieser Hinsicht mit Ensors Output nicht mitzuhalten.

Kühn und auch kurios ist eine kleinformatige Radierung von 1888, betitelt «Mein Porträt im Jahre 1960». Hier imaginiert sich Ensor als Hundertjährigen: ein am Boden liegendes Skelett mit aufgerichtetem Oberkörper, dessen wache Augen die Umgebung mustern. Diese Darstellung, geschaffen von einem 28-Jährigen, ist eines der ungewöhnlichsten und radikalsten Selbstporträts der Kunstgeschichte.

Mehrdeutige Stillleben

Ensor malte auch Stillleben. Allerdings malte er sie anders als die akademischen Spezialisten der Gattung. Diese boten opulente Blumenbouquets oder dekorative Requisiten zwar gefällig, aber ohne tiefere Botschaft dar. Ensor hingegen knüpfte an die symbolträchtigen barocken Stillleben an. Deren Strategie, die Vergänglichkeit der Dinge vor Augen zu führen, um die Endlichkeit des Daseins zu demonstrieren, erfährt in seinen Stillleben eine Renaissance.

In ihnen geben sich Masken, Muscheln, Totenschädel und andere mehrdeutige Gegenstände ein Stelldichein. Das zeigt jetzt eine Ausstellung im Ostender Museum, die rund fünfzig Werke James Ensors in einer Gesamtdarstellung der belgischen Stillleben-Malerei zwischen 1830 und 1930 vereint.

Den Heimvorteil Ostendes macht Antwerpen wett. Das dortige Königliche Museum der Schönen Künste besitzt die grösste Ensor-Sammlung der Welt. Die Ausstellung «Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus» (ab Ende September) kann also aus dem Vollen schöpfen. Sie befragt den Kontext seiner Kunst: Wer ihn inspirierte, wird ebenso dargelegt wie die Einflüsse, die der Avantgardist auf nachfolgende Künstler ausgeübt hat.

Das Schaffen von James Ensor lässt sich nicht in eine stilistische Schublade pressen – dafür war er viel zu flexibel. Er wird oft als Symbolist bezeichnet, Teile seines Werks kann man aber auch dem Expressionismus zuordnen. Und als Patriarch des belgischen Surrealismus nimmt er den Hang voraus, die Welt malend zu verrücken, gar auf den Kopf zu stellen. René Magritte, knapp vierzig Jahre nach Ensor geboren, ist der Vollender dieser Tradition.

Und dann war da auch seine Neigung zur Musik. 1911 komponierte Ensor «La Gamme d’Amour» («Die Liebestonleiter»), für die er auch Kostüme und Bühnenbild entwarf. Diese Marionetten-Pantomime bedeutete dem Gesamtkunstwerker und Wagner-Bewunderer mehr als blosse Liebelei. Wiederholt hat er betont, das Bühnenwerk verdiene ebenso viel Beifall wie seine Malerei. Es entstanden zahlreiche Skizzen und Zeichnungen.

Zu sehen sind sie gemeinsam mit Gemälden, Fotografien und Manuskripten in der Schau «James Ensor. Maestro» im Brüsseler Kunstzentrum Bozar (ab Ende Februar). Die Ausstellung rückt ein weiteres seiner zahlreichen Talente ins Rampenlicht und bietet Gelegenheit, einen weniger bekannten Aspekt von Ensors Schaffens kennenzulernen.

Ihn bloss als «Maler der Masken und Skelette» zu würdigen, verkennt die enorme Vielseitigkeit dieser Künstlerpersönlichkeit. Als noch niemand von der Postmoderne sprach, praktizierte Ensor schon das «anything goes».

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