Montag, November 25

Lange galten Jäger-und-Sammler-Gesellschaften selbst Archäologen als primitiv. Jetzt zeigt sich: Es gab zu dieser Zeit in der unwirtlichen Gegend Sibiriens noch viele weitere Innovationen.

Sibirien: Das Wort kommt hierzulande vor allem zum Einsatz, um auszudrücken, dass es besonders kalt ist. Man denkt an karge Tundra, spärlich besiedelt, und an sowjetische Gulags. Was man eher nicht erwartet: dass Archäologen dort die frühesten Befestigungsanlagen der Welt entdecken. Doch genau das ist passiert, und es ist nicht nur wegen der abgelegenen Geografie überraschend, sondern auch, weil die Menschen, die diese Anlage vor 8000 Jahren erbaut haben, umherziehende Jäger und Sammler waren. Verteidigungsanlagen aber galten bisher als etwas, das erst sesshafte Ackerbauern mit komplexen Sozialstrukturen benötigen. Jetzt zeigt sich immer mehr, dass diese Annahme unhaltbar ist. Die Ergebnisse ihrer Forschung haben Henny Piezonka von der FU Berlin und ihre russischen Kollegen im Dezember in der Fachzeitschrift «Antiquity» publiziert.

Man muss allerdings sofort zugeben: «Verteidigungsanlage» weckt hier womöglich Assoziationen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Mit einer Burgmauer hat diese Anlage nichts gemein. Die Tragweite der neuen Erkenntnisse vom Fundort Amnya im westsibirischen Flachland wird denn auch aus den Bildern nicht unbedingt ersichtlich.

Die Archäologen beschreiben die Stätte so: Auf einer Landzunge im Sumpf sind zehn Gruben verteilt, bis zu 1,8 Meter tief. In den Gruben standen einst Häuser. Um die Häuser herum, von einer Seite der Landzunge zur anderen, waren Gräben ausgehoben und Wälle aufgeschüttet. Auch Reste von Holzpalisaden sollen gefunden worden sein.

Das war vor dreissig Jahren. Denn entdeckt und erstmals ausgegraben wurden die Anlagen bereits 1987. Von der Fachwelt blieb das jedoch weitgehend, von der Öffentlichkeit vollständig unbemerkt. Mit der erstmaligen Beschreibung des Fundortes in einem englischsprachigen Fachjournal soll sich das nun ändern. Zudem haben die Wissenschafter durch eine Grabung im Jahr 2019 weitere Erkenntnisse gewonnen, die sie ebenfalls vorstellen.

Gesellschaften von Jägern und Sammlern galten als primitiv

Jäger-und-Sammler-Gesellschaften galten vielen Wissenschaftern lange explizit oder implizit als primitiv, früher wurde ihnen ohne weiteres die Intelligenz abgesprochen, heute noch die komplexe soziale und wirtschaftliche Organisation, oft werden sie als egalitäre Gruppen dargestellt.

Sesshaftigkeit und Landwirtschaft hingegen gelten als Katalysatoren weitreichender Entwicklungen: Die Erzeugung von Überschuss ermöglicht es, mit diesen Waren Handel zu treiben, ein Wirtschaftssystem entwickelt sich und dadurch soziale Hierarchien. Viele Archäologen sehen in dieser Entwicklung auch den Ursprung des Krieges: Landwirtschaft erfordert Landbesitz, erst dadurch seien gewaltsame Konflikte zwischen Gruppen entstanden.

Anthropologen, die sich auch ethnografisch mit zeitgenössischen Jägern und Sammlern beschäftigen, ist schon länger klar, dass diese Annahmen falsch sind. Und die Ausgrabung in Amnya bekräftigt das eindrücklich. Die Archäologen haben dort mehrere Hinweise auf soziale Unterschiede und Hierarchien gefunden: Die unterschiedliche Grösse der Häuser zum Beispiel, mit Grundflächen von zwischen 13 und 41 Quadratmetern. Das grösste Gebäude besetzte die Spitze der Landzunge. Und zehn weitere Häuser standen 50 Meter entfernt – ausserhalb der Befestigung und also ungeschützt.

Unklar ist, woher die Bedrohung kam, vor der die Bewohner sich schützen wollten. Es gibt aber Hinweise darauf, dass sie nur bedingt erfolgreich waren: Die Siedlung wurde offenbar mehrfach durch Feuer zerstört. Das muss nicht, kann aber auf einen gewaltsamen Angriff und Brandschatzung hindeuten.

Archäologen fanden in Sibirien riesige Hügel als Ritualplätze

Man könnte annehmen, dass diese befestigte Siedlung für die umherziehenden Gruppen der erste Schritt zur Sesshaftigkeit war – in anderen Teilen der Welt entwickelte sich genau zu dieser Zeit die bäuerliche Landwirtschaft. Doch dem ist nicht so. «In den nördlichen Regionen der Taiga sind die Menschen überhaupt nie sesshafte Bauern geworden, weil dort Ackerbau und die Haltung gängiger Haustierrassen wie Rinder und Schweine aufgrund der langen und kalten Winter nicht möglich sind», erklärt Piezonka auf Anfrage per Mail. «Gehalten werden allerdings Rentiere, die die zum Teil bis heute mobil lebenden indigenen Jäger-Fischer-Gemeinschaften zum Beispiel als Schlittenzugtiere unterstützen.»

Die Landschaft sah damals vermutlich ähnlich aus wie heute: eine sogenannte Taiga, geprägt von Nadelwäldern und Sumpfgebieten, in der Elche und Rentiere lebten.

Wer waren die Menschen, die diese Anlagen errichteten? «Besonders viel wissen wir nicht», gibt Piezonka zu. «In dieser Region in den sandigen Waldböden erhalten sich Knochen fast überhaupt nicht, genetische Studien zu diesen Menschen sind nicht möglich.» Sicher sei lediglich, dass die Menschen gejagt, gesammelt und gefischt hätten, denn es gebe zahlreiche Siedlungsplätze mit den entsprechenden Gerätschaften und Jagdwaffen aus der Region.

Und sie haben wohl auch noch weitere Bauten errichtet: Hügel mit bis zu 50 Metern Durchmesser und 6 Metern Höhe, in denen Tonfiguren gefunden wurden. Diese Hügel sind, das kann Piezonka sagen, wohl nicht auf einmal entstanden, sondern über Jahrhunderte und teilweise Jahrtausende in die Höhe gewachsen. «Das sind wahrscheinlich keine Siedlungs-, sondern Ritualplätze», sagt Piezonka. «Viel mehr wissen wir noch nicht, da erst zwei dieser Plätze überhaupt und auch nur teilweise untersucht wurden.»

Innovationen vor 8000 Jahren könnten mit dem Klima zusammenhängen

Die erstmalige Entstehung von Verteidigungsanlagen und Ritualbauten interpretieren die Studienautoren als Teil einer grösseren Veränderung. Die Menschen in der Region begannen zu dieser Zeit auch, Gefässe aus gebranntem Ton zu verwenden. Das, schreiben Piezonka und ihre Kollegen, erlaubte ihnen, hochkalorische Nahrungsmittel wie beispielsweise Fischöl länger aufzubewahren. Vielleicht auch deshalb stiegen die Bevölkerungszahlen an – vieles war im Umbruch.

Warum diese Innovationen und Veränderungen auftraten, dafür ziehen die Archäologen drei Szenarien in Erwägung: Zum einen änderte sich zu dieser Zeit das Klima, es wurde global kühler. Das könnte zu Ressourcenmangel geführt und technologische und soziale Anpassungen nötig gemacht haben.

Zum anderen ist aber auch der gegenteilige Effekt denkbar: dass es durch die Klimaveränderung mehr Ressourcen gab, die letztlich zu einem grösseren Zusammenhalt der Gemeinschaft und der Errichtung von Grossbauten führten.

Oder die dritte Möglichkeit: Es gibt gar keinen Zusammenhang mit der klimatischen Veränderung, und stattdessen waren andere Faktoren ausschlaggebend, zum Beispiel Einwanderung. Neuankömmlinge, vermutlich von weiter südlich, könnten dann sowohl eine Bedrohung dargestellt haben, gegen die man sich verteidigen wollte, als auch durch Austausch neue Impulse für technische Innovationen gegeben haben.

Dass sich diese Fragen in nächster Zeit klären lassen, ist allerdings höchst unwahrscheinlich: Wegen des Überfalls von Russland auf die Ukraine werden im Moment keine neuen Projekte mit russischer Beteiligung geplant.

Exit mobile version