Montag, September 30

Im Sommerkrieg von 2006 triumphierte der Hizbullah – obwohl Israel der Schiitenmiliz schweren Schaden zufügte. Die Tötung von Hassan Nasrallah zeigt, welche Lehren die israelische Armee aus der Vergangenheit gezogen hat.

Hunderte Hizbullah-Raketen gehen auf den Norden Israels nieder. Die israelische Luftwaffe antwortet mit verheerenden Angriffen in Südlibanon, Israel mobilisiert Reservisten – eine Bodenoffensive scheint unmittelbar bevorzustehen. All das ereignet sich nicht nur in diesen Tagen, sondern geschah auf ähnliche Weise schon im Juli 2006.

Nachdem der Hizbullah in israelisches Territorium eingedrungen war, mehrere Soldaten getötet und zwei Israeli entführt hatte, begann der zweite Libanon-Krieg. 34 Tage lang standen sich die Kämpfer der Schiitenmiliz und israelische Soldaten in einem erbitterten Krieg gegenüber, der über 1000 Tote auf libanesischer Seite und 165 israelische Opfer forderte.

In Israel bleibt dieser Krieg schmerzlich in Erinnerung. Seine Ziele, die sich im Nachhinein als unrealistisch herausstellten, konnten nicht erreicht werden. Weder wurden die beiden entführten Soldaten befreit, noch wurde der Hizbullah zerstört. Ausserdem waren die Bodentruppen schlecht ausgerüstet, viele Reservisten waren nicht kampferprobt. Hizbullah-Kämpfer konnten die Israeli im bergigen Terrain und aus Bunkern heraus in Hinterhalte locken. Die Schiitenmiliz demütigte den jüdischen Staat zudem mit einem erfolgreichen Angriff auf ein Marineschiff vor der libanesischen Küste.

Libanesische Jugendliche beobachten die Angriffe der israelischen Luftwaffe im Julikrieg.

Ben Curtis / AP

Zwar konnte Israel im Julikrieg keinen Sieg erringen. Doch nach dem kurzen Waffengang herrschte für siebzehn Jahre Ruhe an der nördlichen Grenze. Der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah wandte sich nach dem Waffenstillstand an die Libanesen und gab zu, dass er den Krieg nicht vom Zaun gebrochen hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, wie hart Israel reagieren würde. Die israelische Abschreckung war fürs Erste wiederhergestellt.

Hassan Nasrallah hält nun keine Reden mehr – am Freitagabend wurde der mächtige Hizbullah-Führer durch einen israelischen Luftangriff in Beirut getötet. Dieser und weitere schwere Schläge gegen die Schiitenmiliz in den vergangenen Tagen zeigen, dass Israel seine Lehren aus dem zweiten Libanonkrieg gezogen hat.

Doch einen Eskalationsschritt scheuen die Israeli bis jetzt: Noch haben keine Infanteristen in grosser Anzahl die blaue Linie überschritten, die Libanon und Israel trennt – obwohl verschiedene amerikanische Medien am Sonntag und Montag berichteten, dass israelische Spezialkräfte in den vergangenen Wochen in libanesisches Territorium eingedrungen seien, um genau das vorzubereiten. Die Tatsache, dass eine grosse Bodenoffensive bisher ausgeblieben ist, hat auch mit den Erfahrungen von 2006 zu tun.

Israels Vor- und Nachteile im Vergleich zu 2006

Die Ausgangsposition im jetzigen Krieg an der Nordgrenze Israels ist zunächst dieselbe: Wieder stehen sich der Hizbullah und die israelischen Verteidigungskräfte gegenüber. Doch beide Seiten haben die siebzehn Jahre Ruhe genutzt, um aufzurüsten, den Feind zu studieren und sich auf einen neuen Krieg vorzubereiten. Inzwischen haben sich die Bedingungen auf beiden Seiten der Grenze massiv verändert.

  • Die Ausgangslage für Israel: «Heute verfügt der Hizbullah über weitaus mehr Raketen und hat sein Tunnelnetzwerk im Süden Libanons wahrscheinlich weiter ausgebaut», sagt Meir Litvak, Professor für Geschichte des Nahen Ostens an der Universität Tel Aviv. «Zudem hat sich der Hizbullah weiter in Libanon ausgebreitet und könnte auch vom Norden des Landes Raketen auf Israel schiessen.» Andererseits hat Israel der Schiitenmiliz in den vergangenen Tagen vernichtende Schläge versetzt – ein grosser Teil der Kommandostruktur wurde ausgelöscht. Zudem sind die israelischen Soldaten wegen des Gaza-Kriegs weitaus kampferprobter als 2006. Allerdings sind viele Reservisten nach Monaten des Krieges erschöpft.
  • Die Geheimdienstarbeit: Der markanteste Unterschied zum letzten Libanon-Krieg ist bereits jetzt sichtbar: Israel hat seine Aufklärung deutlich verbessert. Schon 2006 flog die Luftwaffe Angriffe gegen die Hizbullah-Hochburg Dahiye im Süden Beiruts – doch hochrangige Kommandanten der Miliz erwischte Israel damals nicht. Drei Mal versuchte Israel erfolglos, Nasrallah zu töten. Nun scheint Israel die gesamte Organisation unterwandert zu haben. «Das zeigt, dass es in Israel massive Fortschritte bei der Vorbereitung auf diesen Krieg gegeben hat», sagt Meir Elran, ehemaliger Brigadegeneral der israelischen Armee und Forscher bei der Tel Aviver Denkfabrik Institute for National Security Studies.
  • Israels Luftverteidigung: «2006 war Israels Luftverteidigungssystem quasi nichtexistent», sagt der Ex-General Elran. Vor achtzehn Jahren gab es keinen Iron Dome, kein Arrow-System, ebenso nicht das Abwehrsystem Davids Schleuder, das vergangene Woche erstmals eine Hizbullah-Rakete über Tel Aviv abfing. «Wir haben eine sehr hohe Abfangrate», sagt Elran. «Aber eins ist klar: Die Anzahl ist wichtig.» Würde der Hizbullah gleichzeitig Tausende Raketen auf Israel abfeuern, wären die Abwehrsysteme überfordert. Nach den verheerenden Schlägen gegen die Kommandostruktur ist es allerdings unwahrscheinlich, dass der Hizbullah dazu noch in der Lage ist.
  • Die Heimatfront: Ein grosser Teil der israelischen Bevölkerung steht heute hinter einem Krieg in Libanon – vor allem nach den Erfolgen der letzten Tage. 2006 sank die Zustimmungsrate für ein militärisches Vorgehen in kürzester Zeit, vor allem nachdem Reservisten im Einsatz gestorben waren und ein schneller, entscheidender Sieg in weite Ferne gerückt war. Nun wird ein Krieg gegen den Hizbullah von den meisten politischen Parteien unterstützt, auch jenen der Opposition. Ministerpräsident Benjamin Netanyahus Likud-Partei konnte in den Meinungsumfragen zulegen.

Was passiert, wenn Israel einmarschiert?

Obwohl immer mehr israelische Generäle und Politiker von der Notwendigkeit einer Bodenoffensive sprechen, gehen israelische Sicherheitsexperten davon aus, dass dies nur das letzte Mittel der Wahl im Kampf gegen den Hizbullah wäre. Der Grund: die schlechten Erfahrungen von 2006.

Einerseits starben in nur 34 Tagen Krieg 121 israelische Soldaten. Andererseits wollte Israel damals um jeden Preis vermeiden, in den «libanesischen Sumpf» gezogen zu werden, wie es viele israelische Sicherheitsexperten ausdrücken. Denn Israel hatte Südlibanon schon zwischen 1982 und 2000 besetzt – mit mässigem Erfolg. So bleibt die Frage, ob ein erneuter Einmarsch heute zielführend wäre.

2006 hatte die Invasion vor allem den Hizbullah gestärkt. Mit einem Mal stand die Schiitenmiliz als Verteidigerin der libanesischen Souveränität da. Auch verfeindete Gruppen in dem multikonfessionellen Staat versammelten sich hinter Nasrallah – vereint im Hass auf die israelischen Invasoren.

«Ich bin sehr skeptisch, was eine Bodenoffensive angeht», sagt Eitan Shamir, Leiter des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien. «Israel würde Ziele erreichen, doch die wären begrenzt.» Die israelische Armee könne zwar bis auf Beirut vorrücken, doch sie werde den tief in der schiitischen Gemeinschaft verwurzelten Hizbullah nicht aus dem Land schmeissen. Shamir ist daher unsicher, ob die Kosten – möglicherweise Hunderte tote israelische Soldaten und eine starke Belastung der israelischen Wirtschaft – den Nutzen rechtfertigen würden.

«Sollte Israel einmarschieren, wird es versuchen, dem Hizbullah in einer kurzen Bodenoffensive einen weiteren schweren Schlag zuzufügen, um danach eine politische Lösung herbeizuführen – ähnlich wie die Resolution 1701 des Uno-Sicherheitsrates», sagt der Nahost-Historiker Meir Litvak. Diese Resolution wurde nach dem Waffenstillstand verabschiedet.

Der Hizbullah hat sich allerdings nie an die Bedingungen gehalten. Die Resolution sah unter anderem den Rückzug der Miliz hinter den Litani-Fluss vor, rund fünfzehn Kilometer von der israelischen Grenze entfernt. Israel legt daher nur wenig Hoffnungen in eine von der internationalen Gemeinschaft unterstützte Lösung, da die Uno-Friedenstruppe dem Hizbullah nichts entgegensetzen konnte.

Israel fehlt eine politische Vision

So oder so wird am Ende der Feindseligkeiten eine politische Lösung stehen. Denn weder wird Israel akzeptieren, dass sein nördliches Staatsgebiet entvölkert bleibt. Noch wird es dem jüdischen Staat gelingen, die Islamisten aus Libanon zur Kapitulation zu bomben.

In einer 2007 erschienenen Essaysammlung zum zweiten Libanon-Krieg hält der israelische Militäranalytiker Shlomo Brom fest, dass der grundlegende Fehler Israels darin bestanden habe, allein auf seine übermächtigen Streitkräfte zu vertrauen: «Wegen der Komplexität des Einsatzes in Libanon war es nur möglich, Israels Interessen mittels einer Kombination militärischer und politischer Mittel durchzusetzen – nicht durch militärische Stärke allein.» Politische Visionen, wie der Konflikt mit der Schiitenmiliz einzudämmen ist, sind derweil in Israel nicht sichtbar.

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