Der Journalist Paul Lendvai schreibt in seinen Memoiren über seine vier Identitäten: Ungar, Jude, Österreicher und Europäer. Er zieht daraus die Lehre von der Zerbrechlichkeit der Freiheit.
Gerade 96 Jahre alt geworden, stellt der österreichische Journalist Paul Lendvai die Frage aller Fragen: Wer bin ich? Auf kaum mehr als hundert Seiten nimmt uns der in Ungarn geborene Jude mit auf seine Reise durch seine vier Identitäten hin zu seinem «Bekenntnis und meiner Treue zu diesem geliebten Österreich».
So beginnt der Mann, der in Budapest geboren wurde und mit 15 Jahren nur knapp die Shoah überlebte. Nach dem Krieg wurde er in seinem Heimatland als Trotzkist eingesperrt und mit Berufsverbot belegt. Nach dem Ungarnaufstand gelang ihm die Flucht nach Wien. Dort wurde er zum «österreichischen Patrioten mit ungarischem Akzent». Das Land «steht in meinem Herzen immer an erster Stelle», bekennt der Kolumnist des «Standards» und frühere Leiter des ORF-Europastudios.
Vertrauter des Bundeskanzlers
Im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Heimat hat ihm die neue nur Gutes getan, von Anfang an. 1957 konnte der junge Journalist kurz nach dem sowjetischen Einmarsch nach Warschau reisen und entschied sich dort gegen die Rückkehr nach Ungarn. In Wien hatte er bald viele Förderer und wurde enorm erfolgreich. Etwa als Auslandkorrespondent der «Financial Times».
Die ersten Jahre schrieb er unter verschiedenen Pseudonymen, um seine Eltern in Budapest nicht zu gefährden. Es war sein «unverschämtes» Glück, dass die Weltpresse an Ungarn interessiert blieb. Er lebte glänzend von Pauschalen der «New York Times» und von United Press International, die er mit Nachrichten aus dem besetzten Land versorgte. Sogar ein Auto konnte er sich schon Monate nach seiner Ankunft in Wien kaufen.
Er machte schnell Freunde in der Politik, wie auch unter Journalisten und Künstlern. Er schrieb mit anderen die Biografie Bruno Kreiskys, dem er bei aller Kritik nahestand und in seinem Buch reichlich Platz widmete. Er genoss das Vertrauen des Bundeskanzlers, der wie er Jude und Emigrant war, doch registrierte er bei aller Bewunderung, dass Kreisky als Politiker «den umstrittenen Weg der (oft faulen) Kompromisse, der (oft undifferenzierten) Versöhnung und des (oft unverzeihlichen) Vergessens» wählte.
Lendvai ist selbst in seinen Memoiren immer ein guter Geschichtslehrer. Der Leser erfährt mit grösstem Gewinn im zweiten Kapitel («Ungarn: Ein Leben auf der Achterbahn») von Lendvais ungarischer Identität. Auf 35 Seiten versteht es der gewiefte Journalist, die ungarische Geschichte, die schicksalhaften Wenden und Irrtümer des Landes zu schildern. Diese haben «auch meine wechselhaften siebenundzwanzig Jahre in Ungarn mitgeprägt». Die Widersprüche Ungarns zeigen sich deutlich am Umgang mit Juden.
Die fast eine Million Juden waren noch stärker assimiliert als anderswo in Europa. Drei Viertel von ihnen gaben Ungarisch als Muttersprache an. Und dann wird 1920 unter dem Autoritären Miklós Horthy das erste antisemitische Gesetz in Europa verabschiedet.
Wieder eine kleine Geschichtsstunde. Lendvai schildert Ungarn als grossen Verlierer des Vertrages von Trianon. Das Königreich Ungarn schrumpfte nach dem Ersten Weltkrieg von 280 000 Quadratkilometern auf 93 000! Der Revisionismus war eingebaut. In den Kindergärten mussten die Kleinen lernen: «Rumpf-Ungarn ist kein Reich. Gross-Ungarn ist das Himmelreich.» In Jalta wurde Rest-Ungarn dem Sowjetblock zugeschlagen. So gingen die Ungarn nach 1945 von einer Diktatur in die nächste.
Dreitausend Tote
Lendvais Beschreibung des Ungarnaufstands 1956: Der Autor nennt ihn einen «nationalen Freiheitskampf», der nach 13 Tagen von sowjetischen Truppen erstickt wurde. Der Bericht liest sich so spannend wie eine preiswürdige Reportage. Das Haus, in dem Lendvai mit seinen Eltern wohnte, wurde von russischen Granatwerfern zerstört. Der Autor beschreibt den verzweifelten Kampf der Aufständischen, der fast dreitausend Tote und Abertausende Verletzte zur Folge hatte. Er notiert die «grosse Enttäuschung über die ausgebliebene Hilfe des Westens». Lendvai macht diese Enttäuschung für die «politische Resignation» und die Konsolidierung des Regimes verantwortlich.
15 Jahre Orban-Regierung rufen in ihm die Erinnerung an die drei autoritären Regime wach, die er erlebt hat. Und so kommt er zu seiner dritten, der jüdischen Identität – als «einer der immer weniger werdenden Überlebenden des ungarischen Holocaust, und je älter ich werde, umso stärker spüre ich jene Vergangenheit, die ich bewusst oder unbewusst verdrängen, vergessen oder gar auslöschen wollte». Sein Verhältnis zum Judentum erklärt er mit seinem «Bewusstsein eines Schicksalsbundes, einer Zugehörigkeit, die man nicht willkürlich auflösen kann». Der 7. Oktober habe diese Überzeugung gesteigert.
Lendvai hat 29 Verwandte in der Shoah verloren. Er ist der «glückhaft Überlebende». Für ihn lässt sich der blutrünstige Terror der Hamas nicht relativieren, denn «den Terroristen ging und geht es nicht um das Los der Palästinenser, sondern um die Vernichtung des jüdischen Staates». Als geübter Beobachter sieht er auch, dass die Schlacht um die Erzählung des Konflikts verlorengeht. Schliesslich werde «der Hinweis auf die Hamas gänzlich verschwinden und die ausschliessliche Schuld Israels und ‹der Juden› übrig bleiben». Und so gelten für ihn auch heute Jean Amérys Worte: «Jude sein heisst, sich ständig der Endlösung als einer Wirklichkeit von gestern und einer Möglichkeit von morgen bewusst zu sein.»
Geliebtes Österreich, finsteres Ungarn, Schicksalsgemeinschaft der Juden und endlich Europäer. Vier Identitäten. Das Fazit des fast Hundertjährigen: «Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und zugleich tiefste Lehre aus meinem langen Leben.» Der Journalist versucht bis heute, diese Zerbrechlichkeit sichtbar zu machen.
Paul Lendvai: Wer bin ich? Zsolnay-Verlag, Wien 2025. 123 S., Fr. 37.90.