Dienstag, August 19

Die Schweizer Autorin wandelt mit «Die Holländerinnen» auf verschlungenen Pfaden in einem selbst geschaffenen Dickicht. Zutage fördert sie nichts – und doch zu viel.

Vom Hörensagen lernt man lügen – ein altes Sprichwort, das neue Relevanz gewinnt. Zumindest, wenn man das Hörensagen etwas weiter fasst. Gerade die sozialen Netzwerke sind Nacherzählungs-Schleudern, in denen Narrative sich verbreiten, unterwegs konstant mit An- und Absichten angereichert werden und dennoch an gefühltem Wahrheitsgehalt gewinnen. Nicht durch Faktenprüfung, sondern durch die schier endlose Wiederholung.

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Da irgendwo setzt die Schweizerin Dorothee Elmiger mit «Die Holländerinnen» an. Im Mittelpunkt des Romans steht ein reales Verschwinden, das so surreal anmutet, dass es in den sozialen Netzwerken exzessiv diskutiert wurde und von Spekulationen und Verschwörungstheorien umrankt ist.

Vom Urwald verschluckt

Im April 2014 machten sich zwei Niederländerinnen aus Utrecht auf zu einer Wanderung im Dschungel von Panama – und kehrten nie zurück. Nach einer monatelangen Suche fand man Leichenteile der beiden, ohne die Todesursache feststellen zu können.

Zunder für die digitalen Lagerfeuer-Geschichten war, dass Wochen später zufälligerweise auch der Rucksack der beiden Frauen gefunden wurde. Darin lagen, von der konstanten Feuchtigkeit im Regenwald erstaunlicherweise verschont, die beiden Smartphones der Frauen. Dazu eine Kamera, mit der jemand im Dunkeln der Dschungelnacht innerhalb weniger Sekunden Dutzende Fotos geschossen hatte. Wozu? Ausserdem war ein einziges Bild auf der Kamera gelöscht worden. Von wem?

Im Web wucherten die Gerüchte wild. Längst liegt die Geschichte der Niederländerinnen einmal in wenigen nüchternen Fakten und unzählige Male in spekulativen Varianten vor.

Hörensagen als Prosa

Elmiger konstruiert ihre Version des Verschwindens der Niederländerinnen als literarisches Nacherzählungsgespinst. Jemand berichtet, was eine Autorin, «eine der wichtigsten Stimmen dieser Zeit», im Rahmen einer Vorlesungsreihe erzählt: Als Chronistin eines Kunstprojekts begab sie sich zusammen mit einer Gruppe von Theaterleuten auf die Spuren der «Holländerinnen».

Zum derart Kolportierten gehört nicht nur die Reise selbst, sondern gehören auch Grenzerfahrungen, die Dritte der Autorin erzählten, nachdem sie diese entweder selbst erlebt oder ihrerseits berichtet bekommen hatten. Da ist etwa die junge Schweizerin, die einst eine Herde trächtiger Geissen hütete; fast gleichzeitig kamen alle Geissen nieder, und innerhalb kürzester Zeit starben alle Zicklein.

So erzählt es die Schweizerin der Autorin, die Autorin ihrem Publikum und jemand aus diesem Publikum der Leserschaft. Elmigers Versuchsanordnung, Hörensagen als Prosa, ist interessant, misslingt aber auf weiten Strecken. Denn das Nacherzählen von Grenzerfahrungen aller Art ist mit zu vielen Referenzen, Hommagen und Symbolen gespickt. Zudem ist der gesamte Text ebenso konsequent wie umständlich in indirekter Rede gehalten.

Munteres Assoziieren

Elmigers Anspielungen sind nur manchmal subtil. Sie reichen vom Regisseur Werner Herzog, der seinerseits im Dschungel drehte und in seinem Schaffen wohl ähnlich manisch war wie der beschriebene Theatermacher, weiter zum Schriftsteller Joseph Conrad – dessen Dschungelroman «Heart of Darkness» von Francis Ford Coppola (auch sein Name fällt) als «Apocalypse Now» fürs Kino nacherzählt wurde. Auch Frischs «Homo faber» klingt im Unwohlsein der Rednerin gegenüber der feucht-üppig wuchernden Natur an.

In dieser Natur wiederum trifft die Rednerin überall auf westliche Vereinnahmung und Umweltverschmutzung: eine verlassene Villensiedlung einstiger Plantagen-Manager oder einen kaputten Kühlschrank auf einer zum Schrottplatz gewordenen Lichtung im Nirgendwo.

Über weite Strecken liest sich der Text auch wie eine Übung im freien Assoziieren. Zum Beispiel: «Übrigens, sagt sie, habe sie im Zusammenhang mit dieser Geschichte, der Geschichte der Schweizerin, selbstverständlich daran denken müssen, dass es die Ziege – τράγος, die männliche Ziege – sei, die der Tragödie ihren Namen gegeben habe, und dass der Begriff der tragoidia, je nachdem, wem man folge, als Lied für den Preis einer Ziege oder als Gesang anlässlich eines Ziegenopfers verstanden werde.»

Der Leidensweg

Man kann sich auf das Spiel aus Entdecken und Deuten einlassen und von der Buch- zur Fährtenleserin werden. Man tut das auch einige Male mit Spass, verliert sich in der Textform – ein klein wenig so wie die «Holländerinnen» im Dschungel. Eine läppische Parallelisierung von Form und Inhalt natürlich, die allerdings gewollt zu sein scheint.

Denn auch die Symbolik wird an die Grenzen des Erträglichen getrieben. Etwa wenn die «Holländerinnen», deren Leidensweg die Theaterleute nachempfinden sollen, nicht wie in der Realität aus Utrecht stammen, sondern aus Leiden.

«Die Holländerinnen» verfügt aber auch über Momente, in denen aufblitzt, was etwa Elmigers Erstling unter anderem ausgemacht hat: Räume von starker Suggestivkraft zu schaffen.

Das geschieht erneut etwa dann, wenn die Theaterleute das Protokoll der letzten Handlungen studieren, die die «Holländerinnen» mit ihren Mobiltelefonen vornahmen. Notrufe, erst in kurzer Folge, dann immer weniger, bis zum Verschwinden und Verstummen.

Was damit anzufangen ist

Mit ihren vergangenen drei Werken, allesamt für den Schweizer Buchpreis nominiert, hat Elmiger Texte geschaffen, die mit ihren vielfältigen literarischen Anspielungen neben der fiktionalen auch noch eine sekundäre Welt hervorbrachten. Diesmal allerdings fehlt die Leichtigkeit. Schwer steht der Text auf den Schultern all jener, auf die er Bezug nimmt – und droht abzustürzen.

Einem eingebauten Selbstschutz gleich scheint Elmiger Kritik vorwegzunehmen: «Sie hebt den Blick, als eine Tür des Auditoriums sich mit hörbarem Klacken schliesst. Falls man etwas anderes von ihr erwartet habe, entschuldige sie sich. Offen gestanden wisse sie selbst nicht, was hier vor ihr liege oder was damit anzufangen sei. Aber nun sei sie schon so weit hinausgeritten, dass es sinnlos wäre, die Zügel noch herumzureissen.» Besser allerdings wäre es gewesen.

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. Roman. Hanser-Verlag, München 2025. 157 S., Fr. 34.90.

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