Donnerstag, Januar 30

Konzerte vor dem Altersheim, abgesperrte Parkbänke, Hippiefrisuren: Die Pandemie veränderte den Alltag radikal. Dennoch erscheint vieles im Rückblick surreal – als hätte es diese Zeit nie gegeben.

Einem jüngst erschienenen Roman gelingt es, seine Leser in eine Zeit zu katapultieren, die keineswegs fern ist und uns heute doch vollkommen unwirklich erscheint. In «Am Meer» von Elizabeth Strout verlässt eine Schriftstellerin mit ihrem Ex-Mann fluchtartig New York. Sie zaudert noch, doch er, ein Naturwissenschafter, drängt dazu: Es ist März 2020.

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Das Virus fordert die ersten Opfer in der Metropole, also nichts wie weg. Ziel der beiden ist ein abgeschiedenes Ferienhaus an der Küste von Maine. «Macht bitte, dass ihr aus der Stadt kommt», fleht der Mann auch die erwachsenen Töchter an. Jeder Atemzug in dem dichtbesiedelten Gebiet könnte zur tödlichen Gefahr werden.

Diese Dramatik schon auf den ersten Seiten hatten etwas Befremdendes. Da war ein Widerwille, sich in jene Zeit zurückzuversetzen. Die Corona-Pandemie scheint weit weg, obwohl seither erst fünf Jahre vergangen sind. Viele Massnahmen, die den Alltag massiv einschränkten, wirken aus heutiger Sicht grotesk. Reagierten die Protagonisten, die sie befolgten, nicht panisch?

Er berührt den Zapfhahn beim Tanken nur mit Einweghandschuhen. In Maine gehen sie zwei Wochen in Quarantäne, obwohl der nächste Nachbar nicht einmal in Sichtweite wohnt. Kaufen sie im örtlichen Lebensmittelladen ein, waschen sie danach ihre Kleider.

Klatschen auf dem Balkon

Doch auch wenn die Bilder wie aus Träumen sind, sie hatten eine Realität. Das vergegenwärtigt dieser Corona-Roman. Er weckt Erinnerungen an eine seltsame Zeit. Das Virus versetzte die Welt in Schrecken. Die Menschen stellten ihr Leben radikal um. Man wundert sich darüber, wie folgsam man war und was alles man mitmachte.

Wer erinnert sich noch an die mit einem roten Band abgesperrten Parkbänke? An die Polizisten, die patrouillierten und jeden, der gegen die Vorschrift verstiess, mit bis zu 200 Franken büssten? An die Markierungen für Warteschlangen mit dem Ziel, dass man Abstand hält? An die in Plastiksäcke gehüllten Mikrofone der Fernsehreporter? Oder an den leeren Himmel und an die Ruhe und Stille, die plötzlich über allem lag?

Die Infizierten isolierten sich zwei Wochen in ihrem Zimmer. Die Familie stellte ihnen das Essen vor die Tür.

Wenn man die alte Mutter besuchte, blieb man im Garten, während sie im offenen Fenster stand. Über Monate gab ihr niemand einen Kuss oder hielt ihre Hand.

In Frankreich kauften sich die Leute Hunde, um spazieren gehen und die Wohnung wenigstens für eine Stunde verlassen zu dürfen. Auch Stofftiere sollen an der Leine mitgeführt worden sein.

Erinnern Sie sich, als die Schweizerinnen und Schweizer an einem Freitag um halb eins auf ihre Balkone traten oder ans offene Fenster und in die Hände klatschten – als Dank für das Gesundheitspersonal?

Oder an die Berge vernichteter Blumen und Pflanzen, weil zu Beginn auch Blumenläden und Gärtnereien schliessen mussten? An die Musizierenden vor den Altersheimen, die den Eingesperrten ein Ständchen brachten? An die Plexiglasscheiben zwischen den Restauranttischen, als es eine zaghafte Öffnung gab?

Die Monate während der Pandemie wirken wie herausgestanzt im Fluss der Zeit. Als hätte es sie nie gegeben. Die Folgen jener Zeit sind im Alltag kaum mehr spürbar. Nicht für alle, aber für die meisten.

Selbst Donald Trump war alarmiert

Es ist nicht eingetroffen, was der Philosoph Slavoj Žižek im März 2020 in der NZZ schrieb. Das Coronavirus werde unser Zusammenleben fundamental verändern, so Žižek. «Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zur Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein, als wir es vor dem Ausbruch gewohnt waren.» Und weiter: Wir würden «gelernt haben, ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen».

Zu seiner Verteidigung lässt sich sagen: Man wusste es damals nicht besser. Selbst Politiker, die heute die Massnahmen gegen das Virus als Hysterie darstellen, reagierten verunsichert. Donald Trump forderte im März 2020 die Amerikaner dazu auf, aufs Reisen zu verzichten und Gruppen mit mehr als zehn Menschen zu meiden.

Der damalige britische Premierminister Boris Johnson wandte sich an die Nation: «Das Coronavirus ist die grösste Bedrohung für unser Land seit Jahrzehnten.» Das hinderte ihn nicht daran, während des Lockdowns Partys zu feiern.

Von Anfang an gab es aber auch Widerstand und Protest gegen die Notverordnungen. Staat und Medien wurde vorgehalten, absichtlich ein Klima der Angst zu schaffen. Der ängstliche Bürger sei besser kontrollier- und lenkbar, sagte der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Behörden und Wissenschafter fänden Gefallen am Machtzuwachs.

In dem Masse, wie Freiheitsrechte beschnitten wurden, sah man die demokratische Gesellschaft bedroht. Totalitäre Zustände wurden heraufbeschworen.

Das war, bevor es einen Impfstoff gab. Als man sich impfen lassen konnte, brach der Krieg zwischen Befürwortern und Gegnern erst richtig los. Dabei mussten sich vor allem die Impfunwilligen vieles anhören. Unterschiedslos wurden sie als «Staatsfeinde» beschimpft, als «Spritzenscheue», «Corona-Leugner», «Wissenschaftsgegner».

Es war die Zeit von Immunologen, Virologen, Epidemiologen, die immer wieder auch falsch lagen. Namen wurden gross, von denen man sich heute fragt, wo sie geblieben sind. Wer erinnert sich noch an Marcel Salathé oder Christian Althaus?

Endlich sich gehen lassen dürfen

Trotzdem erlebten viele die Krise als eine soziale Erholung. Endlich konnte man das Tempo herunterfahren, kam das gesellschaftliche Leben zum Stillstand. «Bleiben Sie zu Hause», mahnte Bundesrat Alain Berset. Die einen hörten den autoritären Vater. Die anderen nahmen es als die Erlaubnis, nichts mehr zu müssen.

Für Alleinstehende war die Einsamkeit das schlimmste Virus. Doch Ängstlichen gab es ein Gefühl der Kontrolle, das Haus nicht mehr zu verlassen. Mit dem Virus liessen sich diffuse Ängste rationalisieren. Es war ein handfester Grund, in Sorge zu sein.

Das Virus hatte auch die Medien im Griff. Über etwas anderes zu schreiben, wirkte frivol. Journalisten wurden erfinderisch. Seismografisch griffen sie gesellschaftliche Phänomene auf, die sich auf das Virus zurückführen liessen. Also fast alles.

Sie stellten im Lockdown eine neue Lust am Telefonieren fest. Paartherapeuten erklärten im Interview, wie Liebende das Aufeinandersitzen überlebten. Vom Machtverlust der Blondinen war die Rede, die sich nicht mehr die Haare färben lassen konnten.

Ebenso entstand in jenen Monaten eine Corona-Literatur, zu der Elizabeth Strouts «Am Meer» gehört. Diese Krisenprotokolle sind charakterisiert dadurch, dass ihre Erschaffer die Bedeutung des Moments überschätzten, als sie sie schrieben.

Obwohl ein Zeitdokument, sind sie schlecht gealtert. Dafür veränderte die Pandemie unser Leben zu wenig einschneidend. Der Alltag im Lockdown war ereignislos, dafür das innere Erleben umso bewegter. Strouts Roman fehlt es an Zug. Ihr Paar unternimmt lange Spaziergänge am Strand. Tage voller Wiederholung, banale Gespräche, kreisende Gedanken in schlaflosen Nächten. Man langweilt sich beim Lesen.

Schliesslich erkennt die Erzählerin, und da ist sie schon zweimal geimpft und die zweite Ansteckungswelle am Abklingen: «Im Prinzip sind wir alle im Lockdown, durchgehend. Wir wissen es nur nicht. Aber wir behelfen uns, so gut wir können. Fast alle versuchen wir nur, uns irgendwie durchzuschlagen.»

Das Ende der Pandemie brachte es mit sich, dass man das seither alles wieder vergessen hat. Man schlägt sich durch, ohne darüber nachzudenken.

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