Sonntag, November 24

Die zwei Leuchtturmwärter Javier und Rafael bewohnen die abgelegene Insel Cayo Guano del Este. Sie teilen die Einsamkeit und die Launen des Meeres.

«Javier, sieh mal dort! Siehst du den Punkt?» Rafael zeigt Richtung Land. Doch Javier sieht nichts, nicht den Punkt und auch nicht das Land, das zu weit weg liegt, um es zu erkennen. Cienfuegos, die nächste grössere Stadt, ist gute 40 Seemeilen von Cayo Guano del Este entfernt. Zwischen Cienfuegos und dem Inselchen mit dem Leuchtturm gibt es nichts als Wasser. Keine Fährverbindung. Nur ab und zu ein einzelnes Fischerboot der Regierung, denn sonst darf niemand sich so weit vom Festland entfernen.

Wenn die Fischer kommen, legen sie an am Pier, das nicht mehr ist als eine raue Einbuchtung im Fels. Sie bringen Eis und Fische. Steigen den 54 Meter hohen Leuchtturm hoch und hoffen, zuoberst ein Telefonsignal zu erwischen. Haben sie Glück, erreichen sie ihre Familien, fragen nach den Kindern, erzählen von ihrem Fang.

Doch das Boot der Fischer der Regierung ist es nicht, draussen in der Ferne. Wer oder was also könnte das sein, dort am Horizont? «Streng dich an, Javier, was siehst du?» «Ich glaube, es ist ein Boot, ein Segelboot!» «Wir kriegen Besuch, Javier, wir kriegen Besuch! Vielleicht bringen sie uns eine Flasche Rum!»

Rafael lässt die Harpune, mit der er kurz zuvor zwei Fische geschossen hat, fallen und rennt über die steinige Erde zum Ufer, um besser in die Weite sehen zu können. Sein Gesicht ist schmal, hager, genauso wie sein Körper, an dem dünne Leggins und ein knallgelbes Fussball-Shirt kleben, seine Ausrüstung zum Freitauchen. Rafael ist erst vor kurzem auf die Insel mit dem Leuchtturm gekommen und könnte mit seinen dreissig Jahren Javiers Sohn sein.

Javier ist fünfzig Jahre alt, kleiner und meist ohne T-Shirt, so dass sein runder Bauch gut sichtbar ist. Er ist seit drei Jahren Leuchtturmwärter auf Cayo Guano del Este. Kleine Punkte am Horizont hat er schon oft gesehen, sie bringen ihn nicht mehr aus der Fassung.

Medikamente und saftige Mangos sind immer willkommen

So oder ähnlich könnte es sich zugetragen haben. Der kleine Punkt sind wir oder genauer gesagt: unser Segelboot «Mabul». Wir halten Kurs auf den Leuchtturm, den wir schon von weitem sehen, Cayo Guano del Este, 21° 39′ 49″ N, 81° 02′ 24″ W.

Wer da wohl wohnt? Fragen sich mein Partner und ich auf «Mabul». Wer immer es sein wird: Bestimmt mögen sie Rum. Den haben wir reichlich geladen. Etwas Reis, Mangos. Und eine Taucherbrille und Medikamente als mögliche Geschenke. Nach eineinhalb Monaten an Kubas Südküste haben wir gelernt, dass alles willkommen ist, weil es nichts gibt.

Die Regale in den Läden Kubas sind leer, nur Büchsen und Rum gibt es überall. Auf dem Meer, wo wir nur Fischer treffen, sind amerikanische Dollar beliebt, meist jedoch tauschen wir Langusten gegen Rum und Verbandsmaterial, Fisch gegen einen Fussball und Angelhaken.

Vom Wohnhaus stehen noch die Grundmauern

Der Leuchtturm auf Cayo Guano del Este hat nichts von der Eleganz englischer Leuchttürme, sondern ist ein solides Werk aus Stahl und Beton. Er ist ein Werk der Sowjets. Wie eine flugbereite Rakete steht er auf der flachen, steinigen Insel, auf der nur zwei Palmen wachsen. Der Turm trägt drei rote und vier weisse Farbringe. Wer die rot lackierte Wendeltreppe im Turm erklommen und das Eisentor zur Plattform aufgestossen hat, schnappt zuerst einmal nach Luft, so anstrengend ist der Aufstieg, so atemberaubend der Blick von hier oben.

Die Insel ist ein steingraues, in eine Spitze auslaufendes Dreieck, hier und da mit ein paar Büschen oder etwas Gras durchsetzt. Die Ruine des alten Leuchtturms, der 1909 errichtet wurde, und das dazugehörige Wohnhaus sind gut erkennbar. Vom Wohnhaus stehen noch die Grundmauern, der alte Leuchtturm jedoch zieht sich als lange Linie schwarzer Rostklumpen über den Boden, zerfressen vom Salz des Meeres und vom Zahn der Zeit.

An den Inselkanten, die nur wenige Zentimeter über das Meer ragen, beginnt ein Teppich aus unterschiedlichsten Blautönen: Türkis, Marineblau, Dunkelblau. Auch das Korallenriff, das am Nordende der Insel beginnt, sieht man von hier oben als dunkle Verfärbung im Meer.

Das Erstaunlichste aber ist das Licht im Leuchtturm. In der Nacht gleitet alle 15 Sekunden ein kraftvoller Lichtstrahl fast 20 Seemeilen übers Wasser, um Schiffen den Weg zu weisen. Man erwartet einen starken Scheinwerfer, doch die Lichtquelle kommt von einer winzigen 50-Watt-Halogen-Birne, wie sie vor Zeiten der LED in Autos verbaut wurde. Sie sitzt im Zentrum einer schneckenförmigen Kaleidoskop-Konstruktion aus Hunderten von Glasstücken. Das Konstrukt ist eine Art Spiegelkabinett, das gewaltig erscheinen lässt, was winzig klein ist.

Jeden Abend steigt Rafael oder Javier auf den Turm, um das Licht anzuzünden und das Gewicht hochzuziehen, damit sich die Glaskonstruktion dreht. Jeden Morgen steigt der andere Leuchtturmwärter hoch, um es abzuschalten. Jeden Tag wechseln sie die Rolle. Mehr gibt es hier nicht zu tun für Javier und Rafael.

Eine winzige Halogen Birne schickt ihren kraftvollen Lichtstrahl fast 20 Seemeilen übers Wasser.

Die scharfen Felskanten am Pier verhindern ein Anlegen

Wir werfen auf der Leeseite der Insel Anker. Erst am nächsten Tag lassen wir das Dinghy, unser kleines Beiboot, zu Wasser, um den Leuchtturmwärtern und ihrer Insel einen Besuch abzustatten. Das Pier mit seinen scharfen Felskanten wirkt zu gefährlich für ein verletzliches Gummiboot, so suchen wir nach einer sandigen Stelle zum Anlanden. Als wir uns einen Weg durch dorniges Gebüsch und scharfe Steinbrocken Richtung Leuchtturm suchen, werden wir bereits erwartet.

«Bienvenidos!», ruft der Mann schon von weitem. «Ich bin Rafael, woher kommt ihr? Ihr seid unsere ersten Gäste in zwanzig Tagen.» «Bist du ganz allein hier? Seit zwanzig Tagen?» «Nein, nein. Javier, mein Compañero, ist auch da. 30 Tage sind wir jeweils auf der Insel und danach 30 Tage an Land bei unseren Familien. Die vergehen wie im Flug.» «Und was macht ihr hier?» «Wir schauen zum Leuchtturm und sorgen für die Sicherheit hier.» «Die Sicherheit des Leuchtturms?» «Auch, aber vor allem, dass kein Boot von Feinden in unsere Gewässer eindringt und niemand illegal ein- oder ausreist. Falls wir jemanden sehen, müssen wir das melden.»

Gesehen haben sie schon seit Jahren niemanden mehr, aber selbst wenn es diese Eindringlinge oder Flüchtlinge gäbe, blieben sie wohl unerkannt. Sie müssten die Insel einfach in der Nacht passieren. Die Leuchtturmwärter haben weder ein Nachtsichtgerät noch Radar, einzig ein selbstgebautes Kanu dient ihnen als Transportmittel in Inselnähe und Funk als Kommunikation.

Wer fliehen will, beginnt seine Reise zudem selten an der Südküste, legt stattdessen an der Nordküste Kubas ab. Von dort sind es 90 Seemeilen bis nach Florida, doppelt so viele wie von Cienfuegos nach Cayo Guano del Este.

Für die selbstgebauten Boote, auf denen die Flüchtlinge unterwegs sind, ist auch diese Meeresstrecke meist zu weit. Ein Sturm, ein Leck und die Reise ist vorbei, und oft auch das Leben der Passagiere.

Die «Geliebte» hat ihre Launen

Rafael führt uns an den Ruinen des alten Faro vorbei zum Leuchtturm. Wie ein grosses Stück in einem Käselaib, ist ein Dreieck im runden Leuchtturmbauch gegen das Meer hin offen. Es ist eine grosszügige Veranda, an deren Seiten Türen zur Küche, zu den Schlafräumen und zum Turm führen. An den Wänden blättert blaue Farbe ab, doch die Steinplatten, auf denen ein Holztisch mit vier Stühlen steht, sind makellos. Am Tisch sitzt Javier, eine Hand auf dem nackten Bauch, in der anderen eine Zigarette.

«Die meiste Zeit sitzen wir hier und schauen aufs Meer», sagt Javier. Wer auf der Leuchtturminsel arbeiten wolle, der müsse das Meer lieben und die Einsamkeit. Wer das nicht tue, werde verrückt. Schweigend und stundenlang sässen sie oft hier. «Das Meer ist wie eine Geliebte. Du kannst es immer wieder ansehen und langweilst dich doch nicht. Sein Ausdruck verändert sich, die Farbe. Am Morgen hat es einen entspannten, ruhigen Ausdruck. Nur manchmal ist es aufgebracht und wild.»

Kommt ein Hurrikan, werden die Leuchtturmwärter von der Insel weggebracht von der Marine und kehren erst danach wieder zurück, um aufzuräumen.

Vor mehr als zwei Jahren zog der letzte Hurrikan heran. Er brachte zwar viel Wind, zerzauste die Insel, aber Schaden richtete er nicht an. Angst, nein, Angst hätten sie keine vor dem Meer und seinen Launen, sagt Rafael: «Respektieren muss man es, genau beobachten, um es zu kennen. Schlagartig kann es sich verändern, kann lieblich sein am Morgen und zornig am Abend, aber wir fürchten uns nicht vor ihm.»

Wenn er Geld hätte, dann würde er sich ein Haus am Meer bauen. Doch Geld haben die Leuchtturmwärter von Cayo Guano del Este beide keines. 7000 kubanische Pesos, 260 Franken, verdienen sie pro Monat. Das muss reichen, um ihre Familien zu ernähren. Von der Regierung bekommen sie Reis, Bratöl, Schweinefleisch, Gemüse. Doch jetzt, nach 20 Tagen, hätten sie das meiste aufgegessen. In solchen Situationen schlachten sie eines der Hühner, die ein anderer Leuchtturmwärter hierhergebracht hatte und die auf dem kargen Boden herumpicken.

Jeden Tag gehe er fischen, sagt Rafael. «Ich liebe das Meer, und ich liebe das Fischen. Als Erstes springe ich am Morgen ins Meer und lasse mich von ihm tragen. Dann hole ich meine Harpune.» Eine Angel hat er nicht. Wenn er fischt, dann holt er tief Luft und taucht ab auf der Jagd nach Fischen und Langusten. «Wenn ich einen Fisch sehe, dann ziele ich direkt auf seinen Kopf oder auf seine Wirbelsäule, treffe ich nicht richtig, schütteln die Fische die Harpune ab und entwischen.»

Am Morgen taucht Rafael mit der Harpune nach Fischen, von denen einige frisch verzehrt, andere eingefroren werden, um sie später als «Geschenke der Insel» seiner Familie mitzubringen.

Einige der Fische essen sie gemeinsam, andere legt Rafael in die Tiefkühltruhe mit dem Eis der Fischer, die ebenfalls hier ihren Fang aufbewahren, bis sie zurück nach Cienfuegos fahren. Die Fische sind die Geschenke der Insel, die er später an Land seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern mitbringt.

Er und Javier wünschten sich ihre Familien hierher. «Früher waren Familien erlaubt. Doch dann wurde ein Kind krank, und die Armee musste es mit einem Helikopter ausfliegen. Seither schicken sie die Männer allein», sagt Javier. Und Rafael sagt: «Verstehst du jetzt, weshalb man hier das Meer besonders mögen muss und das Fischen? Wir haben nichts anderes.»

Ein Leben im Takt des Leuchtturms

Die Abenddämmerung hat eingesetzt. Die Sonne spiegelt sich golden auf den Wellen, der Himmel ist ein zartes Rosa. Mücken greifen an, und die Luft ist erfüllt von scharfen Pfiffen. «Das sind die Murmeltiere der Insel, eine Art grosse Ratten», sagt Javier. Vor vielen Jahren habe sie einer, der mit dem Boot gekommen sei, auf die Insel verschleppt, seither verbreiteten sie sich wie die Pest. «Sie fressen alles kahl, jede Wurzel, jedes Blatt», deshalb gibt es nur zwei Palmen auf der gesamten Insel. Die Tiere sind geschützt, die Leuchtturmwärter jagen sie trotzdem.

«Wir jagen sie abends, wenn sie aus ihren Löchern kommen. Ihr Fleisch ist zart und schmackhaft», sagt Rafael und steht auf. Es ist 19 Uhr 30, Zeit, den Generator anzuwerfen, Zeit, Licht zu machen. Auf der Insel richtet sich alles nach dem Licht im Turm, und dieses leuchtet von 20 Uhr bis 6 Uhr früh. Während Rafael den Turm hochsteigt, geht Javier in den grossen Innenraum, wo sich die Küche und die Zimmer befinden.

An den Wänden hängen verblichene Schwarz-Weiss-Fotos des alten Leuchtturms, eine einfache Metallkonstruktion auf einer Insel, die damals noch mit Gras überwachsen war. Auf einem Tisch steht das Funkgerät, es gibt ein paar ausgesessene Sessel im Design der 1950er Jahre und eine Kaffeemühle, aber keinen Kaffee. Es stinkt nach Fisch. Kein Wunder, die Kühltruhe ist voll davon, aber Strom gibt es seit dem Morgen keinen mehr. Während der Fisch langsam auftaut, scheinen Raum und Ort in der Zeit eingefroren zu sein. Auf einmal erfüllt ein Orchester, eine Trompete, eine Stimme den Raum. Javier hat Musik aufgelegt. Beny Moré singt von der Liebe, von Kuba, von Hoffnung und besseren Zeiten.

Zwischen Hoffnung und Verzagen

Wir stellen die Rumflasche auf den Tisch. Javier geht in die Küche und kommt mit vier kleinen Gläsern zurück. Jetzt sehen wir den Lichtstrahl des Leuchtturms. Er streift wie ein langer Arm über das Meer, das nun schwarz ist mit einem dünnen Silberstreifen, den der Mond vom Horizont bis zur Insel zeichnet. Kurz darauf kommt Rafael wieder. Wir schweigen, nippen am Rum, hören der Musik zu. «Musik gehört zu uns Kubanern. Nimmt man sie uns weg, sind wir halbe Menschen», sagt Rafael.

«Ihr kennt doch das Lied ‹Guajira Guantanamera›? Alle Welt kennt es! Joseíto Fernández hat es gesungen. Er ist einer von uns, ein Kubaner», sagt er. Natürlich kennen wir es. Doch jetzt bekommt es eine andere Bedeutung, ist nicht mehr das Lied über ein Mädchen aus Guantánamo, das wir als Kinder im Musikunterricht sangen, sondern ein Widerhall aus den 1920er Jahren, als amerikanische Bartender nach Kuba auswanderten, um Cocktails zu mischen, während in den USA unter der Prohibition der Verkauf von Alkohol verboten war.

Wie das Licht ihres Leuchtturms den Seefahrern, scheint die Musik den beiden Kubanern Trost zu spenden. Rafael deutet auf seine Zigaretten: «Eine Schachtel davon kostete vor der Pandemie sieben Pesos, heute wollen sie 150 dafür. Ein Pfund Reis war fünf Pesos, jetzt 200. Unser Lohn aber ist der gleiche geblieben. Wie soll das gehen?» Wer jung und mutig sei, wer genügend Geld für Schlepper zusammenkratzen könne, der gehe – übers Meer. Nicaragua erlaubt den Kubanern visafreie Einreise. Schlepper führen von dort in den Norden, Ziel USA, in die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die, die zurückbleiben, überleben, dank denen, die aus dem Ausland Geld schicken. Javier und Rafael haben keine Verwandten im Ausland. Die Flucht übers Wasser, zu riskant, wollen sie nicht wagen.

Anderntags sitzt Javier am Holztisch und schaut aufs Meer. Rafael nimmt einen Fisch aus und enthauptet eine Languste. «Für dich, damit ihr euch an uns erinnert. Vergiss nicht, den Darm aus der Languste zu ziehen, wenn du sie brätst», sagt er. Als wir den Anker lichten, ist Rafael bereits wieder im Wasser, Javier jedoch winkt von der Veranda seines Leuchtturms. Der Wind trägt uns zum nächsten Cayo. Am Abend sehe ich einen hellen Punkt in der Ferne. Er blinkt auf und verschwindet und blinkt wieder auf. «Schau mal, was ist das dort, ein Schiff?» «Natürlich nicht! Javier hat den Leuchtturm angeknipst.»


«Streifzug durch. . .»

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