Sonntag, April 20

Seit das Militär die Rohingya aus Myanmar vertrieben hat, suchen diese verzweifelt die Chance auf einen Neuanfang. Manche flüchten bis nach Indonesien. Doch auch dort ist die Situation schwierig – und die Stimmung bisweilen feindselig.

Am Strand von Kulam ragt das Wrack eines Holzboots aus dem Meer. Die letzte Reise der «Mobaraka» führte von Bangladesh in diesen Küstenort der indonesischen Provinz Aceh, die ganz im Westen des südostasiatischen Landes liegt. 17 Tage brauchte das Boot für die rund 1800 Kilometer. An Bord waren 233 Menschen. Die «Mobaraka» strandete am 15. November des vergangenen Jahres in Kulam. Die Passagiere sind seither in einem Lager unweit des Strandes eingesperrt.

Die indonesische Provinz Aceh

Von dort können sie das Wrack des Schiffes, 20 Meter lang und 5 Meter breit, sehen. Es erinnert sie an die Tortur, die sie auf hoher See erlebt haben.

Züge eines Genozids

Der 20 Jahre alte Aziz Ullah erzählt, weshalb ihm die zweieinhalb Wochen viel länger vorkamen. Er erzählt, wie die Menschen dicht gedrängt sassen, dass sie kaum zu essen und zu trinken hatten. Eine Frau hat die Reise nicht überlebt.

Die Bewohner des Lagers Kulam stammen allesamt aus dem Westen von Myanmar und sind Rohingya. Die muslimische Minderheit, die eine von den Sufis inspirierte Variante des sunnitischen Islam praktiziert, wurde im mehrheitlich buddhistischen Myanmar nie anerkannt. Und dies, obwohl ihre Vorfahren seit dem 15. Jahrhundert in dem Teilstaat Rakhine leben.

Im August 2017 hat das Militär mit ihrer systematischen Vertreibung begonnen. Die Soldaten zündeten ihre Dörfer an und ermordeten mindestens 6700 Menschen. Von der einen Million Rohingya, die einst in Myanmar lebten, retteten sich mehr als 700 000 über die Grenze nach Bangladesh. Am Rande des Ferienorts Cox’s Bazar ist das grösste Flüchtlingslager der Welt entstanden. Auch Aziz Ullah floh 2017 mit seiner Familie zunächst ins Nachbarland.

1800 Kilometer mit dem Boot von Bangladesh nach Aceh

Doch in Bangladesh sind die Bedingungen laut Augenzeugenberichten katastrophal. Banden tyrannisieren die Flüchtlinge. Die Essensrationen sind eingeschränkt worden. Die Bangalen verbinden damit die Botschaft, dass die ungebetenen Gäste möglichst bald verschwinden sollen. Doch wohin sollen Menschen fliehen, die aus der Heimat vertrieben wurden und staatenlos sind?

Mindestens 569 Rohingya sind im vergangenen Jahr bei dem Versuch, auf dem Seeweg aus Myanmar oder Bangladesh zu fliehen, ums Leben gekommen oder werden vermisst. Es sei die höchste Zahl seit 2014, teilt das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit. Jeder Achte der annähernd 4500 Rohingya, die 2023 zu fliehen versuchten, kam damit ums Leben. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

Aziz ist mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Indonesien gekommen. Das Lager von Kulam ist primitiv. Holzpfähle, überdeckt mit blauen Planen, bieten notdürftigen Schutz vor der gleissenden Sonne, starkem Wind und Regen. Überall liegt Plastikmüll herum.

Für Frauen gibt es wenige Toiletten, für Männer gar keine. Sie verrichten ihre Notdurft dort, wo sie im Lager ein Örtchen finden. Wasser ist knapp. Waschen können sich die Bewohner nur alle paar Tage. Immerhin gibt es dreimal am Tag Essen, finanziert und organisiert vom UNHCR. «Es schmeckt gut, aber es ist eintönig», sagt Aziz, der passabel Englisch spricht. Das chronisch unterfinanzierte Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR stösst in Aceh an Grenzen. Die Mittel werden wegen der Kriege in Gaza und in der Ukraine immer knapper.

Die Rohingya in Kulam befinden sich im Wartemodus. Sie liegen in den Zelten, schlafen, essen, beten, reden miteinander. «Uns ist langweilig. Wir dürfen das Lager nicht verlassen. Es ist uns auch verboten, zu arbeiten», sagt Aziz.

Nur wenige haben Geld oder besitzen ein Smartphone, das sie sich noch in Bangladesh gekauft hatten. Ihnen ist nur ihre Kleidung geblieben. Die Hosen, Röcke und Shirts liegen auf dem Boden herum oder hängen an den Holzpfählen.

Indonesien hat die Uno-Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterschrieben, die die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts bildet. So haben die Rohingya keine Aussicht auf einen legalen Status; sie dürfen nicht arbeiten und haben keinen Zugang zum Gesundheitswesen. Das indonesische Gesetz untersagt der Regierung zudem, die Flüchtlinge finanziell zu unterstützen, obwohl sie muslimische Glaubensbrüder sind.

«Rettet die Menschlichkeit. Wir wollen nach Hause»

In der Provinz Aceh leben derzeit 1400 Flüchtlinge in acht Lagern, vier bestehen aus Zelten, vier befinden sich in Gebäuden. Allerdings sind auch dort die Bedingungen unwürdig.

Im Lager Mina Raya, das unweit von Kulam liegt, sind rund 400 Rohingya in den Räumen einer einstigen Primarschule eingepfercht worden. Am Eingangstor des Camps, das die Rohingya von der Aussenwelt trennt, sind die Embleme des UNHCR sowie der Internationalen Organisation für Migration angebracht. Darüber hängen die Fahnen der EU und der Vereinigten Staaten.

Die ersten Flüchtlinge wurden 2022 in Mina Raya untergebracht. Seitdem sind immer mehr dazugekommen. Das Lager platzt aus allen Nähten. Bis zu 60 Kinder und Frauen müssen sich ein ehemaliges Klassenzimmer teilen. Sie liegen auf Betonböden, nur Planen schützen sie vor dem gröbsten Schmutz. Eine Intimsphäre hat niemand. Fliegen schwirren herum, es ist heiss, die wenigen Ventilatoren verschaffen kaum Kühlung.

An den Wänden haben die Rohingya ihre Forderungen angebracht. «Wir sind Bürger von Myanmar», ist zu lesen. «Wir werden nie vergessen und so lange kämpfen, bis wir unsere Rechte erhalten», steht auf einem anderen Plakat. Und die Forderung an die Weltgemeinschaft lautet: «Rettet die Rohingya. Rettet die Menschlichkeit. Wir wollen nach Hause.»

Solidarität ist leicht, wenn die Bedürftigen weit weg sind

Doch auch in der strenggläubigen Provinz Aceh, die eigentlich für ihre Gastfreundschaft bekannt ist, werden die Rohingya nicht gehört. Schlimmer noch: Im Dezember ist die Stimmung gar gekippt. Fischer hinderten die Boote mit den Flüchtlingen am Anlegen. In der Provinzhauptstadt Banda Aceh und auf der Insel Sabang gab es Proteste.

150 bis 200 Demonstranten, meist Studenten, zogen vor das lokale Parlament und drangen anschliessend in die Lager der Rohingya ein. Sie warfen deren Habseligkeiten herum und bedrohten sie. In den sozialen Netzwerken waren Videos von weinenden Frauen und Kindern zu sehen. Sicherheitskräfte mussten einschreiten, verstauten die verschreckten Flüchtlinge auf Lastwagen und brachten sie in Sicherheit.

Das Schlagwort «Rohingya» zieht auf X nur kurz

Zahl der Nennungen von «Rohingya» auf X, in Tausend

Den Demonstrationen waren Anfang und Ende Dezember Diskussionen auf X vorausgegangen, wo Hasstiraden gegen die Rohingya zu finden waren. Sie sollen unrein und Vandalen sein, das Gastland nicht respektieren, das Essen wieder ausspucken und unfähig sein, das muslimische Glaubensbekenntnis zu repetieren, lauteten die Vorwürfe.

Indonesian protesters storm Rohingya refugee shelter

Zudem wurden die Rohingya mit illegalen Siedlern im Westjordanland verglichen. Diese Verschwörungstheorie stand konträr zu der Solidarität der Indonesier mit ihren Glaubensbrüdern in Palästina. In Aceh sind vielerorts palästinensische Fahnen zu sehen.

Hinter den Protesten stand auch politisches Kalkül: «Warum den Rohingya helfen, wenn es noch viele arme Indonesier gibt?», lautete der Vorwurf.

Die Proteste, die ausbleibende Hilfe der Regierung und die menschenunwürdige Unterbringung haben Aziz Ullah und seine Familie ernüchtert. Auch in Indonesien werden sie wohl keine Heimat finden. Das Land duldet Flüchtlinge nur temporär, vermutlich werden sie weiterreisen müssen. Aziz sagt, dass er seinen Traum von einem friedvollen Leben dennoch nicht aufgegeben habe.

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