Der 7. Oktober 2023 hat die Welt verändert. Unmittelbar nach dem Anschlag der Hamas erinnerten sich der iranisch-deutsche Schriftsteller Navid Kermani und der israelische Soziologe Natan Sznaider an eine alte Korrespondenz. Nun liegt sie als Buch vor.
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie kann sich in Kreisen drehen, in denen sie versinkt, wie ein Karren im Morast. Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober sei er in einer anderen Welt aufgewacht, sagt der israelische Soziologe Natan Sznaider: Er sei gepackt gewesen von einer Verzweiflung, für die er keine Worte gefunden habe. Navid Kermani, der iranisch-deutsche Schriftsteller, empfand weit weg vom Geschehen einen Schrecken, der umso niederschmetternder war, als er sich auf traurige Weise vertraut anfühlte.
Sznaider und Kermani tauschten zwischen Köln und Tel Aviv Whatsapp-Nachrichten aus, telefonierten miteinander. Und sie erinnerten sich an ein Gespräch, das sie vor mehr als zwanzig Jahren geführt hatten. Im Frühling 2002 hatten sie sich in Haifa kennengelernt. Sie waren am Strand spazieren gegangen und mochten sich, trotz allen persönlichen Verschiedenheiten. Und obwohl sie sehr unterschiedliche Ansichten vertraten, was die Situation im Nahen Osten betrifft. Nach dem Treffen setzten sie das Gespräch fort. Über Monate schrieben sie sich E-Mails.
Alles wie damals
Kurz zuvor war der Konflikt eskaliert. Es war die Zeit der zweiten Intifada, 9/11 lag noch kein halbes Jahr zurück. Fast täglich kam es in Israel zu Anschlägen palästinensischer Terroristen, die Repressionen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen nahmen zu. Im März 2002 sprengte sich ein Hamas-Attentäter in einem Hotel in Netanya in die Luft. Mehr als zwanzig Menschen wurden getötet, über achtzig zum Teil schwer verletzt.
Nach dem 7. Oktober vergangenen Jahres lasen Kermani und Sznaider die Mails wieder, die sie damals geschrieben hatten. Und empfanden das gespenstische Gefühl, das sich einstellt, wenn man erkennt, dass sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Und dass man einem Text, den man vor zwei Jahrzehnten schrieb, kaum etwas hinzufügen könnte. Weil alles noch so ist wie damals. Auch wenn sich statt Sharon und Arafat heute Netanyahu und die Hamas gegenüberstehen. Und obwohl die Gewalt ein Ausmass angenommen hat, das undenkbar schien.
Sznaider und Kermani beschlossen, den Mail-Wechsel zu veröffentlichen. So, wie er 2002 geschrieben wurde. Ohne Änderungen, auch dort, wo Kermani im Vorwort anmerkt, er würde ihn heute anders schreiben – den Begriff «Unrechtsstaat» etwa würde er heute nicht mehr assoziieren wollen.«Israel. Eine Korrespondenz» heisst das Buch, das entstanden ist. Es umfasst Mails, die zwischen Februar und Mai 2002 geschrieben wurden, und enthält alle Argumente, die noch heute die Debatte über Israel prägen. Nichts Neues also? Doch, man liest das schmale Bändchen mit Gewinn. Weil man spürt, dass Kermani und Sznaider sich nichts vormachen.
Sie wissen, wie unvereinbar ihre Positionen sind und dass sie sich kaum annähern werden. Trotzdem streiten sie, engagiert und leidenschaftlich. Und halten an der Hoffnung fest, dass es eine Lösung geben werde. Weil es nicht keine Lösung geben kann. Auch ohne gegenseitiges Verständnis. «Es war mir einfach nicht mehr möglich, die Situation der Palästinenser zu verstehen, ihr Leiden in meine Überlegungen einzubeziehen», schrieb Natan Sznaider im März 2002: «Wenn ich hier ständig mit der Gewissheit leben muss, dass es Feinde gibt, die am liebsten meine Tochter und mich in die Luft jagen wollen, dann muss man einfach nüchtern sein.»
Moral aus dem Unrecht
Kermani bezieht seine Argumente zunächst aus dem Standardrepertoire der Linken: Der palästinensische Terror ist schrecklich, aber er hat Ursachen. Die liegen für Kermani natürlich bei Israel. Dass der Staat Israel auf Unrecht gründe, steht für Kermani fest. Unverhandelbar ist für ihn allerdings das Recht, das sich ein Staat «durch seine schiere Existenz, durch das Leben seiner Bürger» verschaffe: «Denn es wäre zutiefst unmoralisch, die Heimat dieser Bürger einfach auszulöschen.»
Die Moral, auf der der Staat Israel beruhe, sei «eine Moral der Faktizität», sagt Kermani, «eine Moral, die gegen ihre unmoralische Entstehung» bestehe. Eine zweifelhafte These, die Sznaider dahingehend zurechtrückt, Israel sei vielleicht der einzige Staat, der seine Existenz der internationalen Moralität verdanke, als Kompensation für das Verbrechen der Shoah. Diese Moralität allerdings sei aus arabischer Sicht nicht einsehbar.
Also doch keine Lösung, weil es keine geben kann? Interessanterweise eröffnet der Mail-Wechsel gerade da, wo er sich festzufahren scheint, so etwas wie eine Perspektive: Einig sind sich die beiden darin, dass man sich mit einer politischen Lösung begnügen müsse, weil eine moralische Lösung nie gefunden werden könne. Eine Hoffnung also? Vielleicht. Kermani und Sznaider jedenfalls sind sichtlich bemüht, an ihr festzuhalten.
Navid Kermani / Natan Sznaider: Israel. Eine Korrespondenz. Hanser-Verlag, München 2023. 64 S., Fr. 15.90.