Donnerstag, Januar 9

Mit dem tieferen Richtwert haben sich die Unfall- und Opferzahlen deutlich reduziert. Nicht alle Probleme sind gelöst. Das könnte auch mit den Polizeikontrollen zu tun haben.

Die Silvesternacht vor zwanzig Jahren fiel in der Schweiz etwas weniger feuchtfröhlich als gewohnt aus. Per 1. Januar 2005 trat ein neues Strassengesetz in Kraft. Am Steuer waren ab sofort nur noch 0,5 Promille Alkohol erlaubt. Durstig feiern und trotzdem heimfahren? Das war nun auch offiziell nicht mehr angebracht. Jener Jahreswechsel stellte den Beginn eines Kulturwandels dar. Viele mussten gezwungenermassen einen guten Vorsatz fassen: vor dem Fahren kaum zu trinken.

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Erwartungsgemäss gelang das nicht allen gleich gut. Archivaufnahmen von SRF zeigen, wie eine Zürcher Automobilistin nur drei Stunden nach Inkrafttreten der neuen Verkehrsregel in eine Polizeikontrolle und gleichzeitig vor eine Kamera von «10 vor 1o» geriet. Ihr Atemlufttest ergab einen Wert, der noch höher lag als die zuvor erlaubten 0,8 Promille. Das «Billett» war sofort weg, ihr drohte eine Strafanzeige. Happy New Year!

Jahrzehntelange Debatte

Zeit, sich darauf einzustellen, hätte die Dame ausreichend gehabt. Vorangegangen war eine jahrzehntelange politische und öffentliche Debatte. Bereits 1994 hatte die Schweiz begonnen, über eine neue Grenze bei 0,5 Promille zu diskutieren. Rund jeder fünfte Tote auf den Strassen ging damals auf Unfälle unter Alkoholeinfluss zurück. Medien begleiteten den Prozess eng. Es entstand ein Ringen zwischen Vernunft, Genuss und Eigenverantwortung. Bürgerliche argumentierten mit dem «Gläschen in Ehren», Gastrobetriebe befürchteten Umsatzeinbussen. Und alle fragten sich: Was würde die neue Grenze konkret bedeuten? Wie viel Feldschlösschen lag noch drin?

Das Land lotete sein Verhältnis zum Alkohol neu aus. So organisierte etwa die Sendung «Kassensturz» einen Versuch, bei dem sich Probandinnen und Probanden kontrolliert betranken: Hagere und Korpulente durften unterschiedlich viele Cüpli schlürfen, mit oder ohne Frühstück. Anschliessend prüfte ein Labor die Blutwerte. Das bestätigte das bisherige Halbwissen. Ein voller Magen verträgt etwas mehr Alkohol, ein massiger Herrenkörper ebenso. So ähnlich regelten es bisher die Jassrunden: Heimfahren sollte der fülligste Mann am Tisch.

Fakten und Strafen führen zu Umdenken

Trotzdem begann mit den Diskussionen um die bevorstehende Gesetzesänderung ein Umdenken. Wissenschaftliche Fakten wurden stärker beachtet. Schon mit 0,2 bis 0,5 Promille sind Aufmerksamkeit, Sehschärfe und Gehör beeinträchtigt, Reaktionszeit und Risikofreude steigen. Selbst mit dem neuen Grenzwert bleibt die Unfallgefahr doppelt so hoch, wie wenn man nüchtern fahren würde. Das sensibilisierte das Land. Die Bevölkerung verinnerlichte dank einprägsamen Werbekampagnen eine Faustregel. Ein Bier oder ein Glas Wein sind knapp erlaubt. Mit mehr wird es schnell gefährlich.

Der Nutzen einer tieferen Grenze war letztlich unbestritten in der Politik. 2004 beschloss sie der Bundesrat definitiv, gekoppelt mit häufigeren und strengeren Kontrollen. Seit 2005 darf die Polizei auch ohne Verdacht auf Alkoholkonsum einen Atemlufttest durchführen. Die Strafen wurden deutlich schärfer, sie bewegen sich zwischen Tausenden von Franken, Ausweisentzug und jahrelanger Haft.

70 Prozent weniger Tote

Dieses Gesamtpaket wirkt – wenn auch bedingt. Als der Bund 2005 die neue Promillegrenze einführte, setzte er sich ein Ziel. Innerhalb von fünf Jahren sollte sich die Zahl der Toten nach Unfällen unter Alkoholeinfluss halbieren. Leicht verspätet traf das 2013 ein. Inzwischen sind die Todesfälle um rund 70 Prozent zurückgegangen. 2023 kamen 29 Personen wegen Unfällen im Zusammenhang mit Alkohol ums Leben. Dazu hat auch die Nulltoleranz für Anfänger und Berufschauffeure ab 2014 beigetragen.

Der Roadcross-Präsident Willi Wismer ist sich sicher, dass die neue Promillegrenze genützt hat. Die Stiftung setzt sich für mehr Sicherheit auf den Strassen ein und betreut Opfer von Unfällen. «Alkoholverzicht vor dem Autofahren ist heute akzeptiert», sagt Wismer. Vor zwanzig Jahren sei das noch anders gewesen. «Vor allem ältere Personen mussten davon überzeugt werden, dass es auch ohne Alkohol geht.» Viele waren der Meinung, dass das Trinken einfach zu einem guten Essen gehöre. Heute gebe es an Apéros viel mehr Alternativen als bloss Wasser oder Orangensaft.

Wismer ist Fahrlehrer und erlebt, wie die meisten junge Fahrer sehr gewissenhaft mit Alkohol umgehen. Die verschärften Regeln für Anfänger prägen sie, aber auch der Wandel ab 2005. «Vermutlich haben sie bereits bei ihren Eltern mitbekommen, dass diese nicht tranken, wenn sie fuhren.» Zudem sei der öV heute besser ausgebaut, auch mit Nachtbussen und -zügen am Wochenende. «Man kann heute gut ohne Auto in den Ausgang», sagt Wismer.

Wer fährt, trinkt nicht

Trotzdem gibt es Verbesserungspotenzial. Die Devise, dass ein Glas vertretbar ist, sei «nicht okay», sagt Wismer. «Vielleicht schenkt der Gastgeber einfach nach.» Mit jedem Glas nehme die Hemmung ab. «Deshalb ergibt es mehr Sinn, bei null zu bleiben», sagt Wismer. Wer fahre, der trinke nicht. Während in Osteuropa schon einige Länder die Nulltoleranz eingeführt haben, diskutiert auch die EU darüber.

Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) geht ebenso einen Schritt weiter. In den nuller Jahren warb sie noch mit dem griffigen Slogan «Ein Glas ist genug». Inzwischen heisst es auf den Plakaten: «Schon ein Bier benebelt die Sinne im Verkehr.» Die BfU sieht ausreichend Gründe, um den Menschen stärker ins Gewissen zu reden. Alkohol bleibe ein bedeutender Risikofaktor, sagt Lucien Combaz, Mediensprecher der BfU. 2023 seien 12 Prozent der schweren Strassenunfälle auf Alkohol zurückzuführen gewesen.

Schweizer «nicht vorbildlich»

Das Verhalten der Schweizer Verkehrsteilnehmer sei nicht immer vorbildlich, so Combaz. In einer Studie aus dem gleichen Jahr gaben 23 Prozent der Befragten zu, sich in den letzten dreissig Tagen mindestens einmal nach dem Konsum von Alkohol ans Steuer gesetzt zu haben. In der EU lag der Anteil nur bei 15 Prozent. «Zu viele Schweizer fahren, nachdem sie getrunken haben». So titelte die BfU eine Medienmitteilung in der Adventszeit. Und gab Tipps für die Festtage.

Dass immer noch zu viele vor dem Fahren trinken, dürfte auch an den Polizeikontrollen liegen. In einer BfU-Umfrage vom vergangenen Jahr gaben 82 Prozent der Befragten an, eine Alkoholkontrolle auf ihrer Fahrt für «eher oder sehr unwahrscheinlich» zu halten. Es sei wichtig, dass mehr Fahrer mit einer Kontrolle rechneten. So könne ihr Verhalten verbessert werden. Das Unfallrisiko würde sinken, sagt Combaz. Dafür müsse man nicht zwangsläufig die Anzahl der Kontrollen erhöhen. Aus Sicht der BfU könnte auch schon nützlich sein, dass die Polizei vermehrt die Ergebnisse ihrer Kontrollen kommuniziere. Damit würde das Präventionspotenzial besser ausgeschöpft.

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