Dienstag, November 26

Immer mehr Staaten scheren aus dem liberalen westeuropäischen Asylkonsens aus. Die EU-Kommission will deshalb ihren Migrationspakt schneller umsetzen. Es geht um viel.

Die Warnzeichen für die liberale europäische Asylpolitik sind unübersehbar geworden. Ein wachsender Anteil der europäischen Bevölkerung ist nicht mehr bereit, die unkontrollierte Einwanderung und ihre Folgen mitzutragen. Die Niederländer wählten dieses Jahr die Partei des Islam-Hassers Geert Wilders zur stärksten Partei, die Österreicher Herbert Kickls FPÖ, Sachsen und Thüringen die AfD. Immer mehr Regierungen von EU-Mitgliedländern verschärfen ihre Migrationspolitik.

In Brüssel hat zumindest die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Zeichen erkannt. Sie war im letzten Jahr zusammen mit der schwedischen Innenkommissarin Ylva Johansson die treibende Kraft bei der Ausarbeitung des sogenannten Migrationspakts der EU, der mit neuen Ansätzen die Ausschaffung von irregulären Einwanderern ohne Schutzanspruch erleichtern und die Abwicklung von Asylverfahren beschleunigen soll. Zu Wochenbeginn hat von der Leyen nun in einem Schreiben an die Mitgliedländer dazu aufgerufen, rascher und entschlossener als bisher geplant vorzugehen, um diese Pläne umzusetzen.

Von der Leyen erhöht das Tempo

Die Kommissionspräsidentin reagiert damit auf die wachsende Zahl von Mitgliedländern, die aus dem Konsens der europäischen Asylpolitik ausscheren oder dies zumindest ankündigen. Die neue niederländische Regierung plant «die härteste Asylpolitik aller Zeiten». Finnland hat die Grenze zu Russland geschlossen und nimmt dort keine Asylgesuche mehr an. Deutschland hat nach dem Schock des Messerattentats von Solingen Grenzkontrollen gegenüber seinen EU-Nachbarländern eingeführt, um irreguläre Migranten aufgreifen und zurückweisen zu können.

Am Wochenende kündigte der liberale polnische Präsident Tusk die Aussetzung des Asylrechts an. Hauptziel ist der Schutz der Grenze zu Weissrussland, über die von Moskau gesteuert Migranten aus dem Nahen Osten geschleust werden, um westeuropäische Staaten zu destabilisieren. Und in Albanien werden diese Woche die ersten Migranten in neu gebauten Aufnahmezentren ankommen, die Italien auf Grundlage eines bilateralen Abkommens dorthin verlegt. Das soll abschreckend wirken.

Das Ende der Grenzkontrollen durch das Schengen-Abkommen war eine politische und wirtschaftliche Errungenschaft der EU. Deren Wiedereinführung ist lästig und kostspielig, wird nun aber unter der Last der Migrationskrise in Kauf genommen. Pushbacks an der Grenze widersprechen dem Geist und dem Buchstaben des Asylrechts, müssen aber gegen den perfiden Missbrauch Russlands hingenommen werden. Die Verlegung von Migranten zur Abwicklung ihrer Asylanträge in ein Drittland war vor wenigen Jahren noch als Skandal verschrien worden, jetzt ist sie in Italien Realität. Sie wird gar von der Kommissionspräsidentin als Modell gelobt, aus dem die Union Lehren ziehen könne.

Europa hat sich überfordert

So hat sich Europa vor zehn Jahren sein Asylsystem nicht vorgestellt. Es soll den humanitären Grundsätzen des Völkerrechts folgend für alle Ankömmlinge offenstehen, die in Europa einen Asylantrag stellen wollen. In der deutschen «Willkommenskultur» kulminierten 2015 die moralischen Ansprüche Europas an sich selbst. Nun sind sie von der Realität der bald zehn Jahre andauernden unkontrollierten Einwanderung überrollt worden. Deren Folgen und Widersprüche können nicht mehr verdrängt werden.

Selbst die in ihrer moralischen Selbstgewissheit führenden Nationen wie Schweden, die Niederlande oder jetzt allmählich auch Deutschland müssen erkennen, dass sie von den Ansprüchen überfordert werden, welche die Integration Hunderttausender Immigranten aus weit entfernten religiösen, sozialen, kulturellen und bildungsmässigen Kontexten an sie stellt. Zu den Folgen gehört eben nicht nur die erhoffte Bereicherung von Kultur und Gesellschaft oder das Stopfen von Lücken auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch das Entstehen von Ausländer-Ghettos und Bandenkriminalität, die Belästigung und Gewalt gegen Frauen, Terroranschläge und Amokläufe.

Das ganze Asylrecht steht auf dem Spiel

Die EU-Kommissionspräsidentin scheint erkannt zu haben, dass es so nicht weitergeht. Die Bürger brauchen dringend ein Signal aus der Politik, dass sie verstanden hat und gegensteuert. Der beschlossene Migrationspakt, das Albanien-Projekt der Regierung Meloni, die Grenzschliessung gegen Russland und Weissrussland, von der Leyens Sprache der Dringlichkeit sind richtige Vorstösse. Doch sie werden kaum reichen, um das Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen. Es braucht viel mehr Tempo und Entschlossenheit, damit Migranten ohne Asylgrund – die Mehrheit der Ankommenden – wirksam von der Reise abgeschreckt oder in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können. Letzteres geschieht europaweit bloss in 20 Prozent der Fälle.

Es steht viel auf dem Spiel. Geht es so gemächlich und widersprüchlich weiter mit der europäischen Asylpolitik, wird am Ende das ganze Asylrecht zur Disposition stehen. Denn irgendwann wird die Bevölkerung nicht mehr bereit sein, zwischen legitimen Asylbewerbern in Not und irregulären Einwanderern zu unterscheiden, die sich in Europa einfach ein besseres Leben erhoffen. Sie wird sich gegen alle irregulären Immigranten stellen. Wer die humanitäre Tradition des Asylrechts retten will, muss jetzt entschlossen handeln.

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