Sonntag, November 24

Nach dem Scheitern der Regierungskoalition bereiten sich die Sozialdemokraten auf die Neuwahl vor. Der beliebteste Politiker des Landes soll dabei offenbar keine Rolle spielen. Stattdessen fällt die Wahl wohl auf den unwahrscheinlichsten Kandidaten.

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter ist eine Instanz in der Sozialdemokratischen Partei. Er regiert seit mehr als zehn Jahren eine der wohlhabendsten Städte Deutschlands, obwohl seine Partei dort auf verlorenem Posten steht. Wenn sich Reiter als erfolgreicher Lokalpolitiker zu Themen im Land äussert, hört man in der SPD zu.

Im Sommer dieses Jahres sagte er, wenn jemand wie Boris Pistorius ein solches Ansehen habe, müsse die SPD auch darüber nachdenken, ob man mit dem amtierenden Bundeskanzler ins Rennen gehe. Oder ob Pistorius nicht doch die beste Wahl für die Kanzlerkandidatur sei.

Die Frage nach dem «richtigen Kanzlerkandidaten» stellen sich Sozialdemokraten schon länger. Reiter drückte es so aus: Pistorius sei ein Politiker, der entscheide, der erkläre, der klare Botschaften habe. Er sage, was er denke, er kämpfe, er sei authentisch.

Das konnte man auch so verstehen: Pistorius ist das Gegenteil von Scholz und eventuell der bessere Kanzlerkandidat. Das sehen auch andere in der SPD so. Der Chef der SPD in Nordsachsen etwa, Heiko Wittig, sagt: Wenn Pistorius gegen Friedrich Merz, den Kandidaten der Union, anträte, sähe es nicht mehr so klar aus wie derzeit.

Zwei Drittel der Deutschen für Pistorius

Noch eindeutiger sehen es die Bürger. Ende September ergab eine Umfrage von Forsa, dass zwei Drittel der Deutschen für Pistorius anstelle von Scholz als Kanzlerkandidat der SPD sind. Nur 21 Prozent sprachen sich dafür aus, dass Scholz wieder kandidieren sollte. Selbst unter SPD-Anhängern ist das Bild eindeutig. In derselben Befragung befürworteten 58 Prozent eine Kandidatur von Pistorius, die von Scholz hingegen nur 30 Prozent.

Das war allerdings noch weit vor der Nacht von Mittwoch, als die rot-grün-gelbe Regierungskoalition zerbrach. In der Umfrage bestand die Ausgangslage darin, dass Deutschland erst im September 2025 einen neuen Bundestag wählt. Nun aber ist die Ampelkoalition gescheitert und mit ihr der Chef Olaf Scholz. Unter seiner Führung hat die Regierung abgewirtschaftet.

Jetzt stehen vorgezogene Neuwahlen an. Was also tut eine Partei, die einerseits den erfolglosen Kanzler und andererseits den seit mehr als anderthalb Jahren beliebtesten Politiker in ihren Reihen hat? Die Antwort: Sie setzt auf denjenigen, der aus heutiger Sicht am wenigsten Erfolg verspricht. Scholz und nicht Pistorius soll die SPD als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf und wie 2021 zum Sieg führen. Wie kommt sie auf diese Idee?

Beliebtheit ist kein Kriterium

Ralf Stegner gehört nicht zu den Scholz-Fans in der SPD. Noch weniger aber verbindet ihn mit den Positionen von Pistorius. Er ist Vertreter des linken Flügels, der dem Kanzler in den vergangenen drei Jahren das Leben in der Bundestagsfraktion schwer gemacht hat. Stegner kritisiert beispielsweise den Umfang der Waffenlieferungen an die Ukraine, plädiert für «ein Einfrieren des Krieges» über die Köpfe der Ukrainer hinweg und spricht sich gegen die Stationierung konventioneller amerikanischer Lenkflugkörper in Deutschland aus.

Deshalb zieht er Kanzler Scholz dem Verteidigungsminister vor. Dessen Beliebtheit ist für ihn kein Argument. Stegner sagt, die SPD erwäge ja auch nicht, Thomas Gottschalk oder Günther Jauch zum Kandidaten zu machen. Die seien auch sehr beliebt, aber das sei nun einmal kein Kriterium für einen Kanzlerkandidaten. Vielmehr komme es auf die Fähigkeit an, staatspolitische Verantwortung zu übernehmen. Die habe nun mal Olaf Scholz mit seinem beharrlichen Werben für einen Fortbestand der Koalition bewiesen. «Was wäre das für ein Signal an die Bevölkerung, jetzt, wo sich die FDP vom Hof gemacht hat, denjenigen auszutauschen, der versucht hat, die Koalition zusammenzuhalten?»

Pistorius stammt aus dem Landesverband Niedersachsen, aus dem einflussreiche Bundespolitiker kommen, etwa der Co-Parteichef Lars Klingbeil, Arbeitsminister Hubertus Heil oder der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch. Pistorius hat aber nach Ansicht eines altgedienten SPD-Mitglieds weder dort noch in der Bundes-SPD eine Hausmacht.

Die SPD lässt Pistorius auflaufen

Nun müssen sich Umfragewerte nicht immer in politische Macht übersetzen. Früher war es üblich, dass Bundespräsidenten in der Beliebtheitsskala weit oben standen, obwohl sie so gut wie keine politische Gestaltungsmacht haben. Vielleicht waren sie auch gerade so beliebt, weil sie nie in die Niederungen der Politik hinabsteigen mussten. Bei Pistorius aber ist das anders. Er spricht von Streitkräften, die kriegstüchtig sein müssten, von mehr Geld für die Armee und von der Notwendigkeit, viel stärker in die Rüstung zu investieren.

Das alles hätte harte Einschnitte für die Deutschen zur Folge. Vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine wäre ein Politiker wohl für solche Äusserungen abgestraft worden. Nun aber wird Pistorius dafür von den Bürgern geschätzt. Umfragen zeigten wiederholt, dass es in Deutschland eine Mehrheit für höhere Verteidigungsausgaben und die Einführung einer Dienstpflicht gibt. Die SPD aber lässt Pistorius auflaufen. Mehr Geld für die Bundeswehr? Abgelehnt. Wehrpflicht? Unnötig.

Ganz anders ist der Umgang mit Scholz. Als er sich am Mittwochabend an die Deutschen wandte, um die Entlassung Lindners zu verkünden, sprach er von fehlender Vertrauensbasis für eine weitere Zusammenarbeit. Wer in eine Regierung eintrete, sagte er, der müsse seriös und verantwortungsvoll handeln. Der dürfe sich nicht in die Büsche schlagen, wenn es schwierig werde.

Viel Zuspruch in der Fraktion für Scholz

Etwa 14 Minuten hat Scholz für sein Statement gebraucht. Ob seine Worte bei den Bürgern verfingen, bleibt abzuwarten. In der SPD jedenfalls bekam er dafür viel Zuspruch.

Als er gegen 22 Uhr 30 in die Fraktion kam, sei er mit «freundlichem Begrüssungsapplaus» empfangen worden, berichtet Nils Schmid von den Netzwerkern in der SPD, einer Strömung, zu der auch Heil und der frühere Parteivorsitzende Sigmar Gabriel gehören. Scholz habe das aber schnell abgewürgt, da es für ihn an diesem Punkt nichts zu feiern gebe.

Schliesslich sei die Koalition gescheitert, das habe er bis zuletzt verhindern wollen. «Er hat Führungsstärke gezeigt», sagt Schmid. Wie er das mit der FDP jetzt gelöst habe, sei gut gewesen. Er habe die Partei hinter sich. «Die SPD ist ganz bei sich, was die Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz betrifft.»

Scholz hat mit seiner Entscheidung, Lindner zu entlassen, und mit seiner anschliessenden Erklärung vorerst die Reihen in der SPD geschlossen und Partei und Fraktion hinter sich geschart. Andreas Schwarz, Haushaltsexperte und Abgeordneter aus Bayern, der dem gemässigten Flügel der SPD angehört, sagt, die Handlung sei notwendig gewesen, «weil wir keinen Finanzminister mehr für das Land, sondern einen Lobbyisten für die Reichen im Land hatten». Scholz habe mit seiner Ansprache der Seele der Partei und der Fraktion gutgetan und staatspolitisch richtig für das Land entschieden.

Kein Widerstand gegen Scholz

Man hört aus der SPD-Bundestagsfraktion eine grosse Erleichterung über das Ende der Koalition. In der Partei gibt es aber auch Stimmen, die sich wundern, wieso es keinen Widerstand gegen Scholz und seine abermalige Kandidatur gibt. Die sich fragen, ob der Fraktion die Gefahr nicht bewusst sei, nach der Neuwahl möglicherweise mit deutlich weniger Abgeordneten im nächsten Parlament zu sitzen.

Einige in der SPD scheinen sich so sicher zu sein, dass sie mit Scholz in den Wahlkampf ziehen, dass sie sich schon Gedanken darüber machen, wie sein Wahlkampf aussehen soll. Klar ist seit Wochen, dass es gegen den CDU-Chef und Kanzlerkandidaten Friedrich Merz gehen soll. Er habe, so sagt Ralf Stegner, in seinem Leben noch nicht einmal eine Kreisverwaltung geleitet. Jemandem wie Merz könnten die Deutschen das Land nicht anvertrauen. Scholz indes habe bewiesen, dass er Verantwortung übernehmen könne.

Boris Pistorius spielt in dieser Rechnung keine Rolle. Seine Kanzlerkandidatur sei lediglich «eine von aussen herangetragene Phantasie», sagt Nils Schmid. Anders gesagt: Für die Öffentlichkeit ist Pistorius ein Thema, für die SPD aber offenbar nicht. Wehrhaftigkeit, Wehrpflicht, mehr Geld für die Bundeswehr – dafür gibt es Mehrheiten in Deutschland. In der SPD-Fraktion sind diese Themen eher unbeliebt. Saskia Esken, die Co-Parteivorsitzende, sagte am Donnerstag: «Wir sind überzeugt, dass wir mit ihm gemeinsam auch diese Bundestagswahl gewinnen können.» Mit «ihm» meinte sie Olaf Scholz.

Exit mobile version